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E-Book

Frédéric Chopin

AutorJürgen Lotz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644402041
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Frédéric Chopin (1810-1849), ein Salonkomponist, der seinen Nocturnes melancholisch nachträumt und Regentropfen musikalisch perlen lässt? Mit solchen Klischees wurde lange Zeit die Oberfläche eines Künstlerlebens poliert, das sich jeder Massenwirkung entzog. Chopins Romantik aber, durch Bach und Mozart geläutert, bändigt Emotionalität durch Maß und Form. Als Neuerer, als Schöpfer des modernen Klavierspiels lotet er die Vielfalt pianistischer Ausdrucksmöglichkeiten aus wie kein Komponist zuvor. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Jürgen Lotz, geboren 1944 bei Frankfurt a. M., arbeitete als Historiker und Politologe neunzehn Jahre für ein historisches Magazin, davon dreizehn als Chefredakteur, danach als freier Publizist. Er starb 2009. Er veröffentlichte in überregionalen Zeitungen und im Rundfunk musik- und kulturhistorische Beiträge, u. a. eine elfteilige Funkbiographie über Giacomo Puccini. Buchveröffentlichungen u. a.: «Obrigkeit und Untertan - Anmerkungen zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts» (1985), «Naturwunder und Kulturschätze» (12 Bde., 1997 f.), «Das große biographische Lexikon der Deutschen» (1999), «Faszination Weltgeschichte» (Bände «Menschen und Ideen» sowie «Literatur und Musik», 2004), «Meilensteine» (3 Bde., 2006); für rowohlts monographien die Bände «Frédéric Chopin» (1995) und «Victoria» (2000).

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Leseprobe

«…mit einem Wort – Polen»


Als im Jahre 1788, am Vorabend der Französischen Revolution, der siebzehnjährige Lothringer Nicolas Chopin im fernen Polen sein Glück zu machen hoffte, kam er in ein Land, das zwischen die Mühlsteine der europäischen Machtpolitik geraten war. Als im Jahre 1848 Frédéric Chopin, der Sohn jenes Nicolas, in Paris den Beginn einer europaweiten Revolution erlebte, hoffte er, der Funke werde auch auf Polen überspringen. Vier Teilungen hatten den Staat zu einem geographischen Begriff verkümmern lassen. Beschwörend schrieb er: … aber am Ende von alledem steht ein herrliches, großes Polen – mit einem Wort – Polen. Also müssen wir trotz unserer Ungeduld warten, bis sich die Karten gut mischen … Die Karten mischten sich nicht gut. Erst mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs sollte Polens staatliche Wiedergeburt, der Traum von Generationen, Wirklichkeit werden. Jene 61 Jahre aber – von 1788, als sich Nicolas Chopin in Warschau niederließ, bis 1849, als sein Sohn Frédéric in Paris starb – dokumentieren eine Familiengeschichte, die mit der Geschichte Polens aufs engste verknüpft ist.

Innenpolitische Lähmung, kombiniert mit äußerer Bedrohung – das ist die klassische Konstellation für den Niedergang eines Staates. In Polen lässt sich der Beginn dieses Niedergangs mit der Einführung des Wahlkönigtums im Jahre 1572 recht präzise bestimmen. Durch den Verlust einer monarchischen Zentralgewalt wurde das Land zu einem Spielball rivalisierender Adelscliquen, deren Politik allein auf die Verteidigung egoistischer Sonderinteressen ausgerichtet war. Indem die Aristokratie den polnischen Staat ruinierte, lieferte sie ihn der Begehrlichkeit der Großmächte aus, die nur darauf lauerten, diese Schwäche zum eigenen Vorteil zu nutzen – zunächst Schweden, dann Russland, Österreich und Preußen. Im achtzehnten Jahrhundert war der politische Verfall so weit fortgeschritten, daß alle Reformversuche zum Scheitern verurteilt waren. Polen wurde für seine Nachbarn zum Joker hegemonialer Machtpolitik. Als schließlich ein Bürgerkrieg ausbrach, machten die Regierungen in St. Petersburg, Wien und Berlin dieser zweihundertjährigen Katastrophenpolitik auf ihre Weise ein Ende. 1772 zerschlugen sie mit der ersten Teilung Polens den Gordischen Knoten. Damit setzte eine Entwicklung ein, die geradewegs in den Untergang führte. Jeder Versuch, sich der Fesseln der Nachbarn zu entledigen, schnürte diese Fesseln enger. David focht gegen Goliath, vergeblich auf das Wunder eines biblischen Ausgangs hoffend. 1793 die zweite Teilung und 1795 die dritte, mit der Polen als Staat ausgelöscht wurde. Nach dem «Zwischenspiel» eines Herzogtums Warschau – einer Konstruktion Kaiser Napoleons aus preußischen und österreichischen Territorialbeständen – bastelte der Wiener Kongress 1815 ein Gebilde, das nur dem Namen nach noch an den einstigen Staat erinnerte: Kongresspolen. Posen und Thorn wurden aus dem Herzogtum Warschau gelöst und Preußen zugeschlagen, Krakau zur «Freien Stadt» erklärt, während die Restbestände des Herzogtums in einem «Königreich Polen» aufgingen, das mit Russland in Personalunion verbunden wurde. Fortan firmierte der Zar auch als polnischer König, doch an den Staat selbst erinnerte nur noch die Geschichte. Die vierte Teilung war vollendet.

Polens geistige Elite ging in die Emigration, nach Berlin, London, vor allem nach Paris. Die Verbindung zur Heimat riss jedoch nie ab, und die Impulse, die von dieser Elite ausgingen, prägten das Bewusstsein junger Feuerköpfe, die sich mit dem Status quo der Wiener Beschlüsse nicht abfinden wollten. Als 1830 in Paris die Juli-Revolution ausbrach, sprangen die Funken auch auf das Pulverfass Polen über. Doch wie schon so oft waren die Führer nicht in der Lage, im Namen eines gemeinsamen Ziels die Kräfte zu konzentrieren. Rivalitäten um die militärische Befehlsgewalt und politische Leitung schwächten Kampfkraft und Durchsetzungsvermögen, und die Apathie der Bauern und der städtischen Unterschicht verhinderte die notwendige Massenbewegung. Der Patriotismus blieb eine Angelegenheit der Ober- und Mittelschicht und die staatliche Wiedergeburt ein Traum.

Frédéric Chopin aber, der gerade begonnen hatte, sein Künstlertum in Wien zu beweisen, stöhnte: Ich verfluche den Augenblick meiner Abreise … In dieser Situation den gesellschaftlichen Verpflichtungen des Wiener Kulturlebens nachkommen zu müssen, war eine Last, die er kaum ertrug: Alle die Diners, Abende, Konzerte, Bälle, die mir zum Halse heraushängen, langweilen mich: so wehmütig, dumpf, düster ist es mir ums Herz. Die Auseinandersetzungen mit Tytus Woyciechowski, seinem Jugendfreund, der ihn nach Wien begleitet hatte, müssen stürmisch gewesen sein. Denn Tytus, ein überzeugter Patriot, eilte in die Heimat zurück, um sich den Aufständischen anzuschließen. Chopin, nicht weniger patriotisch gesinnt, zögerte, versuchte mit der Eilpost dem Freund nachzureisen, verfehlte ihn und kehrte entmutigt nach Wien zurück. Übermächtig war das Vorbild des Vaters, der sich 1794 als polnischer Nationalgardist dem Feind entgegengestellt hatte, und ohnmächtig war die Reaktion des Sohnes in ähnlicher Situation. Seine schwächliche Konstitution war nicht zum Kampf gerüstet, verwies ihn in eine Zuschauerrolle, die schmerzte.

Ein weiterer Versuch im Jahre 1846, sich der Fremdherrschaft zu entledigen, scheiterte, da dilettantisch geplant, bereits im Ansatz. Desto größere Hoffnungen setzten die polnischen Emigranten auf die revolutionären Entwicklungen, die 1848 Europa in Atem hielten. Auch Chopin spekulierte: Das alles […] riecht nach Krieg, aber wo losgeschlagen wird, weiß man nicht. Wenn es aber beginnt, dann wird ganz Deutschland davon erfaßt werden. Die Italiener haben schon angefangen. Mailand hat die Österreicher vertrieben, aber sie sitzen noch in den Provinzen und werden kämpfen. Sicherlich wird Frankreich helfen, denn es muß einen gewissen Pöbel hier herausdrängen, um Ordnung zu schaffen … Der Moskowit wird sicherlich im eigenen Land in Schwierigkeiten geraten, sobald man dem Preußen etwas auf den Pelz rückt. Doch die Spekulation ging nicht auf. Alle Anstrengungen, die Achtundvierziger-Revolution in Europa für die polnische Freiheitsbewegung zu nutzen, wurden mit dem Sieg der Reaktion Makulatur. So musste Chopin, schon vom Tod gezeichnet, noch einmal die Ohnmacht seines Volkes erleben, die auch seine Ohnmacht war. Die Niederlage von 1863 blieb ihm erspart.

Die politische Odyssee, der viele polnische Bürger ausgeliefert waren, lässt sich auch am Lebensweg Frédéric Chopins ablesen. Als er 1810 geboren wurde, war er Untertan des Herzogs von Warschau, des Wettiners Friedrich August, der diese Würde durch Napoleons Gnade empfangen hatte, das Land aber nur zur «linken Hand» regierte, da ihn die erst jüngst erworbene Königswürde seines Stammlandes Sachsen bestrahlte. Kindheit und Jugend verbrachte Frédéric als Untertan der Romanow-Zaren Alexander I. und Nikolaus I. Seine Mannesjahre in Paris standen unter dem Regime des französischen Bürgerkönigtums, das sich als konstitutioneller Gegenentwurf zum Fürstenabsolutismus der Bourbonen verstand. Und als die Revolution diesen Bürgerkönig Louis Philippe 1848 ins britische Exil zwang, erlebte Chopin noch die Anfänge der Zweiten Republik.

Juristisch gesehen, besaß der Komponist zwei Staatsbürgerschaften. Nach dem Code civil war er durch den Vater automatisch Franzose, gleichzeitig als Bürger des Herzogtums Warschau Pole. Durch Kumulation beider Rechtstitel blieb dieser Status zeitlebens wirksam. Insofern war Chopin in Frankreich kein Emigrant wie viele seiner Freunde – auch wenn er sich selbst stets mit der Emigration identifizierte, denn seine persönliche Präferenz war unzweideutig. Als Bürger und Patriot war und blieb er Pole, der am tragischen Schicksal seines Volkes leidenschaftlich Anteil nahm. Als er 1831, auf dem Wege nach Paris, in den depressiven Tagen von Stuttgart, von der russischen Besetzung Warschaus hörte, schrieb er verzweifelt: Gott, mein Gott, schicke ein Erdbeben, daß es die Menschen dieses Jahrhunderts verschlinge! Und die furchtbarsten Qualen mögen die Franzosen heimsuchen, die uns nicht zu Hilfe gekommen sind! Doch solche Zeugnisse sind spärlich, da sich Chopin selten emotionale Eruptionen gestattete. Woran er litt, was ihn bedrängte oder erfreute, das formulierte er selten auf dem Schreibpapier, immer aber auf dem Notenpapier. Wenn er sich zu seinem polnischen Patriotismus bekannte, dann ging er ans Klavier. Du weißt, wie sehr ich mich bemühte, so in einem Brief an den Jugendfreund Tytus, unsere nationale Musik zu erfühlen, und zum Teil ist es mir auch gelungen. Nicht nur zum Teil, denn seine Fähigkeit zum Mit-Leiden fand hier ihren sublimsten Ausdruck.

Damit aber erübrigt sich die alte Streitfrage nach der nationalen Zugehörigkeit des Komponisten – eine Frage, die in nationalistischen Hoch-Zeiten für jedes Eiferertum gut war. Chopin selbst hat die Antwort gegeben: ich bin doch ein echter blinder Masowier, so das Bekenntnis – was ihn nicht hinderte, sich gegen Ende des Lebens dankbar der Franzosen zu erinnern, an denen ich wie an Landsleuten hänge.

Landsleute waren sie ja in der Tat – zumindest juristisch. Seit Jahrhunderten waren die Chopins in den Vogesendörfern Lothringens ansässig....

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