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E-Book

Franz Grillparzer

AutorGerhard Scheit
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644575622
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Franz Grillparzer (1791-1872) war der bedeutendste österreichische Dramatiker des 19. Jahrhunderts. Beeinflusst vom Wiener Volksstück, aber auch von der Weimarer Klassik und der Romantik, schuf er ein umfangreiches Werk, das um die großen menschlichen Fragen von Schicksal und individueller Verantwortung, Schuld und Sühne, Tat und Verharren kreist. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Gerhard Scheit, Dr. phil., lebt als freier Autor und Essayist in Wien. Arbeiten zur Kritischen Theorie, über Antisemitismus und Staatstheorie sowie zur modernen Literatur und Musik; Mitherausgeber der Jean Améry Werkausgabe (2002-2008) und der Zeitschrift «sans phrase» (ab 2012). Bücher: «Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus» (1999, 2003); «Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt» (2004); «Jargon der Demokratie. Über den neuen Behemoth» (2006); «Der Wahn vom Weltsouverän» (2009); «Treffpunkt der Moderne. Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen» (2010) (Koautor: W. Svoboda); «Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno» (2011); «Kritik des politischen Engagements» (2016).

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Leseprobe

Am Ende der Kunstperiode


Ich bin wie der ewige Jude. Hier bleiben möchte ich kaum, und doch kann ich nicht sagen, daß ich gerne zurückkehrte.

Grillparzer aus Paris (1836)[48]

Mit der Ahnfrau wurde Grillparzer schlagartig berühmt. Nach der Uraufführung am 31. Januar 1817 im Theater an der Wien erlebte das Stück in kürzester Zeit sensationelle Erfolge auf allen großen deutschen Bühnen – als Erfolge eines dramatischen Erstlings nur vergleichbar den dreieinhalb Jahrzehnte zuvor uraufgeführten «Räubern». Auch diesmal schien das Lebensgefühl einer ganzen Generation berührt worden zu sein. Die Generationen freilich unterschieden sich weit mehr schon durch ihr Lebensgefühl als durch die wenigen Jahre, die sie voneinander trennten. Deutlicher als bei Grillparzers erstem dramatischen Versuch Blanka von Kastilien lässt hier die Gemeinsamkeit von Atmosphäre und Milieu der Handlung die Unterschiede zu Schillers Konzeption hervortreten. Karl Moor entscheidet sich bewusst für die Räuberexistenz, um sich gegen die an ihm verübte Ungerechtigkeit zur Wehr setzen zu können. Grillparzers Jaromir hingegen ist Räuber von Geburt: Er geriet als Kind in die Hände einer Räuberbande, in der er aufwuchs, und weiß nichts von seiner adeligen Herkunft. Der Zufall der Verschleppung aber erweist sich schließlich als das Walten eines Fluchs. Denn Jaromir ist dazu verdammt, sein eigenes Adelsgeschlecht zu vernichten. Er ermordet – ohne es zu wissen – den eigenen Vater und treibt die Schwester damit in den Selbstmord.

Ja ich tat’s, fürwahr ich tat’s!

Aber zwischen Stoß und Wunde,

Zwischen Mord und seinem Dolch,

Zwischen Handlung und Erfolg

Dehnt sich eine weite Kluft,

Die des Menschen grübelnd Sinnen,

Seiner Willensmacht Beginnen,

Alle seine Wissenschaft,

Seines Geistes ganze Kraft,

Seine brüstende Erfahrung,

Die nicht älter als ein Tag,

Auszufüllen nicht vermag.

Eine Kluft, in deren Schoß,

Tiefverhüllte, finstre Mächte

Würfeln mit dem schwarzen Los

Über kommende Geschlechte.

Ja, der Wille ist der meine,

Doch die Tat ist dem Geschick …[49]

Die tiefverhüllte, finstere Macht enthüllt sich als Fluch der Ahnfrau. Er lastet auf der Familie, seit diese ihren Ehemann betrog und dafür erstochen ward. Die individuelle Liebe, die in Blanka von Kastilien und im Spartakus-Fragment schon politisches Handeln gefährdete, verdichtet sich in der Schicksalstragödie zum Fluch, der jede freie Entscheidung unmöglich macht.

Von der Eltern Hand gezwungen,

Zu verhaßter Ehe Bund,

Sie vergaß ob neuen Pflichten

Langgehegter Liebe nicht;

In den Armen ihres Buhlen

Überfiel sie der Gemahl.

Durstend seine Schmach zu rächen,

Straft’ er selber das Verbrechen

Stieß ins Herz ihr seinen Stahl

Ruhe ward ihr nicht vergönnet,

Wandeln muß sie ohne Rast,

Bis das Haus ist ausgestorben,

Dessen Mutter sie gewesen …[50]

Bemerkenswert ist, dass am Anfang des Verhängnisses doch eine freie Tat stand – eine Tat also, die nicht von einem Fluch determiniert war und die darum ein tragisches Moment noch enthielt. Ist sie vielleicht die letzte Ahnung der «Schicksalsdramatiker» von jenen Idealen der bürgerlichen Emanzipation, für die einst Schiller seine «Räuber» schrieb?

Schon Ludwig Börne hat die Ahnfrau auf der Folie der «Räuber» kritisiert. Er spürte sehr deutlich die poetische Kraft Grillparzers, eines «herrlichen und geistreichen Dichters», und erkannte die epochale Bedeutung der Ahnfrau. «Gäbe es nur eine größere Zahl solcher dramatischen Dichtungen, daß wir endlich der jämmerlichen Familiengeschichten ledig würden, die wie Wanzen sich in alle Ritzen der Bühnenbretter eingenistet haben.» Die Ahnfrau wurde ihm darum zum Exempel, um die «Verwirrung in der Ansicht der dramatischen Kunst der Neueren»[51] – im Geiste Lessings und der deutschen Aufklärung – einer Kritik zu unterziehen. Dabei gesteht er dem Dramatiker durchaus zu, «den Menschen der Macht des Schicksals» zu unterwerfen; doch darf dies «nur in einem Kampf der sittlichen Freiheit gegen die sittliche Notwendigkeit, nicht in einem Widerstreite jener gegen die Notwendigkeit der Naturgesetze dargestellt werden … Wo aber der Enkel die Schulden seiner Voreltern bezahlen und für ihre Sünden büßen soll, wo die Nachkommen als leibeigene Glieder des Familienhauptes, dessen Bewegung sie folgen, angesehen werden; wo das verbrecherische Blut der Ahnen durch die ganze Reihe der Geschlechter fließt und sie versauert, bis endlich die Ader durchgefressen ist und die Schuld, die Buße und das Leben in einem großen Morde ausströmen; wenn dem Schicksalskampfe ein solcher Ausgang gegeben wird, wie in der Ahnfrau es geschehen, da hat der Dichter nicht die gerechte Vorsehung, sondern die blinde Naturkraft siegen lassen, und dieser Streit zwischen sittlicher Freiheit und massiver Notwendigkeit, als zwischen ungleichen Waffen, ist gemein und unkünstlerischen Stoffes.»[52]

«Was … will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal», äußerte Napoleon 1808 zu Goethe über die «Schicksalsstücke» der tragédie classique, die «einer dunkleren Zeit angehört» hätten.[53] Ein Jahrzehnt später schon schien die Politik vollständig in das blinde naturgesetzliche Schicksal zurückverwandelt. Es blieb die Erinnerung, dass da einmal Aufklärung und Politik waren. Der Versuch der Befreiung und der Emanzipation aber wird im Schicksalsdrama geradezu der Ursprung des Fluchs selbst.

Unter diesem Aspekt muss man auch den Einfluss der Calderón’schen Dramatik, die damals eine Renaissance erlebte, und der Gespenster-, Ritter- und Zauberstücke des Alt-Wiener Volkstheaters auf Grillparzers Ahnfrau betrachten – und vielleicht relativieren, was Walter Benjamin als barocke Kontinuität begriffen hat: «Das Biedermeier sah die Auferstehung der barocken Bühne im Schicksalsdrama. Es sah die Nachblüte der die Dinge verwandelnden, dem eigenen Wesen zu sinnbildlichen Gebrauch sie entfremdenden Allegorie im Zauber- und Feenmärchen. Es hörte die opernhafte Sprache der Barockpoeten in einer Art Spieldosen-Lyrik nachklingen.»[54]

Die Auferstehung des barocken Trauerspiels im Schicksalsdrama erweist sich eher als Seelenwanderung eines Motivs zwischen sehr unterschiedlichen ideologischen Gestalten. Zum einen gab es im Calderón’schen Trauerspiel keinerlei freie, im strengen Sinn tragische Tat, die den Mechanismus des Fluchs in Gang gesetzt hätte. Alles Handeln – auch schon das vergangene – war hingegen astrologisch oder heilsgeschichtlich vorherbestimmt. Zum andern fehlt dem modernen Schicksalsdrama jene göttliche oder christlich-herrscherliche Gnade, die das Verhängnis letztlich wieder aufzuheben vermochte. Die herrschenden Mächte der Ahnfrau bleiben für immer finstre, tiefverhüllte – unerkennbar und irrational. Der Tod allein, auf den das blinde Schicksal zusteuert, ist letzte Instanz; er allein und keine Gnade, keine religiöse Transzendenz, tilgt die Schuld durch die Vertilgung des Schuldigen.

In den Kostümen, Kulissen und holpernden Trochäen eines Gespenster- und Ritterstücks entdeckt man mit einem Mal den modernsten Gehalt. Bis hin zum existentialistischen Drama scheint bloß das altmodische Gewand gegen ein neues getauscht. Unverändert aber blieb, dass die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander als verselbständigte Macht über den Individuen erscheinen. Nur wenigen Dramatikern – wie etwa Büchner oder Brecht – gelang es seit dem Ende der Weimarer Kunstperiode, diese Macht wieder als gesellschaftliche Beziehung der Individuen zu dechiffrieren und den Fetisch der tiefverhüllten finstren Mächte aufzulösen.

Interessant und für die weitere Entwicklung Grillparzers kennzeichnend ist allerdings, dass er selbst sich immer von der Schicksalsidee distanzieren wollte, diese entweder für die Ahnfrau abgestritten, umgedeutet hat oder seinem damaligen Förderer und Dramaturgen Joseph Schreyvogel in die Schuhe schieben wollte. Denn zur Zeit der Ahnfrau stand Grillparzer entschieden auf dem Standpunkt der Ästhetik der Weimarer Klassik, die ihren vielleicht klarsten Ausdruck im Briefwechsel von Goethe und Schiller gefunden hatte. Das Schicksalsdrama der Ahnfrau war Grillparzer gewissermaßen passiert. Gedrängt von Schreyvogel, der als Theatermann mit dem Zeitgeist sehr vertraut war und den Erfolg sicherlich schon witterte, aber gegen seinen eigenen ästhetischen Verstand schrieb der unbarmherzige Kritiker der Romantik, der Ästhetiker aus der Schule Goethes und der Verehrer Lessings und Mozarts das nach Müllners «Schuld» wohl berühmteste Schicksalsdrama. Mit der Ahnfrau beginnt in Grillparzers geistigem Haushalt die Diskrepanz zwischen der eigenen, von subjektiven Gefühlen geleiteten literarischen Produktion und dem an der Weimarer Klassik und der Aufklärung geschulten kritischen Kunstverstand, die als unerschöpfliche Quelle seiner selbstquälerischen Reflexionen sich erweisen sollte.

Über sie musste Grillparzer wohl so tief erschrocken sein, als er im Theater an der Wien die Uraufführung seines Stücks miterlebte. Sein verheimlichtes Inneres, sein unbewusstes Lebensgefühl fand er plötzlich szenisch vor sich ausgebreitet und versinnlicht. Woher kommt wohl die unbeschreiblich...

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