Kant zur Einführung1
1.Klassischer Liberalismus unter vernunftethischen Vorbehalten
Klassischer Liberalismus unter vernunftethischen Vorbehalten: Das ist – auf einen einfachen Nenner gebracht – die Position Immanuel Kants.
Für Kant ist der Mensch Zweck an sich, ausgestattet mit dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung und geleitet von der Vernunft. Mit ihrer Hilfe kann der Mensch über seine natürlichen Neigungen hinaus seinen Willen autonom bestimmen. Damit dies gelingen kann, darf der Wille des Menschen nicht selbst von der Natur und den Neigungen des Menschen abhängen. Kant trägt dieser Bedingung Rechnung, indem er die Existenz der Willensfreiheit als denknotwendig voraussetzt. Er weiß um die Schwierigkeiten seiner Prämisse: «Freiheit [ist] kein Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht sein.» (6, S. 91 GMS) Freiheit wird nur angenommen. «Sie gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen[.]» (Ebenda)
Wer aber frei ist, seinen Willen mithilfe der Vernunft festzulegen, kommt hinsichtlich seiner Maximen nicht zu beliebigen Willensentschlüssen, so Kant. Manches mag man zwar gelegentlich als Handlung wollen, aber nicht als allgemeines Gesetz. Kants Paradebeispiel ist die Lüge. Er nimmt an, dass «ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse.» (6, S. 29 f. GMS)
Der Probierstein für die Frage, ob eine Maxime zum allgemeinen Gesetz tauge, ist für Kant die Widerspruchsfreiheit. Kann ich mir die Maxime als allgemeines Gesetz denken, und kann ich sie als solche wollen, ohne im Widerspruch zu enden? Um es mit Kant zu sagen: «Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: […] Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde.» (6, S. 54 f. GMS)
Der ebenso berühmte wie viel diskutierte kategorische Imperativ Kants («Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde») ist in seiner Grundform (als auch in den anderen Formen) so gefasst, dass er das formale Prinzip, Maximen auf ihre Widerspruchsfreiheit zu überprüfen, bevor man sie als allgemeines Gesetz will, widerspiegelt.
Gleichwohl hat der kategorische Imperativ immer wieder Anlass zu Fragen und Missverständnissen geboten. So weist Hayek darauf hin, dass der kategorische Imperativ in der Form «Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest» ein problemfreies Freiheitsverständnis implizieren könne. Die Voraussetzung dazu sei, dass der kategorische Imperativ bedeute, «daß kein Mensch dazu veranlaßt werden sollte, irgend etwas zu tun, was nur den Zwecken anderer dient». Auf diese Weise werde letztlich nichts anderes gesagt, als «dass Zwang vermieden werden soll. Wenn aber der Grundsatz dahin gedeutet wird, daß wir in Zusammenarbeit mit anderen Menschen nicht nur von unseren eigenen, sondern auch von ihren Zwecken geleitet werden sollten, geraten wir bald in Konflikt mit ihrer Freiheit, wenn wir mit ihren Zielen nicht übereinstimmen.»2
Wie auch immer, die Widerspruchsfreiheit ist mehr als nur ein Probierstein für Maximen. Sie ist eine Art Passepartout für einen leichteren Zugang zu Kants Philosophie. Wie oben gezeigt, gewährt sie einen direkten Zugang zu Kants Pflichtethik. Sie bietet aber auch einen Einstieg in Kants politische Philosophie.
In beiden Fällen stellt sich dem Leser eine einfache Frage: Kann mein Leben widerspruchsfrei gelingen, wenn ich und andere immer nach der auf dem Prüfstand stehenden Maxime handeln, die allgemeines Gesetz werden soll? Fällt die Antwort negativ aus, dann kann man die Maxime fallen lassen. Nur denjenigen Grundsätzen ist zu folgen, die als allgemeines Gesetz einen konstitutiven Beitrag für ein gelungenes Privat- und Gesellschaftsleben leisten.
Laut Kant hat der Mensch Pflichten gegen sich selbst und andere. Sie mögen mit unseren Neigungen einhergehen oder über Kreuz liegen: Das Motiv für ihre Befolgung sollte allemal in der Vernunft liegen. Erst dann haben unsere Handlungen moralischen Gehalt. Eine Gesellschaft mit Menschen, die ihr eigenes Leben nicht erhalten, nicht nach Glückseligkeit ausrichten, führt laut Kant ebenso zu Widersprüchen wie eine Welt, in der wir dem Schicksal anderer nur mit Gleichgültigkeit begegnen. «Wohltätig, d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht. Denn jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, anderen wiederum in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnisgesetz machte: so würde ihm, wenn er selbst in Not ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde[.]» (7, S. 589 f. MS)
Wohltätigkeit ist für Kant also Pflicht, nicht von der Obrigkeit verordnet (obwohl sie das obendrein sein mag), sondern durch die Vernunft als konstitutives Element einer gelungenen Gesellschaft erkannt.
Wie viel Wohltätigkeit zu erweisen ist, wo Not anfängt und wo Not aufhört: All das ist nach Kants Idee der Pflicht gegen andere nicht zu beantworten. Und wie die Antwort ausfällt, wenn man sie dem Gesetzgeber überlässt, lässt sich ebenfalls nicht sagen. Denn für den Gesetzgeber hat Kant nur einen Rat parat: «Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte.» (9, S. 58 Aufklärung)
Wie dem auch sei, wenn es um Gesellschaftsordnung und Gesetzgebung im Allgemeinen geht, so erweist sich Kant als überzeugter Anhänger des klassischen Liberalismus. Kant glaubt, dass der Mensch eine Veranlagung zur Vergesellschaftung hat. (9, S. 37 f. Idee) Mehr noch: «Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren[.]» (10, S. 678 Anthropologie) Als Ideal schwebt Kant eine republikanische Verfassung vor, die «erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); und drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger)» gestiftet werden soll. (9, S. 204 f. ZeF) Auch hier erfüllt der Probierstein der Widerspruchsfreiheit seine Aufgabe: Eine Gesellschaft freier Menschen, die gleichermaßen allein der gemeinsamen Gesetzgebung unterliegen, führt zu keinem inneren Widerspruch. Sie kann gedacht und gewollt werden.
Dass die Errichtung einer freien Gesellschaft ein bedeutendes Unterfangen würde, ist Kant klar. «[S]o muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein, weil die Natur nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann.» (9, S. 39 Idee)
Kant greift hier eine Idee David Humes auf, begründet sie aber auf eigene Weise. Wie Hume glaubt er, dass der Mensch seine Absichten in der Gesellschaft nur erreichen kann, wenn die Gesellschaft gerecht verfasst ist, d. h., wenn sie die gegenseitige Anerkennung des Mein und Dein festschreibt. «Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach ebendemselben Prinzip verhalten», schreibt Kant. (7, S. 365 MS) Und Hume meint mit Blick auf die für eine gerechte Gesellschaft notwendige Beständigkeit des Güterbesitzes: «Dieses kann aber nicht anders geschehen, als wenn alle Glieder gemeinschaftlich übereinkommen und sich vereinigen dem Besitze solcher äußerlichen Güter Beständigkeit zu gewähren.»3
Für Hume ist die gerechte Gesellschaft eine Konvention, die wegen ihrer durch Erfahrung erkannten Vorteile für jedermann beibehalten wird. «Ich sehe, daß es meinem Vortheile gemäß ist, einen andern ungestört in dem Besitze seiner Güter zu lassen, wenn er...