3. Der Widerstandskämpfer
3.1. Widerstand in Tirol 1938-1944
So wie in Gesamtösterreich war auch in Tirol Widerstand die Ausnahme und Anpassung die Regel. Die Ausgangslage für den Aufbau eines Widerstandes war nach der Machtübernahme des Nationalsozialismus in Tirol äußerst ungünstig. Einerseits stieß das Regime zunächst auf breite Begeisterung, Unterstützung und Sympathie in der Bevölkerung, andererseits hatte der NS-Terrorapparat mit seinen Massenverhaftungen dafür gesorgt, daß die potentiellen Exponentlnnen eines Widerstandes eingesperrt oder eingeschüchtert waren. Die Linke war in Tirol traditionell schwach, dazu kam, daß die Repression und die katastrophale Wirtschaftspolitik des „austrofaschistischen Ständestaates“ eine Annäherung gerade der jungen ArbeiterInnen an das NS-Regime gefördert hatte, während die Organisationsstrukturen von SPÖ und KPÖ zerschlagen waren und ihre staatspolizeiliche Erfassung nun den Nazis zugute kam. Die höchst einflußreiche katholische Kirche, die sich dem Regime in den ersten Monaten nach dem „Anschluß“ anbiederte, sah sich zwar härtesten Maßnahmen und weitgehenden Verfolgungen des Klerus ausgesetzt, die in der Bevölkerung höchst unpopulär waren. Andererseits lehnte die Kirchenführung politischen Widerstand strikte ab und wirkte auch dementsprechend auf die Geistlichen ein. Eine offene Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus gab es daher nicht. Bis zuletzt gab die katholische Kirche ihr Bemühen, einen „modus vivendi“ mit der NSDAP zu finden, nicht auf. Gerade während des Krieges vertrat sie ihre traditionell patriotische Haltung, die insofern besonders systemstabilisierend wirkte, als der Krieg gegen die kommunistische Sowjetunion aufrichtig unterstützt wurde.
Die Zustimmung innerhalb der Tiroler Bevölkerung für das NSRegime, die nicht mit ideologischer Grundsatztreue verwechselt werden darf, blieb bis wenige Monate vor dem Zusammenbruch im großen und ganzen intakt. Dafür spricht auch die Entwicklung der Parteimitgliedschaft. Von Herbst 1938 bis Mai 1943 weist Westösterreich die stärksten Zuwachsraten an ParteigenossInnen auf. Mehr als ein Fünftel der TirolerInnen bzw. VorarlbergerInnen über 18 Jahre waren ParteianwärterInnnen oder Mitglieder der NSDAP bzw. einer ihrer Gliederungen. Kein anderes Bundesland erreichte auch nur annähernd diese Mitgliederstärke. Tirol-Vorarlberg präsentierte sich in dieser Hinsicht als Mustergau des Deutschen Reiches.176 Die Sympathien für die NS-Herrschaft unterlagen natürlich Schwankungen, die Begeisterung war nach Stalingrad und dem Rückzug der Wehrmacht an allen Fronten arg geschrumpft. Zunehmende Reserviertheit und Vorbehalte förderten zwar ein allmähliches vorsichtiges Abrücken, keinesfalls kam es zu einem wirklich massenhaften Abfall vom NS-Regime. Dazu trug nicht nur der Bombenkrieg auf deutsche und weit verminderter, auf Tiroler Städte bei, vor allem die Errichtung der „Operationszone Alpenvorland“ mit der scheinbaren Heimholung Süditols im September 1943 nach dem Ausscheiden Italiens als Bündnispartner wirkte sich positiv aus.177 Erst in den letzten Kriegsmonaten gingen immer mehr TirolerInnen innerlich auf Distanz zum NS-Regime. Eine Oppositionsbildung auf breiter Front entstand jedoch nicht. Diese Ausgangslage und Entwicklung beeinflußten Quantität und Qualität des Tiroler Widerstandes entscheidend. Als besondere Nachteile für eine konspirative Tätigkeit in Österreich führt Luza die mit den Deutschen gemeinsame Sprache an, die deutlich größere Verfolgung durch die eigenen Landsleute, die Stärke der NSDAP, die gerade in Tirol als heimische politische Kraft auftreten konnte und auch mehrheitlich als solche empfunden wurde, sowie den Umstand, daß in Österreich als einzigem besetzten Gebiet die allgemeine Wehrpflicht bestand. All dies erleichterte dem Regime die Kontrolle der Bevölkerung und beschränkte die Möglichkeiten des Untergrundes, der folglich kein enges Netzwerk aufbauen konnte, das von einer großen Mehrheit der Bevölkerung getragen gewesen wäre. Der Widerstand blieb mit Ausnahme der letzten Wochen aber nicht nur von der eigenen Bevölkerung isoliert, bis zur zweiten Hälfte des Jahres 1944 gab es auch kaum Kontakte zu den Alliierten, sodaß von dieser Seite wenig Hilfe erwartet werden konnte. Daher mußte sich der Widerstand bis gegen Kriegsende, als direkte Verbindungen hergestellt und erste Unterstützung erhalten worden war, in erster Linie auf die Rekrutierung von Mitgliedern und den Aufbau einer Organisation konzentrieren.178
Bis 1940 kann man kaum von einer organisierten Widerstandsbewegung in Tirol sprechen Der Widerstand blieb insgesamt gesehen individueller Natur. Allerdings bildeten einige wenige politisch unerfahrene junge Idealisten die ersten Untergrundgruppen, die einem bündisch-legitimistischen Spektrum angehörten. Zunächst ist ein Engagement auf seiten der bündischen Jugend festzustellen, die den „Anschluß“ als nationales und persönliches Trauma erlebte. Der engste Kreis von Führern des Innsbrucker Freikorps, einer Untergruppe des Grauen Freikorps innerhalb der Jugendorganisation der „Vaterländischen Front“ des „Ständestaates“, unter Leitung von Hugo Ostermann, Much Staudinger und Walter Hastaba, riß Hakenkreuzwimpeln von Autos, brannte ein großes Kruckenkreuz, das Symbol des „Ständestaates“, anläßlich der Sonnwendfeier 1938 ab und lieferte Streu- und Streichaktionen mit Parolen wie „Wir bleiben Österreicher“ oder „Hitler verrät Südtirol“.179 Bischof Paulus Rusch soll diese jungen Leute, die allesamt Mittelschüler und Studenten waren, durch Zurverfügungstellung der händischen Abziehmaschine der Bischofskanzlei und die Spende von Druckerschwärze unterstützt haben. Tausende Flugzettel wurden in einer Nacht abgezogen und aus Straßenbahnen sowie Regionalzügen von Innsbruck nach Landeck und Wörgl hinausgeworfen. 24 junge Leute sollen an dieser zu jenem Zeitpunkt „kühnsten Aktion in der Landeshauptstadt“180 beteiligt gewesen sein und danach Tirol sofort verlassen haben. In den nächsten Tagen nahm die Gestapo Verhaftungen in der Innsbrucker Bürgerschaft vor, die vermutete Zahl von 400 Festnahmen ist aber weit überschätzt. Die Freilassungen folgten auch auf dem Fuß.181 1939 wurden die meisten noch in Innsbruck lebenden ehemaligen Freikorpsmitglieder zur Wehrmacht eingezogen, womit derartige Aktionen ein Ende fanden. Im August 1940 gründete der Student Paul Flach mit einem Hollabrunner Kaplan den „Jungen Orden“, der von einer österreichpatriotischen Einstellung und dem Eintreten für den katholischen Glauben geprägt war. Inhaltlich betätigte sich der „Junge Orden“, der die Führung der katholischen Mittelschuljugend in Innsbruck übernahm, in der Schulungsarbeit im Weltanschauungskampf und gab auch Rundbriefe an Soldaten heraus.182
Bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme der Nazis in Tirol bildete sich eine Gruppe „Freiheit Österreich“, die rasch an die 50 Menschen umfaßte, darunter Karl Niederwanger, Rudolf Ottlyk, Hubert Mascher und Heinz Mayer. Dieser konservativen Gruppe schlossen sich mangels sonstiger Betätigungsmöglichkeiten auch einige Sozialisten an. Die Gruppe war legitimistisch orientiert und wollte zur gegebenen Zeit einen bewaffneten Kampf führen. Ihr schwebte unter Führung Otto Habsburgs eine Neuerrichtung Mitteleuropas von Österreich aus vor. Mit einer Restauration der Habsburgermonarchie sollte auch ein freies, unabhängiges Österreich wiedererstehen. Nach der Herausbildung einiger Zellen, diversen Flugblätter- und Zettelaktionen sowie dem Anlegen eines Waffendepots wurde „Freiheit Österreich“ im Oktober 1938 aufgerieben, jedoch im März 1939 als Kampffront „Vergißmeinnicht“, so benannt aufgrund des Abzeichens, neu formiert. Die auf eine konstitutionelle Monarchie hinarbeitende Gruppe konnte ein Netz von über 140 Vertrauensleuten über fast ganz Tirol entwickeln. Im November 1939 startete sie in mehreren Städten eine Flugzettelaktion mit Parolen wie „Hinaus mit den Preußen aus Österreich“, „Nieder mit Hitler“ und „An die Front mit allen Nazibonzen“. Bis Ende 1940 war die Organisation praktisch zerschlagen, die nicht Verhafteten schlossen sich dem Widerstand gegen Kriegsende wieder an.183
Nachdem sich die Katholisch-Konservativen vom Anschlußschock erholt hatten und viele Exponenten der katholischen Intelligenz aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern allmählich wieder zurückgekehrt waren, schlossen sich im Sommer 1940 ehemals leitende Beamte des „Ständestaates“, die allesamt von den Nazis 1938 entlassen, gemaßregelt und verfolgt worden waren, zur sogenannten „Mittwochgruppe“ zusammen. Es waren dies vor allem der spätere Landesrat Ing. Anton Hradetzky, der spätere Bürgermeister von Innsbruck Anton Melzer, der spätere Leiter des Landesjugendamtes Robert Skorpil, der spätere Leiter der Innsbrucker Stadtwerke Ing. Wilfried Egger sowie Leo...