KAPITEL 1
Im Hause Pringsheim
«Ich, Katia Pringsheim, richte auf Grund der folgenden Mitteilungen das Gesuch um Zulassung zu der im Sommer 1901 stattfindenden Absolutorialprüfung des humanistischen Gymnasiums. Mit diesem Gesuch verbinde ich die gehorsamste Bitte, zur Ablegung der Prüfung, wenn möglich, dem Wilhelmsgymnasium in München zugewiesen zu werden, da mein Zwillingsbruder Klaus gleichzeitig die Prüfung an dieser Anstalt machen wird.
Ich bin geboren am 24. Juli 1883 zu Feldafing als Tochter des kgl. Universitätsprofessors Dr. Alfred Pringsheim und seiner Frau Hedwig, geb. Dohm und gehöre der protestantischen Religion an.
Meinen ersten Unterricht in sämtlichen Gegenständen der Volksschule erhielt ich gemeinsam mit meinem Zwillingsbruder Klaus in den Jahren 1889 – 1892 durch die Lehrer Bengelmann und Schülein der dritten protestantischen Schule. Vom Herbst 1892, wo mein Bruder auf das Gymnasium kam, wurde ich, vollständig parallel mit ihm, in allen Lehrgegenständen des humanistischen Gymnasiums unterrichtet. […]
Einen gefälligen Bescheid auf dieses Gesuch bitte ich mir Arcisstr. 12 zustellen zu wollen.
Gehorsamst Katia Pringsheim
Mit dem vorstehenden Gesuche erkläre ich mich einverstanden.
Prof. Dr. Alfred Pringsheim
München, 26. 3. 1901»
Das Gesuch wurde genehmigt, die noch nicht achtzehnjährige Katharina Pringsheim erhielt «durch höchste Ministerial-Entschließung No 5652 vom 22. April 1901» die Examens-Erlaubnis – gemeinsam mit zwei Mitbewerbern, deren Namen bekannt sind: Siegwart Graf zu Eulenburg und Hertefeld sowie Babette Steininger aus Niederbayern, eine Gastwirtstochter. Katias Prüfung fand wunschgemäß im Wilhelmsgymnasium statt, das auch ihre Brüder besuchten. Ergebnis: «mit wohlbefriedigendem Erfolg […] befähigt zum Übertritt an eine Hochschule». Die Mitbewerber, der Herr von Adel und die Gastwirts-(nach anderen Quellen: Postboten-)Tochter, hatten, wie die Schulakten zeigen, nicht bestanden.
Katharina Pringsheim hingegen war für das Studium wohl vorbereitet. Ihre Eltern konnten es sich leisten, der Tochter in den erforderlichen acht Fächern Griechisch, Latein, Französisch, Deutsch, Geschichte, Mathematik, Physik und Religion jahrelang Privatunterricht bei angesehenen und qualifizierten Gymnasialprofessoren erteilen zu lassen. Ob sie sich dieses Privilegs bewusst war, muss dahingestellt bleiben, ebenso wie die Antwort auf die Frage, ob sich die erfolgreiche Abiturientin jemals Gedanken gemacht hat über das Scheitern ihres weiblichen Mitprüflings, der einem Milieu entstammte, in dem studierwillige Mädchen von jener Bildung ausgeschlossen waren, die im Hause Pringsheim die Erziehung bestimmte: gleiche Chancen für Töchter und Söhne, wie es die großmütterliche Frauenrechtlerin, Hedwig Dohm, gefordert hatte.
Das Abiturzeugnis der gescheiten jungen Dame aus gutem und vermögendem Hause konnte sich sehen lassen. «Nach ihren schriftlichen Prüfungsarbeiten ist der Stand ihrer Kenntnisse im allgemeinen ein recht erfreulicher», befanden die Lehrer und machten lediglich eine einzige Einschränkung: «Der deutsche Aufsatz hob die richtigen Gesichtspunkte hervor, ließ aber Sicherheit sowohl in der sachlichen Begründung wie auch in der sprachlichen Behandlung vermissen.» – Der deutsche Aufsatz: Leider ist nicht bekannt, welches der drei «für die kgl. Bayerischen humanistischen Gymnasien» vorgegebenen «Themata» die Abiturientin wählte. Zur Auswahl standen: «1. Welchen Antheil hat Bayern an den großen Errungenschaften des abgelaufenen Jahrhunderts. (Die Prüfungskommission kann für dieses Thema die Ausarbeitung in Form der Rede bestimmen.) 2. Die Wirkung des Kontrasts ist an einem in der Schule gelesenen Drama nachzuweisen. (Das Drama bestimmt die Prüfungskommission.) 3. ‹Es ist die Rede dreierlei, ein Licht, ein Schwert und Arzenei.›» Wenn die Redeform nicht zwingend war, könnte man sich aufgrund der Abschlussnoten und der allgemeinen Beurteilung eine Bearbeitung des historischen Themas leicht vorstellen.
Darüber hinaus ist es bemerkenswert, wie bereits im Abiturzeugnis eine Eigenart erkennbar wird, die der Leser in späteren Dokumenten, vor allem in den Briefen jener Frau gewahrt, die zeitlebens darauf beharrte, kein Mitglied der schreibenden Zunft zu sein, und dafür lieber auf jene Fähigkeiten und Vorlieben rekurrierte, die die Prüfungskommission bereits 1901 hervorhob: den Umgang mit fremden Sprachen. «Die Übersetzung aus dem Griechischen ins Deutsche [zeugte] von richtiger Auffassung und gutem Verständnisse. Auch in der mündlichen Prüfung wußte sie die ihr vorgelegten Autorenstellen sehr gewandt zu übersetzen und zu erklären.»
Kein Wunder, dass die Noten, namentlich in diesen Fächern, vorzüglich waren:
in der deutschen Sprache | genügend |
in der lateinischen Sprache | sehr gut |
in der griechischen Sprache | sehr gut |
in der französischen Sprache | sehr gut |
in der Mathematik und Physik | gut |
Frau Thomas Mann wird viel Gelegenheit haben, auf dieses Wissen zurückzugreifen, das Katharina Pringsheim von ihren Eltern abverlangt wurde.
Der Vater, Alfred Pringsheim, 1850 in Ohlau/Schlesien geboren, hatte sich nach seinem Mathematikstudium in Berlin und Heidelberg 1877 in München habilitiert und unterrichtete seit 1886 als außerordentlicher, seit 1901 als ordentlicher Professor an der dortigen Universität «verschiedene Zweige der Analysis, Functionen-Theorie, Algebra und Zahlentheorie». (So steht es in seinem Lebenslauf.) «Er war ein innerhalb der Gelehrtenhierarchie angesehener Mann», urteilte ein Kollege anlässlich des 80. Geburtstags, 1930, «viele der bedeutendsten Mathematiker Deutschlands sind seine Schüler.» Mit der Mathematik indes, so der Laudator, sei die Lebenssphäre Pringsheims nicht erschöpfend umrissen, ja mancher unter den Bekannten des Professors wisse vielleicht nicht einmal, dass er Mathematiker sei: «Er ist nämlich derselbe Mann, der, Wagnerianer der ersten Stunde, sich ganz jung mit Richard Wagner befreundete, die ersten Klavierauszüge des Ringes für seinen persönlichen Gebrauch eigenhändig herstellte und mit ebenso großer Freude diesen Sommer nach Bayreuth gegangen ist, wie damals vor 54 Jahren. Er ist derselbe Mann, der sein Haus mit Kunstschätzen füllte und die Fayencen seiner weltberühmten Sammlung mit der Akribie aussuchte, die er von seinen mathematischen Problemen her gewohnt war: Wenn, auch nach Monaten, der leiseste Zweifel an der Echtheit eines Stückes auftauchte, wurde es unerbittlich abgestoßen. – Sein Haus ist lange Zeit ein Mittelpunkt des Münchner Gesellschaftslebens gewesen, in dem sich alles, was irgend einen Namen hatte, traf; hierzu hat auch die Liebenswürdigkeit, Klugheit und Schönheit seiner Frau beigetragen, die eine ebenso interessante Persönlichkeit ist, wie er selbst.»
Die vielfach mit den Attributen ‹schön›, ‹klug› und – im Allgemeinen jedenfalls – ‹liebenswürdig› charakterisierte Frau Hedwig war die 1855 geborene Tochter des Schriftstellers und Kladderadatsch-Redakteurs Ernst Dohm und der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, geb. Schleh. Alfred Pringsheim hatte seine spätere Frau als Mitglied des berühmten Meininger Hoftheater-Ensembles, Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, kennen gelernt. Aber auch frühere Begegnungen wären – im Zeichen einer dem Dohm’schen Hause und dem jungen Mathematiker gemeinsamen Liebe zur Musik Richard Wagners – durchaus denkbar gewesen. Sowohl Hedwig Dohms Vater wie auch Alfred Pringsheim gehörten zu den frühesten Förderern von Bayreuth und halfen bereits im Jahr 1872 bei der Grundsteinlegung des Festspielhauses. Ernst Dohm war Präsident des Berliner Wagner-Vereins und galt, wie Alfred Pringsheim, als leidenschaftlicher Vorkämpfer des damals so heftig umstrittenen Musikers Richard Wagner. Dieser Umstand verschaffte auch der in Meiningen debütierenden Tochter – wie sie 1930 in einem ihrer für die Vossische Zeitung geschriebenen Feuilletons erzählt – im Sommer 1876 Einladungen ins Haus Wahnfried: «Der Familienkreis machte einen […] gemütlichen, behaglichen Eindruck. Richard Wagner sprach ein unverfälschtes Sächsisch und erzählte manch lustige Anekdote; Frau Cosima, durchaus grande dame, präsidierte mit Anmut und Sicherheit. […] Die Abendempfänge in Wahnfried aber waren überaus interessant und glänzend; alles, was gut und schön und teuer war, fand sich da zusammen. […] Ich entsinne mich einer Soirée, in der Franz Liszt, Vater und Schwiegervater des Hauses, wunderbar spielte.»
An solchen Abenden durfte jahrelang auch «der kleine Dr. Alfred Pringsheim» teilnehmen, denn «der Meister hatte sich mit dem jungen Anbeter, dem er auch zu sämtlichen Proben Zutritt gegeben, […] förmlich angefreundet, soweit es der Unterschied des Alters und der Lebensleistung eben zuließ». Doch diese intime Verbindung hatte sich, kurz ehe Hedwig Dohm-Pringsheim Bayreuther Boden betrat, unter dramatischen Umständen aufgelöst: Als ein Berliner Kritiker zu...