Abwandern, Zurückkehren, Bleiben? Wanderungsentscheidungen junger Frauen in strukturschwachen ländlichen Räumen: Sachsen-Anhalt im Fokus
Tim Leibert & Karin Wiest
Ländliche Regionalentwicklung und die Abwanderung junger Frauen
Strukturschwache ländliche Räume sind häufig von der Abwanderung junger Menschen betroffen. Da dort oft nur ein beschränktes Angebot an Ausbildungs- und / oder Studienplätzen zur Verfügung steht, sehen sich viele Heranwachsende nach dem Schulabschluss zum Pendeln oder zum Wegzug gezwungen. Aktuelle Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass die Abwanderungsprozesse in ländlichen Räumen zu einem erheblichen Teil von jungen Frauen getragen werden (ESPON & IfL 2013; Weber & Fischer 2012). Dies führt in zahlreichen Regionen Europas zu unausgewogenen Geschlechterverhältnissen, die sich auf die regionale Entwicklung der ohnehin schon strukturschwachen Räume ungünstig auswirken. Alters- und geschlechtsselektive Abwanderung, die ökonomische Restrukturierung – insbesondere Arbeitsplatzverluste in der Landwirtschaft und der Industrie – lösen Schrumpfungsprozesse aus, deren Folge ein Rückgang der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ist. Abbildung 1 veranschaulicht eine negative regionale Entwicklungsspirale durch selektive Abwanderung im Kontext des wirtschaftlichen Strukturwandels, die zu einem Verlust jener kritischen Massen führt, die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung von sozialen und technischen Infrastrukturen sind. Die Abwanderung junger Frauen hat in diesem Zusammenhang neben einer Beschleunigung von Alterungs- und Schrumpfungsprozessen auch negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt in den betroffenen ländlichen Gemeinschaften. Wachsende soziale, wirtschaftliche und demografische Probleme beeinträchtigen darüber hinaus die Identifikation mit der Heimatregion und verstärken die Abwanderungsneigung. Im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und des Übergangs zu einer Informations- und Wissensgesellschaft haben vor allem städtische Arbeits- und Ausbildungsmärkte für Frauen stark an Attraktivität gewonnen (Geppert & Gornig 2010). Die wachsende Mobilitätsbereitschaft steht in engem Zusammenhang mit den zunehmend höheren Bildungsabschlüssen junger Frauen, denen in ländlichen Räumen kein adäquates Angebot an qualifikationsgemäßen Arbeitsplätzen gegenübersteht (Milbert & Sturm 2013). Insbesondere hoch qualifizierte Frauen tendieren auf Grund günstigerer Beschäftigungsmöglichkeiten und der besseren Vereinbarkeit von Beruf, Familie und privaten Interessen immer stärker dazu, auch nach dem Abschluss ihrer Ausbildung in den Großstadtregionen zu bleiben (Geppert & Gornig 2010).
Abb. 1: Negative regionale Entwicklungsspirale durch Verlust an kritischen Massen. Eigener Entwurf in Anlehnung an Boyle et al. (1998)
Wanderungsentscheidungen werden außerdem stark von lokalspezifischen Gegebenheiten wie den Strukturen des Arbeitsmarkts und des Bildungsangebots, Erreichbarkeiten sowie von regionalen Kulturen und Lebensstilen beeinflusst. Diese führen im Ergebnis zu räumlich sehr differenzierten demografischen Strukturen. Um unterschiedliche Handlungsund Entscheidungssituationen junger Frauen in Abwanderungsgebieten in ihrem regionalspezifischen Zusammenhang zu thematisieren, wird auf Ergebnisse aus zwei aufeinander aufbauenden EU-Projekten zurückgegriffen: Das Projekt SEMIGRA zielte darauf ab, Hintergründe und Folgen der überproportionalen Abwanderung von jungen Frauen aus den ländlichen Räumen Europas zu beleuchten (ESPON & IfL 2013). Im Rahmen des Projekts WOMEN werden Strategien entwickelt und bewertet, die geeignet sind regionalen Abwanderungsprozessen und einem weiblichen Fachkräftemangel entgegenzuwirken (http://www.women-project.eu).
Im Rahmen dieses Beitrags wird zunächst der Frage nachgegangen, welche Mobilitätsmuster für junge Frauen und Männer in strukturschwachen ländlichen Räumen charakteristisch sind. Grundlage dieser Darstellung bildet eine vergleichende Analyse demografischer Daten im deutschsprachigem Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz). Die statistische Analyse der Geschlechterproportionen zeigt, dass die neuen Bundesländer Deutschlands von einem besonders ausgeprägten Frauenmangel betroffen sind. Die gesellschaftlichen Nachwirkungen der Transformationskrise durch die deutsche Wiedervereinigung und die Herausbildung einer Abwanderungskultur haben sich hier zu einem spezifischen demografischen Entwicklungspfad verdichtet. In der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen kommen in vielen Landkreisen nur 75 bis 85 Frauen auf 100 Männer (ESPON & IfL 2013, Leibert & Wiest 2011). Vor diesem Hintergrund wird beispielhaft für den ländlichen Raum des ostdeutschen Bundeslandes Sachsen-Anhalt der Frage nachgegangen, in welchen lebensweltlichen Zusammenhängen sich Wanderungsentscheidungen von Frauen vollziehen. Um sich den gesellschaftlichen Wirklichkeiten hinter den beschriebenen Geschlechterproportionen und Wanderungsmustern anzunähern, stehen in der Folge die Bewohnerinnen in Abwanderungsgemeinden Sachsen-Anhalts im Mittelpunkt. Die Auswertung der Gespräche, die mit bleibenden und abgewanderten jungen Frauen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren geführt wurden, veranschaulicht, welcher inneren Logik Mobilitätsbiografien im ländlichen Ostdeutschland folgen und in welchem gesellschaftlichen Kontext individuelle Wanderungsentscheidungen getroffen werden.
Typologie regionaler Geschlechterungleichgewichte im deutschsprachigen Raum
Wanderungsentscheidungen stehen in engem Zusammenhang mit spezifischen Lebensereignissen und Lebensphasen. Im Lebenslauf gewinnen jeweils charakteristische Wanderungsmotive und Wanderungsbewegungen an Bedeutung. Während im Alter zwischen 20 und 24 Jahren häufig noch die Ausbildung im Vordergrund steht, muss später – etwa im Alter zwischen 25 und 29 Jahren – der Einstieg in das Berufsleben bewältigt werden. In diesen beiden Lebensphasen sind die Wanderungsströme typischerweise auf die größeren Städte gerichtet. Dabei wandern Frauen eher in der Ausbildungsphase, Männer dagegen verstärkt in der Berufseinstiegsphase und damit in einem etwas höheren Alter. Der Lebensabschnitt zwischen 30 und 34 Jahren fällt im statistischen Durchschnitt häufig mit einer Familiengründung zusammen. In dieser Phase können ländliche Räume als Wohnstandorte wieder an Attraktivität gewinnen (Leibert & Wiest 2011). Um Unterschiede im Wanderungsverhalten zwischen jungen Frauen und jungen Männern abzubilden wird im Folgenden auf eine Typologie zurückgegriffen, die stark vereinfachend auf den Lebensphasen Ausbildung, Berufseinstieg und Familiengründung basiert. Die Clusteranalyse1 beschreibt die regionalen Unterschiede in den Geschlechterproportionen über die Abweichung der Zahl der Frauen pro 100 Männer in den genannten drei Altersgruppen auf Ebene der NUTS 3-Regionen2 vom gemeinsamen Durchschnittswert Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die Analyse zeigt sieben Typen der regionalen Geschlechterungleichgewichte im jungen Erwachsenenalter im deutschsprachigen Raum (Abbildung 2): Typ 1 weist in allen betrachteten Altersgruppen durchschnittliche Geschlechterproportionen auf, d. h. die Anteile der Frauen und Männer sind in den jeweiligen Altersgruppen weitgehend ausgeglichen. Dieser Typ dominiert in der Schweiz; in Deutschland und Österreich umfasst er vorrangig gut erreichbare suburbane und ländliche Räume in den Großstadtregionen und kleinere kreisfreie Städte.
Durch einen deutlichen Frauenmangel in der Altersgruppe 20–24, der sich in der Altersgruppe 30–34 wieder ausgleicht, zeichnen sich Typ 2 und 3 aus. In Typ 2 sind die Geschlechterungleichgewichte insgesamt geringer ausgeprägt als in Typ 3. Ersterer ist in struktureller Hinsicht recht heterogen und umfasst sowohl wirtschaftsstarke Kreise im Münchner Umland, touristisch geprägte Küstenregionen als auch periphere Schrumpfungsregionen. In Typ 3 sind vorrangig periphere und altindustrialisierte ländliche Räume in Westdeutschland und Österreich sowie touristisch und suburban geprägte Kreise in Ostdeutschland zusammengefasst.
Abb. 2: Typologie regionaler Geschlechterungleichgewichte im jungen Erwachsenenalter 2011. Eigene Berechnungen; Datenquelle: Bundesamt für Statistik (2013), Statistik Austria (2013), Statistische Ämter dies Bundes und der Ländler (2013)
Die Typen 4, 5 und 7 sind städtisch geprägt und zeichnen sich durch mehr oder weniger überdurchschnittliche Frauenanteile in der Altersgruppe 20 bis 24 und mehr oder weniger ausgeprägte Männerüberschüsse in der Altersgruppe 30 bis 34 aus. Typ 4 umfasst vorrangig westdeutsche und österreichische Großstädte sowie Kreise mit bedeutenden Universitätsstädten. Der mit zunehmendem Alter rückläufige Frauenüberschuss ist einerseits darauf zurückzuführen, dass Männer aus ländlichen Regionen später in die Metropolen zuziehen als Frauen. Andererseits handelt es sich um eine Ausgleichsbewegung durch Suburbanisierungsprozesse, die im Zusammenhang mit der Familiengründungsphase zu sehen ist. In Typ 5 sind ostdeutsche...