Wie alles begann
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Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein, als sich Mama und Papa eines Abends gemeinsam an mein Bett setzten. Mir hatten schon wieder schreckliche Bauchschmerzen den ganzen Tag vermiest, und nun beugte sich Mama ganz nah zu mir herunter und legte mir eine Herzwärmflasche auf den Bauch.
»Franny, du hast uns immer wieder gefragt, warum es dir oft so schlecht geht und warum wir so viele Ärzte besuchen müssen. Also, das …« Mama verstummte, Papa übernahm. »Also, mein Liebling, wir sind dir immer wieder ausgewichen, weil wir anfangs nicht viel wussten über deine Krankheit, doch … also, das kommt daher …«
Ich wusste, wenn Mama und Papa sich gegenseitig beim Finden der Worte halfen, würde etwas Wichtiges kommen. Papa musste sich so oft räuspern, das tat er immer nur, wenn ihm die Worte nicht so leicht über die Lippen gingen, was in der Regel ziemlich selten vorkam.
»Weißt du, jeder Mensch hat einen Stoffwechsel, der für die Aufnahme, den Transport und die Umwandlung von Stoffen im Körper verantwortlich ist. Und er sorgt für die Abgabe von Stoffwechsel-Endprodukten. Das ist natürlich wichtig, für den Aufbau und die Erhaltung der Körpersubstanz und …« Papa warf Mama einen ernsten Blick zu. »Und … und der richtigen Körperfunktionen!« Ich weiß noch, wie Mama sich über die Stirn wischte und ihre Augen feucht wurden, bis sie ihren Kopf auf meine Schulter legte. Ich starrte Papa an und hakte nach: »Und bei mir hat dieser Stoffwechsel ’ne große Macke?«
An jenem Abend durfte ich bei Mama und Papa schlafen. Papa hatte die Besucherritze zugestopft und mir ein kleines Nest gebaut. Teddy Bruno lag auf meinem Bauch und ich war alles auf einmal. Irritiert, besorgt, doch auch erleichtert. Komisch eigentlich, nach so einer Schreckensnachricht. Aber ich wusste, dass ich sicher und geborgen war, so zwischen Mama und Papa. Und dass sie mich beschützen würden. Und außerdem wusste ich, dass man nicht krank bleiben muss. Ich hatte immerhin schon Masern überlebt und schlimmen Husten.
Das schöne große Bett. Eigentlich durften meine Schwester Jessi und ich hier immer nur liegen, wenn es uns nicht gut ging. Oder wir krank waren oder einen schlimmen Traum hatten. Doch Krankheiten waren bisher immer nur Fieber, Erkältung oder »Kotzeritis«. Dürfte ich jetzt jeden Tag hier schlafen?
Auch Jessi hatte es immer ein bisschen genossen, krank zu sein. Durch meinen komischen Stoffwechsel hatte das Kranksein allerdings eine ganz neue und irgendwie auch langfristige Bedeutung bekommen, was ich an jenem Abend aber noch nicht wusste.
Mama und Papa mussten mir im Laufe der Zeit das mit dem Stoffwechsel noch ein paar Mal erklären, es mir vorzustellen, fiel mir ziemlich schwer. Wollte ich es überhaupt verstehen? Wie könnte es mir besser gehen, wenn mein Körper etwas hatte, das vielleicht niemand heil machen konnte? Es geht einem doch nicht wirklich besser, wenn man nie mehr vergessen kann, dass in dem Körper etwas komisch ist. Und wenn dein Körper einfach Sachen macht, die du nicht willst, besonders Schmerzen. Ich wusste jetzt zwar, wer der Übeltäter war und warum mir das Atmen manchmal schwerfiel, doch jetzt war etwas Angst dazugekommen. Da hatte jemand anderes einfach die Kontrolle über meinen Körper an sich gerissen und mich als Chefin verdrängt. Erst als ich ihren Namen kannte, wusste ich, ich bin tatsächlich nicht allein mit so etwas: Mukoviszidose. Ich stellte mir meinen Körper von innen vor und musste plötzlich weinen. Wie es den anderen Kindern wohl ging, die das Gleiche hatten wie ich?
Tausend Dinge waren mir durch den Kopf geschossen. Ob ich an »Mukki« auch sterben konnte? Was konnte ich tun, um weniger Angst zu haben und nicht mehr so traurig zu sein? Würde Mukki dann auch etwas kleiner werden? War ich böse und hatte deshalb eine solche Krankheit bekommen? Wen suchten Krankheiten sich eigentlich aus, wonach gingen sie vor? War das ein Zufall, dass ich mich nicht ganz gesund entwickeln konnte?
»Mama, kann ich daran sterben?« Gleich am nächsten Morgen weckte ich Mama mit dieser Frage.
»Liebling!« Mama war sofort hellwach und guckte mich entsetzt an. Vielleicht war es auch eher Verzweiflung, ich kann das nicht mehr sagen.
»Man stirbt doch nicht an jeder Krankheit!« Erleichtert kuschelte ich mich ganz dicht an sie ran, bevor ich wieder einschlief.
Ich dachte, wenn ich auf die Krankheit schimpfe, würde sie mich ärgern und noch schlimmer werden. Also stellte ich mir vor, sie sei nur zu Besuch und würde sich eines Tages einfach wieder verkrümeln, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie das gehen sollte. Und vor allem nicht, wohin sie dann verschwinden würde. Vielleicht würde sich die Krankheit auch einfach wieder auflösen? Aber was, wenn Mama unrecht hatte und es schlimmer werden würde, so schlimm, dass ich plötzlich an ihr sterben könnte?
Immer weitere Fragen kamen in mir auf, auf die selbst Papa keine Antwort hatte, obwohl er immer alles wusste und der Schlaueste von allen war. Er konnte nicht einmal in Büchern über diese Krankheit lesen, weil einfach noch zu wenig bekannt war über Mukoviszidose. Vielleicht war ich was ganz Besonderes, weil ich so etwas Seltenes bekommen hatte?
»Liebling, wir werden schon noch herausfinden, wie wir die Macke deines Stoffwechsels wegmachen können.«
Nur mein Kinderarzt, Dr. Brenz, konnte mir das mit dem Stoffwechsel etwas genauer erklären. Ein kleines bisschen war ich doch erleichtert, dass ich nicht die Einzige auf der Welt mit so einer Krankheit war, ich fühlte mich nicht mehr so einsam. Ich dachte an die anderen, die das Gleiche hatten. Dr. Brenz meinte, dass allein in Deutschland etwa fünftausend Menschen auch so eine Mukoviszidose hätten! Ist das viel? Ja! Es sind fünftausend zu viel!
Ich nannte die Chefin in mir »die kleine Attentäterin Mukki«. Man wird mit Mukki schon geboren. Ob Mukki sich in mir bereits eingenistet hatte, als ich noch in Mamas Fruchtblase schwamm? Hätte ich schon dort etwas von dieser Krankheit mitbekommen, wäre ich dann trotzdem gern auf diese Welt gekommen? Mit Sicherheit! Jedes Leben ist wertvoll, wenn es sich entwickelt und das Licht der Welt erblickt. Und bis dahin hat man ohnehin schon viel geschafft, neun Monate in einem Bauch heranzuwachsen, welch ein schönes Wunder! Das hatte ich doch ganz gut hinbekommen, oder nicht?
Wollt ihr meine Meinung wissen? Nichts kann vergeblich sein. Gegen Schmerzen gibt es Medizin, ich hoffte, dass die Medizin auch meine Krankheit etwas vertreiben würde, oder wenigstens so viel, dass ich sie nicht immer wieder merkte.
Auf alle Fälle hatte Mukki nicht verhindern können, dass ich viel sehen und machen konnte, auch wenn ich unbedingt noch viel mehr erleben wollte auf dieser Welt. Mit oder ohne Mukki. Vielleicht war sie auch gar nicht ständig böse, vielleicht brauchte sie auch mal eine Pause. Vielleicht gefiel es ihr in mir und wollte deshalb nicht mehr gehen?
Auch wenn ich kleiner war als viele andere, so wusste ich trotzdem, was große Gefühle sind. Ich brauchte mir nur immer wieder Mama und Papa anzuschauen.
Dr. Brenz hatte mich jedenfalls mit meiner Krankheit bekannt gemacht – und es war leider zu spät, um die Bekanntschaft abzulehnen. Ganz schön aufdringlich, so wie manche Menschen. Zum Beispiel ein Kollege von Papa, der immer unangemeldet bei uns klingelte. Nie konnten wir ihn einladen, er war einfach immer schneller. Ich weiß, dass Mama und Papa oft genervt waren, weil sie gar nicht vorbereitet waren und ohnehin genug zu tun hatten. Aber unfreundlich und abweisend wollten sie auch nicht sein, so ließen sie ihn immer rein. Ein paar Mal musste ich sogar das Spielen mit Mama unterbrechen. Aber sie hatte mir auch erklärt, dass der Kollege wohl sehr einsam war, und als Lieblingskollege von Papa hätte sie ihn niemals abweisen können. Mama sagte mir, dass Einsamkeit die Menschen manchmal kopflos macht.
Wie können Menschen einsam sein? Es gibt doch so viele Menschen auf der Welt.
»Franny, einsam sein und allein sein sind nicht dasselbe!«, sagte Mama. Es muss wohl so sein, dass allein sein nach außen geht und einsam sein nach innen. Das erste ist ein Zustand, das zweite ein Gefühl. Manche Menschen reichen sich aus und sind zufrieden nur mit sich. Und andere können wählen, ob sie allein sein oder ihre Freunde treffen wollen. Doch keine Wahl zu haben, das muss tatsächlich ganz schön traurig sein.
»Hör mal, Franny, krank im Kopf zu sein ist doch noch viel schlimmer! Eine Krankheit im Körper muss nicht bleiben, doch wenn jemand krank im Kopf ist, also auch komisch in seinen Gedanken und in seiner Art, dann ist das in meinen Augen viel, viel schlimmer. Du merkst deine Krankheit manchmal nicht, oder? Und was deinen Kopf angeht, so ist der ganz schön helle. Und du hast so liebe Gedanken. Na ja, auf jeden Fall schleppt nicht jeder so etwas Seltenes wie Mukki mit sich herum!«, sagte meine beste Freundin Klara.
Ich spürte genau, wie schwer es ihr oft fiel, mich zu trösten. Ich wollte sie so gerne lachen sehen, wie damals, als es mir noch so gut ging wie ihr. Doch beste Freundinnen machen sich nichts vor, die lassen sich nichts vormachen. Man kann sogar die Tränen hinter einem Lächeln der besten Freundin sehen. Ich hatte über Klaras Worte nachgedacht und kann mich noch sehr gut an meine Antwort erinnern: »Ich schleppe tatsächlich etwas Seltenes mit mir herum, nämlich dich, Klara!« Nach diesem Satz lagen wir uns lachend in den Armen. »Und weißt du was, Franny? Ich bleibe an dir kleben!«, sagte Klara daraufhin und hielt sich vor Lachen den...