Douze Études (biographiques)
d’exécution transcendante
Vorwort
1885, irgendwo zwischen Rom, Weimar und Budapest. Irgendwo in Europa. Ein alter, vom grauen Star fast erblindeter, von Krankheit und Alkohol gezeichneter Mann schlurft in zerschlissenen Pantoffeln durch eine Wohnung, in der es nach kaltem Zigarrenrauch und schalem Cognac riecht. Immer wieder lässt ihn ein quälender Hustenanfall innehalten; leise stöhnend stützt er sich an einem Sessel ab. Seit einem Treppensturz vor ein paar Jahren bereitet jeder Schritt seinen von der Wassersucht aufgedunsenen Beinen Mühe und Schmerzen, und die Erkältung will und will nicht besser werden. Das immer noch dichte, schlohweiße, schulterlange Haar fällt auf den Kragen einer nachlässig zugeknöpften Soutane. Um die Schultern hat er ein Tuch gelegt: Er friert. Auf dem Tisch im Salon liegen einige Zeitungen und Journale: Berlin, Leipzig, Paris, die Neue Freie Presse aus Wien, der Pester Lloyd. Das Übliche: feindselige Verrisse und gehässiger Spott. Erfolg und Anerkennung? »Ich kann warten«, hat er immer wieder seinen Schülern erklärt. Warten … Seufzend setzt er sich an den Schreibtisch, um die tägliche Korrespondenz zu erledigen: Briefe an die Tochter, die ihm ganz und gar entfremdet ist, an die frühere Geliebte, die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, an Bittsteller, an Freunde.
»Alle sind gegen mich. Die Katholiken, weil sie meine Kirchenmusik profan finden, die Protestanten, weil sie finden, dass meine Musik katholisch ist, die Freimaurer, weil sie meine Musik als klerikal empfinden; für die Konservativen bin ich ein Revolutionär, für die ›Zukunftsapostel‹ ein falscher Jakobiner. Was die Italiener betrifft, trotz Sgambati: Wenn sie Anhänger Garibaldis sind, hassen sie mich als Frömmler, wenn sie auf Seiten des Vatikan stehen, klagen sie mich an, den Venusberg in die Kirche gebracht zu haben. Für Bayreuth bin ich kein Komponist, sondern bloß ein Werbeträger. Die Deutschen verabscheuen meine Musik als französisch, die Franzosen als deutsch, für die Österreicher schreibe ich Zigeunermusik, für die Ungarn fremdartige Musik. Und die Juden hassen mich und meine Musik ohne jeden Grund.«1
Dieser späte Brief Franz Liszts an seinen ungarischen Freund Ödön Mihalovich ist ein erschütterndes Dokument: Lebensresümee eines vereinsamten, verkannten und verletzten Künstlers, dem doch einmal ganz Europa zugejubelt und zu Füßen gelegen hatte. Wie konnte aus dem glamourösen Pop- und Superstar, der mit seinem Klavierspiel die Massen zu hysterischer Begeisterung hinriss, dieser alte Mann werden, der sich bitter beklagt, dass alle gegen ihn und seine Musik sind? Wie konnte sein Genie derart ins Abseits geraten? Diese Fragen zu beantworten ist eines der Hauptanliegen dieses Buches.
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»Es ist ganz erstaunlich, daß sich ein erheblicher, ich möchte sagen der überwiegende Teil der Musiker trotz der Neuartigkeit und Großartigkeit der Musik Liszts so wenig mit ihr anfreunden kann«2, stellte Béla Bartók 1911 in einem Aufsatz zum 100. Geburtstag des Komponisten fest. Und daran hat sich auch heute – 100 Jahre später – nicht viel geändert. Tatsächlich gibt es kaum einen bedeutenden Komponisten des 19. Jahrhunderts, der so wenige Freunde zu haben scheint. »Ich weiß, ich kompromittiere mich, indem ich ein Wort für Liszt einlege«, verteidigte sich der Pianist Alfred Brendel 1976 in einem Plädoyer für den Geächteten. Die Vorurteile gegen seine Musik, die Brendel aufzählt – »bombastische Äußerlichkeit, billige Sentimentalität, Formlosigkeit, Wirkung um der Wirkung willen«3, – sind heute so lebendig wie eh und je. In Deutschland kommt noch ein spezifisches Kainsmal hinzu, das Liszt anhaftet: seine Vereinnahmung als »Volksgenosse«4 durch die Nationalsozialisten und der Missbrauch seiner Symphonischen Dichtung Les Préludes als musikalisches Signet für Sondermeldungen der Wehrmacht im Rundfunk. Kein Wunder, dass sich die Musikforschung vor allem in Deutschland schwertut mit Liszt. Nach den beiden großen Monografien von Lina Ramann5 und Peter Raabe6 ist in Deutschland seit 80 Jahren keine umfassende Darstellung seines Lebens und seiner Musik mehr erschienen. Von Ernst Burger7 gibt es zwei edle Bildmonografien, aber größere deutschsprachige Biografien wie die von Wolfgang Dömling8, Adalbert Engel9, Reinhard Haschen10 oder Klára Hamburger11 bieten eher Kompilationen bekannter Fakten, Quellen und Texte, als dass sie das Bild des Komponisten grundlegend verändern würden. Die jüngste, englischsprachige Referenzmonografie des britisch-kanadischen Liszt-Forschers Alan Walker12 ist zwar ins Französische übersetzt worden, nicht aber ins Deutsche.
Trotz alledem: Franz Liszt ist weltberühmt. Seinen Namen kennen auch Menschen, die nicht unbedingt eine Affinität zur so genannten ›klassischen‹ Musik haben. Seine zweite Ungarische Rhapsodie zum Beispiel ist ein »Greatest Hit«, der es ebenso zum Zeichentrickfilm-Ruhm eines frühen Mickey-Mouse- (1929 in The Opry House von Walt Disney) und eines Tom-&-Jerry-Cartoons gebracht hat (1946 in The Cat Concerto von William Hanna und Joseph Barbera) wie zum Victor-Borge-Sketch in der Muppet Show.13 Der (1936 erstmals veröffentlichte) Roman Ungarische Rhapsodie von Zsolt Harsányi wird immer wieder neu aufgelegt. Das Hollywood-Melodram Song Without End von Charles Vidor und George Cukor (mit Dirk Bogarde) zeichnet 1960 Liszts Leben als kitschbuntes Rührstück nach, 1970 dreht der ungarische Regisseur Márton Keleti (mit Imre Sinkovits) unter dem Titel Szerelmi álmok (»Liebesträume«) ein fast dreistündiges Filmepos über seinen berühmten Landsmann, 1975 stilisiert der englische Regisseur Ken Russell in seinem Film Lisztomania den Komponisten zum ersten Popstar der Musikgeschichte (und besetzt die Titelrolle folgerichtig mit Roger Daltrey, dem Leadsänger der Rockband The Who, während der Ex-Beatle Ringo Starr als Papst Pius IX. auftritt). In verschiedenen Internet-Foren mit Listen der berühmtesten Komponisten rangiert Franz Liszt immer unter den ersten 20.
Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Popularität Liszts jedoch als eher fadenscheinig. Es sind höchstens zwei Dutzend Werke, denen man heute noch im Konzert begegnet: an Klavierwerken die h-Moll-Sonate, zwei oder drei der Ungarischen Rhapsodien (die Nummern 2, 6 und 15), die Funérailles aus den Harmonies poétiques et religieuses, der dritte Liebestraum und die erste der Consolations, das eine oder andere Stück aus den Années de pèlerinage, die beiden Franziskus-Legenden; für Tastenvirtuosen, die ›sich zeigen‹ wollen, kommen noch der erste Mephisto-Walzer, die Rigoletto-Paraphrase und die eine oder andere der Etüden hinzu, während der ›späte Liszt‹ gelegentlich mit den Nuages gris oder La lugubre gondola auf einem Klavierabend-Programm erscheint. (Zur Orientierung: Die Gesamtaufnahme der Klavierwerke von Liszt, die der australische Pianist Leslie Howard zwischen 1985 und 2001 für das englische Label Hyperion eingespielt hat, umfasst 97 CDs mit 1418 Tracks!) Das erste Klavierkonzert, ein, zwei Symphonische Dichtungen und ab und zu einmal die Faust-Symphonie sind alles, was von seinen Werken für und mit Orchester geblieben zu sein scheint, und ein paar Organisten haben noch Präludium und Fuge über den Namen BACH im Repertoire. Die Klavier- und Orchesterlieder, die Melodramen, die Kammermusik, die weltlichen und geistlichen Chorwerke, die beiden Oratorien Christus und Die Legende von der heiligen Elisabeth – sie alle scheinen aus der Mode gekommen zu sein, wie überhaupt der Großteil seines mehr als 800 Werke umfassenden Œuvres.
Dabei findet sich gerade unter den vergessenen Werken Liszts Musik von fundamentaler und epochaler Bedeutung. Der Beginn der sogenannten »Dante-Sonate« (Après une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata) aus dem zweiten Teil der Années de pèlerinage ist das erste Werk der abendländischen Musik, das mit einem unaufgelösten Tritonus beginnt. Das Melodram Der traurige Mönch nach Nikolaus Lenau ist nahezu vollständig auf Ganztonskalen und -harmonien aufgebaut. Das Lied Ich möchte hingehn (nach Georg Herwegh) nimmt zehn Jahre vor Wagner das berühmte Tristan-Motiv vorweg, so wie das Excelsior-Vorspiel zu der Longfellow-Vertonung Die Glocken des Straßburger Münsters den Parsifal vorausahnt. Und die quasi abstrakten Klangwelten jenseits der Dur/Moll-Tonalität, zu denen Liszt in Klavierstücken wie Schlaflos. Frage und Antwort, R. W. Venezia oder Unstern. Sinistre. Disastro. vordringt,...