Sarina Karimpur
Ehe und Eherecht in Saudi-Arabien
- Einleitung
- Das Königreich Saudi-Arabien
- Staatsgründung und der Wahhabismus
- Werte- und Gesellschaftsordnung
- Rechtsordnung
- Das Eherecht Saudi- Arabiens
- Das Verlöbnis
- Die Ehe
- Scheidungen und Scheidungsrecht
- Die Misyār-Ehe (zawāj al-misyār)
- Fazit
I. Einleitung
„Die Familie ist der Kern der saudischen Gesellschaft und seine Mitglieder sollen auf dem Boden des Islamischen Glaubens aufwachsen und dabei die Anforderung befolgen, Loyalität und Gehorsam gegenüber Gott aufzubringen. […].“ Art.9 der Grundordnung Saudi-Arabiens verdeutlicht die starke Interpendenz zwischen Religion, Staat und dem einzelnen Bürger, in dem, selbst die kleinste soziale Einheit, die Familie, dazu aufgerufen wird nach dem islamischen Glauben zu leben. Das ehemalige nomadische Wüstenreich stellt mittlerweile die stärkste wirtschaftliche Kraft im arabischen Raum dar277 und hat einen enormen Wandel in Richtung Moderne durchgemacht. Dennoch hat sie die Sharia zur Verfassung erhoben und ist das zugleich konservativste islamische Rechtssystem der Welt, ohne dabei dem Anspruch auf Vollkommenheit gerecht werden zu können278. Damit wendet der monarchische Staat Normen an, die auf das 10.Jahrhundert n. Chr. zurückgehen.
Die puritanisch-wahhabitische Auslegung des Islam stellt die Besonderheit des saudischen Rechts dar, welches durch traditionelle und kulturelle Eigenheiten stark mitgeprägt ist. Auch die saudische Gesellschaft ist dadurch maßgeblich beeinflusst. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist das absolute Fahrverbot für Frauen, die strenge Segregation der Geschlechter in so gut wie in allen öffentlichen Bereichen des Lebens und die rechtliche Abhängigkeit der Frau von ihrem männlichen Vormund. Reformistische Ansätze sind erkennbar, beispielsweise wurde Frauen für die Kommunalwahlen 2015 das Wahlrecht gewährt. Weiterhin sind Frauen in die Beratende Versammlung (majlis al-shura) einberufen worden. Doch wie sehr sind diese Ansätze im Bereich des saudischen Eherechts erkennbar?
Saudisches Recht und insbesondere das Familien-und Eherecht ist zum größten Teil nicht kodifiziert und liegt damit dem Ermessen der Gerichte und Gelehrten zugrunde. Bis heute existieren keine modernen Kommentare oder Lehrbücher über das Familienrecht. Urteile werden nicht veröffentlicht279. Dennoch kann durch Medien und Zeitungen Kenntnis über Entscheidungen und rechtliche Angelegenheiten, die den ehelichen und familiären Bereich betreffen, erlangt werden.
Doch wie beeinflusst die Rechtsordnung das eheliche Zusammenleben und die Partnerwahl? Und welche Konsequenzen resultieren aus dem dogmatischen Puritanismus?
Die vorliegende Untersuchung soll auf das Eherecht Saudi-Arabiens eingehen und dabei zugleich soziale Aspekte beleuchten.
Im ersten Schritt wird auf die Entstehung des Staates und die herrschende Gesellschafts- und Werteordnung eingegangen. Dabei soll der Einfluss dessen auf die Auswahl des potentiellen Ehepartners hervorgehoben werden. Daraufhin folgt die Darstellung der saudischen Rechtsordnung.
Im Hauptteil wird das Eherecht in seinen einzelnen Stufen behandelt. Die Thematik der Eheschließung beinhaltet auch einzeln hervorgehobene Problemkreise, wie das Phänomen der „adhl“-Klagen, in der die Frau auf Zustimmung zur Heirat klagt, so wie die Praxis der Kinderehen.
Nach der Darstellung der ehelichen Rechte und Pflichten werden das Scheidungsrecht und der Aspekt der ansteigenden Scheidungsrate erörtert.
Als letzter Teil der Untersuchung erfolgt die Darstellung der „Misyār-Ehe“, einer, der mit dem im Shiitentum vergleichbaren Form der Zeitehe, die insbesondere in Saudi-Arabien in den letzten Jahren eingeführt und stark verbreitet wurde.
Insgesamt soll neben den rechtlichen Bestimmungen, die das Eherecht in Saudi-Arabien so komplex gestalten, die Realität und die Durchsetzungsmöglichkeiten dessen aufgegriffen werden.
II. Das Königreich Saudi-Arabien
1. Die Entstehung des Staates und der Wahhabismus
Das Königreich Saudi-Arabien (Al-Mamlaka al-'Arabia as-Saūdia) ist eines der letzten absoluten Monarchien der Welt und wurde am 23.9.1932 von Abd al-Aziz Ibn Saud proklamiert280. Das Land liegt auf der Arabischen Halbinsel und grenzt an das Rote Meer, den Persischen Golf und an seine Anrainerstaaten. Durch eine Allianz der Familie Saud mit dem konservativ-sunnitischen Religionsgelehrten Mohammad bin Abd al-Wahhab (ca. 1704-1792) gelang es die Partikularitäten der diversen Beduinenstämme auf der arabischen Halbinsel zu überwinden und zu einem Staat zusammenzuschweißen281. Dabei diente die von Scheich Muhammad Ibn Abd al-Wahhab begründete Lehre des Wahhabismus, einer puritanisch-traditionalistischen Interpretation des hanbalitischen282 Islam, als Integrationsideologie,- seine Lehre sollte im Herrschaftsgebiet der Sauds verbreitet und durchgesetzt werden, während der Gelehrte dem Herrscher und den jahrelangen Eroberungen religiöse Legitimität verleihen konnte283. Die wahhabitische Lehre verdrängte zunehmend andere religiöse bzw. rechtliche Bestimmungen, sowie das Gewohnheitsrecht der Beduinen284.
Das vor über 250 Jahren gegründete Bündnis spielt bis in die Gegenwart eine maßgebliche Rolle im Königreich und bestimmt sowohl die politische und gesellschaftliche Struktur als auch das soziale Leben des Einzelnen. Der Wahhabismus ist Staatsreligion und der Klerus ist im obersten religiösen Gremium des Landes, im Ältestenrat der islamischen Gelehrten (hai'at kibar al-ulamâ)285 organisiert. In prekären Situationen kann er Gutachten veröffentlichen, die wichtige Entscheidungen der Regierung legitimieren286. Wie verstrickt Religion und Staat ineinander sind, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass der König sich als Hüter der heiligen Stätten von Medina und Mekka versteht, welche die heiligsten Stätten im Islam darstellen. Die Nachkommen des Gelehrten Wahhab (Al-Sheikh) sind bis heute eine der einflussreichsten Familien Saudi-Arabiens287.
Nach dem Verständnis der wahhabitischen Ideologie, die das Konzept der absoluten Einheit Gottes in den Vordergrund stellt, soll dem Musterbild einer muslimischen Ur- und Idealgesellschaft, wie sie im 7. und 8.Jahrhundert in Mekka und Medina bestand, nachgeeifert werden288. Der Koran oder gar die Offenbarungen ließen keine Interpretation zu und seien wörtlich auszulegen. Beispielsweise wurde Gewohnheitsrecht, das sich in der islamischen Welt oftmals etablierte und islamisches Recht außer Kraft setzte, von den wahhabitischen Gelehrten unterdrückt289. Besonders im Vergleich zu anderen Schulen oder Strömungen des Islams ist die Ablehnung aller nicht wahhabitischen Muslime als Ungläubige.
Im Zentrum dieser Lehre liegt nicht nur die Theologie, vielmehr sind sozialmoralische Fragen, die das tägliche Leben des Gläubigen betreffen von besonderer Bedeutung. Nach Ibn Abd al-Wahhabs Auffassung sei der Muslim nämlich nicht nur für seinen eigenen Glauben und seine Absicht verantwortlich, sondern auch für die Interpretation seiner Handlungen durch Dritte, um diese nicht zu Sünden zu verleiten290. Dies führte dazu, dass viele alltägliche Tätigkeiten durch Vorschriften geregelt wurden, die außenstehende Beobachter für nebensächlich hielten291.
2. Werte- und Gesellschaftsordnung
In der Monarchie sind typische Freizeitaktivitäten, wie Kino- und Theaterbesuche oder gar Musik hören, verboten. Viermal am Tag wird zum Gebet aufgerufen, sodass Geschäfte und viele öffentliche Einrichtungen für die Zeit geschlossen werden.
Des Weiteren herrscht eine strikte Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit, welche geradezu als „Gender-Apartheid“ definiert werden kann. Frauen dürfen nicht alleine reisen, das Haus verlassen oder gar heiraten ohne die Einwilligung ihres Vormunds292, des sog. „walī“, dessen Funktion bis zur Heirat zumeist vom Vater der Frau übernommen wird. In allen öffentlichen Bereichen herrscht eine duale Struktur, um die Segregation der Geschlechter zu ermöglichen, d.h. Banken, Bibliotheken oder Krankenhäuser sind zumeist geschlechtsspezifisch oder in Familienbereiche unterteilt293. Diese strikte Segregation soll gewährleisten, dass das Verbot jeglichen Kontakts zwischen zwei nicht verwandten Personen unterschiedlichen Geschlechts aufrechterhalten werden kann. Dementsprechend stellt ein Widersetzen gegen diese Untersagung, eine Straftat dar, die als „khulwa“ bezeichnet wird294. Sanktioniert wird auch jegliche sexuelle Aktivität zwischen Personen desselben Geschlechts295.
Ob die Gesellschaftsordnung durch religiös-wahhabitische Normen oder traditionelle...