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Worauf warten wir?

Ketzerische Gedanken zu Deutschland

AutorAbtprimas Notker Wolf
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644412514
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Wenn ich gelegentlich nach Deutschland zurückkehre, kommt mir das Land wie ein großer Wartesaal vor, ein Wartesaal voller Warntafeln und Verbotsschilder, von denen das größte strengstens untersagt, bei Ankunft des Zuges den Bahnsteig zu betreten.» Schuldige für die Probleme dieses Landes finden wir schnell und prangern sie an. Doch was ist mit uns selbst? Schuldlos, aber völlig machtlos? Notker Wolfs ketzerische Analyse zeigt: Die Deutschen sind weiterhin ein Volk der Untertanen. Wir führen das unbeschwerte Leben einer Gesellschaft, die die persönliche Verantwortung an der Garderobe des Staates abgegeben hat. Denn seine Fürsorge und Bevormundung schafft Sicherheit. Aber um den Wandel der Verhältnisse mitzugestalten, müssen wir unsere individuelle Freiheit zurückgewinnen. Denn in Zukunft werden wir uns selbst überlassen sein ...

Notker Wolf OSB, Dr. phil., geboren 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu, studierte Philosophie und Theologie in Rom und München. 1961 trat er in die Benediktinerabtei St. Ottilien am Ammersee ein und wurde 1977 zu ihrem Erzabt gewählt. Seit 2000 war er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien auf der ganzen Welt. 2008 wurde er auf weitere vier Jahre durch Wiederwahl in dieser Funktion bestätigt. Besonders am Herzen lagen ihm der interkulturelle Dialog mit anderen Religionen und partnerschaftliche Projekte in China und Nordkorea. Er starb im April 2024. 

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Leseprobe

01

ÜBERLEGUNGEN AUF EINEM CHINESISCHEN BAHNHOF


Ich verliere nicht leicht die Nerven. Ich habe manches erlebt und bin auf ziemlich alles gefasst. Aber damals, in der Bahnhofshalle der nordostchinesischen Stadt Shenyang, musste ich mich mühsam beherrschen. Es war meine erste Reise nach China, ich wollte mit dem Zug ins Innere der Mandschurei und bis an die nordkoreanische Grenze, und es schien mir nicht vergönnt, in den Besitz einer simplen Fahrkarte zu gelangen.

Zum Glück hatte ich meine Pfeife dabei – und Pater Sebastian, einen deutschen Benediktiner, der seit Jahren in Südkorea lebte. Pater Sebastian konnte nicht nur die chinesischen Schriftzeichen von Ortsnamen entziffern, er hatte auch ausgiebige Erfahrungen mit dem südkoreanischen Geheimdienst gesammelt. Mit anderen Worten: Er ließ sich nicht leicht ins Bockshorn jagen – und reagierte deshalb gelassen, als nach Stunden stoisch ertragenen Wartens die Reihe endlich an uns war und die Dame im Dämmerlicht des Fahrkartenschalters bloß den Kopf schüttelte und trocken erklärte, für Ausländer gebe es einen eigenen Schalter, die Treppe hoch, im ersten Stock. Er verlor nicht einmal die Fassung, als wir nach einer weiteren Stunde geduldigen Wartens im ersten Stock erfuhren, unser Devisengeld sei hier wertlos, an diesem Schalter könne man nur mit chinesischem Geld bezahlen. Er blieb auch unerschütterlich, als wir in einer dritten Schlange abermals eine gute Stunde ausharren mussten, bevor man uns die Fahrkarten tatsächlich aushändigte. Und er bewährte sich ungemein, als dann spätabends der Zug einlief und auf dem Bahnsteig ein unglaubliches Gerangel entstand, ein Stoßen und Schieben und Drängen, sodass wir uns regelrecht zu einer der Waggontüren vorkämpfen und bis in unser Abteil durchboxen mussten.

Eine harte Bewährungsprobe für unsere Geduld. Nicht die erste. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass wir uns nicht auf einer Vergnügungsreise befanden. Ein Jahr zuvor, 1984, hatte China seine Grenzen für Individualreisende geöffnet, seither hatte ich darauf gebrannt, in die ehemalige Mandschurei zu fahren und Kontakt zu den Christen dort aufzunehmen. Würde ich überhaupt noch Christen finden? Wir Benediktiner hatten Anfang des letzten Jahrhunderts im Nordosten Chinas missioniert, hatten eine Abtei errichtet, Pfarreien gegründet, ein ganzes Schulsystem aufgebaut. Dann waren unsere Missionare von den Kommunisten des Landes verwiesen worden. Was war aus den Chinesen geworden, die sich seinerzeit zum christlichen Glauben bekehrt hatten? Niemand wusste etwas darüber. Ich fühlte mich für sie mitverantwortlich. Ich musste ihnen zeigen, dass wir sie nie vergessen hatten. Und außerdem war ich entschlossen, ein neues Kapitel unserer Missionsarbeit in China aufzuschlagen.

Ein argwöhnischer Staatssicherheitsdienst wie der chinesische konnte das, was wir vorhatten, durchaus verdächtig finden. Auf jeden Fall mussten wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Um keine schlafenden Hunde zu wecken, hatten wir nichts im Voraus gebucht, kein Hotel, keinen Flug und keine Zugfahrt. Kein übereifriger, unterbeschäftigter Geheimdienstmann irgendwo in der Provinz sollte von unseren Plänen Wind bekommen. Nur – Reisende, die unerwartet auftauchten, existierten in jenen Jahren für chinesisches Hotelpersonal eigentlich gar nicht. Oft saßen wir stundenlang auf unseren Koffern und warteten. Wieder einmal. Warteten, bis irgendwann sich irgendjemand doch noch unser erbarmte.

Nun gut, ich kann warten. Noch waren die Chinesen mit solchen Reisenden wie Pater Sebastian und mir überfordert. Bereut habe ich die langen Wartezeiten aber keineswegs. Ich habe nämlich – auf meiner ersten wie auf allen späteren Reisen – unterdessen die Menschen beobachtet und erlebt, wie ansteckend eine allgemeine Aufbruchstimmung sein kann, wie beflügelnd sich Erfolge auf ein ganzes Volk auswirken. Ich habe gesehen, mit welchem Eifer, mit welcher Energie und Zielstrebigkeit die Chinesen ihren Geschäften nachgehen. Und ich habe im Lauf der Jahre erfahren, mit welchen Hoffnungen, mit welchen großen Erwartungen sie in die Zukunft schauen, habe die Begeisterung in ihren Augen gesehen und den Stolz auf ihre Fortschritte. Eine solche Dynamik, habe ich manches Mal gedacht, muss zuletzt in den USA geherrscht haben, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, als Einwanderer aus der Alten Welt in ihren Briefen nach Hause berichteten, wie unwiderstehlich mitreißend das Leben in Amerika sei.

1985 kündigten sich die späteren Erfolge erst zaghaft an. Seinerzeit war Peking noch eine triste Stadt, grau in grau, und alle trugen die dunkelblaue, kommunistische Einheitsmontur. Aber das, was solche Erfolge möglich macht, war damals bereits zu spüren: Zukunftsoptimismus, Selbstvertrauen und Einsatzfreude. Mit solchen Menschen kann man viel erreichen – und wir haben seither in China auch viel erreicht, haben Schulen unterstützt, Krankenhäuser finanziert und sogar Kirchen gebaut. Nicht dass Pater Sebastian und ich gleich mit offenen Armen empfangen worden wären. Niemand hatte auf uns gewartet. Wer waren wir denn? Zwei dahergelaufene deutsche Patres im Reich der Mitte, der Sprache unkundig, mit mysteriösen Absichten und der unbegreiflichen Gewohnheit, keine Reservierungen vorzunehmen. Dennoch ist man uns nach anfänglichem Misstrauen mit Aufgeschlossenheit begegnet. Sie ließen mit sich reden, unsere chinesischen Gesprächspartner. Sie waren willens, sich überzeugen zu lassen. Diese Menschen waren Realisten, auf ihren Vorteil bedacht wie jeder vernünftige Mensch und obendrein bereit, neue Wege zu beschreiten, Wege, die seit Maos Zeiten versperrt gewesen waren. China war in Bewegung geraten, und es war großartig, das mitzuerleben.

Diese Bilder von Tüchtigkeit und Zuversicht vor Augen, bin ich auf chinesischen Bahnhöfen und in chinesischen Hotelhallen oft ins Grübeln gekommen. Bei uns in Deutschland, habe ich gedacht, steht die Luft wie in einem geschlossenen Raum. Da bewegt sich nichts. Da steht auch die Diagnose längst fest. Und diese Diagnose lautet: Es ist schlecht bestellt um unsere Welt. Unheil breitet sich aus. Noch größeres Unheil zieht herauf. Aber nichts gegen das Verderben, das sich am Horizont bereits abzeichnet. Folglich ist Pessimismus die erste Bürgerpflicht und Optimismus unverantwortlich. Schönfärberei wäre es, an dieser Welt auch nur ein gutes Haar zu lassen. Und sträflicher Leichtsinn, noch einen Hoffnungsschimmer sehen zu wollen. Nur Gewissenlose nehmen in dieser Zeit, in dieser Welt noch etwas auf die leichte Schulter. Wir haben allen Grund, schwarz zu sehen. Das Glaubensbekenntnis der Kleingläubigen.

Und wie peinlich wir alles vermeiden, was nach Zuversicht aussehen könnte. «Das hat sowieso keinen Zweck», heißt es. Oder: «Das klappt nie und nimmer.» Oder: «Das kann gar nicht funktionieren.» Als wäre es unser hart erkämpftes Menschenrecht, das Schlimmste befürchten zu dürfen und ans Misslingen zu glauben. Doch ändern darf sich auch nichts, sonst müssten wir am Ende womöglich feststellen, dass wir im Irrtum waren. Und das wäre vermutlich die größte Katastrophe – nicht Recht behalten zu haben mit unserem Pessimismus. Von China aus gesehen, erinnerte mich Deutschland an einen Masochisten, der sich erst gründlich quält und dann krankschreiben lässt.

Oder leisten wir uns bloß einen unerbittlichen Realismus? Ein geschärftes Problembewusstsein, wie es so schön heißt? Ist der Eifer, mit dem wir jeden neuen Vorschlag madig machen und jeder neuen Perspektive die düsterste Seite abgewinnen, vielleicht nur ein Zeichen unseres aufgeklärten, kritischen Verstandes? Wer sind denn die wahren Realisten? Diejenigen, denen man nichts vormachen kann, die einen untrüglichen Blick für die Schwachstelle einer jeden Sache haben, die alles, was glänzt, auf gar keinen Fall für Gold halten? Oder Menschen wie die Chinesen, die sich von ihrem ehrgeizigen Aufbauprojekt anstecken lassen, die sich ihrer Kraft bewusst sind, die der Zukunft entgegenfiebern und bereit sind, alles, was glänzt, auch wirklich für Gold zu halten?

Bei dem Gedanken an Deutschland fallen mir gewisse Klöster ein. Klöster, in denen kein Leben mehr herrscht. So etwas kommt vor. Neues Leben kann dann nur von außen kommen, wie in jenem Kloster auf einer Insel vor der südfranzösischen Küste. Die Gemeinschaft dort war auf fünf alte Mönche zusammengeschrumpft. Diese Mönche befolgten brav ihre Regel, jeder für sich, und ließen es dabei bewenden. Zeitlebens zum Schweigen angehalten, hatten sie den Kontakt zueinander verloren. Dann zogen drei junge Männer aus einer modernen Gemeinschaft ein, nahmen das Heft in die Hand, und fünfzehn Jahre später war die Gemeinschaft auf neunzig Brüder angewachsen. Sie hatten das Chorgebet und die Liturgie neu gestaltet und in die alten Mauern ein solches Leben gebracht, dass junge Menschen dort ihre Ideale verwirklicht fanden. Bei meinem Besuch merkte ich ihnen die Freude an der eigenen Berufung an und die Befriedigung, die ihre Arbeit ihnen verschaffte. Vor allem aber: Man lebte nun nicht mehr aneinander vorbei. Man traf sich häufig und redete miteinander. Es war zu einem wirklichen inneren Kontakt gekommen. Ein sterbendes Kloster hatte sich in ein aufblühendes Kloster verwandelt, und mittlerweile ist von dort ein altes, romanisches Kloster wiederbesiedelt worden und sogar eine Neugründung in Norditalien ausgegangen.

In einem Fall wie diesem haben die alteingesessenen Mönche zwei Möglichkeiten. Entweder sie machen mit, lassen sich anstecken und mitreißen. Oder sie bestreiten, dass es auch anders geht, ziehen sich beleidigt zurück und verschanzen sich hinter einer frommen Selbstgefälligkeit. Mir scheint, wir Deutschen haben uns bislang für die zweite...

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