DIE BAND
„Frei.Wild ist erfolgreich, weil sie die stumme Wut und gestockten Gefühle von Millionen kanalisieren, ihre Wünsche nach Ausbruch und Abtanzen bedienen. Sie schaffen Gemeinschaft wie ein großer Fußballclub, an dessen Riten sie bewusst andocken, sie sind die Borussia Dortmund des Deutschrock.“
Hans Heiss
Jochen „Zegga“ Gargitter
Jochen „Zegga“ Gargitter, geboren am 15. Mai 1973, ist der Oldie der Band. Der Einzige, der schon relativ früh sein Elternhaus verließ. Bereits mit 17 Jahren ging er für ein Jahr zum Arbeiten nach Deutschland. „Und dann bin ich wieder zurück zu Mami.“ Mit 23 ist er dann endgültig ausgezogen – zwei Kilometer weiter.
Zegga war als kleiner Junge viel mit seinen Großeltern unterwegs. „Sie haben im Sommer immer eine Almhütte gepachtet und bewirtschaftet, mit Kühe melken, Käse produzieren, Heu mähen usw. – das war eine Menge Arbeit. Ich war da immer mit dabei und habe ihnen geholfen. Vom Großvater hab ich sehr viel gelernt, vor allem, was das handwerkliche Geschick anbelangt, aber auch viele Lebensweisheiten.“ Der Großvater ist erst 2013 im Alter von 93 Jahren verstorben. Die Großmutter lebt noch und ist mit ihren inzwischen 86 Jahren noch sehr fit. Für Zegga war der Großvater „so was wie der Vaterersatz, hat die Vorbildfunktion übernommen“. Denn Zeggas Vater starb bereits im Februar 1981 mit 33 Jahren bei einem Autounfall. Zegga war damals erst sieben Jahre alt. „Da wächst man natürlich etwas anders auf, es fehlt ein wichtiger Teil im Leben. Wohl auch deshalb habe ich die Zeit mit dem Großvater immer sehr genossen.“
Zegga hat eine zwei Jahre ältere Schwester und eine vier Jahre jüngere. Und dann kam noch der kleine Bruder. Als der Vater starb, war die Mutter hochschwanger. Aber im Haus der Großeltern gab es noch weitere Kinder. Die Großmutter hat immer, damit zusätzliches Geld hereinkommt, tagsüber Kinder zu sich genommen und betreut, behinderte Kinder. „Dann haben wir zusammen gegessen, und ich war den anderen Kindern beim Essen behilflich. Da hat man halt schon in frühem Alter gesehen, wie es so ist im Leben, dass es nicht allen Menschen gut geht, dass nicht alle Menschen gesund sind.“ Offenbar eine prägende Erfahrung für Zegga, die mit dazu beitrug, sein sehr starkes soziales Denken und seine Empathiefähigkeit auszubilden. Ähnlich bei Föhre: Beide sind nicht unbedingt sehr politisch denkende Menschen, aber sie erkennen Unrecht und Ungerechtigkeit und sind in der Lage, sich darüber zu empören.
Zegga hat seine Kindheit dennoch als eine glückliche Zeit in Erinnerung. „Natürlich, mit einem Vater wäre es optimaler, aber es war schon auch so eine glückliche Kindheit. Ohne Vater wird man vielleicht selbständiger.“ Als er sich entscheiden muss, ob er nach den acht Pflichtschuljahren weiter zur Schule gehen oder eine Arbeit suchen soll, entscheidet er sich für eine Ausbildung als Gärtner – den Beruf, den auch schon sein Vater ausübte. „Meine Mutter hat mich in die Oberschule für Landwirtschaft eingeschrieben und mich dann selbst entscheiden lassen, was ich machen möchte. Ich hab mich fürs Arbeiten entschieden, damit ich ihr finanziell unter die Arme greifen konnte und natürlich auch selbst etwas Geld hatte.“ Denn als der Vater ums Leben kam, schien es gerade mit der Familie finanziell aufwärts zu gehen. So hatte man beschlossen, die für die fünfköpfige Familie sehr eng gewordene Wohnung bei Brixen aufzugeben und ein eigenes Haus zu bauen, mit eigenem Garten und viel Platz auch für das bereits erwartete sechste Familienmitglied. Der Rohbau war schon fertig und der Einzugstermin rückte näher, als der Vater plötzlich nicht mehr da war. „Natürlich stand’s da finanziell nicht gut um uns. Und so hab ich mich entschieden, die Arbeit anzunehmen und die Familie zu unterstützen. Beide Schwestern haben ja studiert, und da brauchten wir jeden Cent, den ich dazuverdienen konnte.“ Die Mutter konnte mit vier Kindern zwischen zehn Jahren und wenigen Monaten längere Zeit gar nicht arbeiten gehen und der spätere Job als Sekretariatshilfe in einer Schule brachte finanziell auch nicht sehr viel ein.
Aber Zegga fiel es auch nicht sonderlich schwer, der Schule adieu zu sagen. Ein besonders eifriger Schüler war er ohnehin nie. „Ich wäre ein guter Schüler gewesen, aber ich machte immer nur das, was unbedingt sein musste“, erinnert er sich schmunzelnd. „Es gab Fächer wie Deutsch, Grammatik, Mathe, da hatte ich überhaupt keine Probleme, das waren meine Lieblingsfächer. Hingegen andere Fächer, wie zum Beispiel Geschichte, haben mich überhaupt nicht interessiert. Heute interessiert mich das schon eher, merkwürdigerweise. Aber ich war froh, als ich dann die Schule verlassen und arbeiten gehen konnte.“ Und er bekommt auch sofort einen Ausbildungsplatz in der Gärtnerei, in der sein Vater früher gearbeitet hatte. Seine beiden Schwestern hingegen schlagen einen anderen Weg ein: Sie werden Lehrerinnen. Der Bruder ist heute selbständiger Malermeister.
Zegga schließt seine Ausbildung zum Gärtner mit 17 erfolgreich ab – doch die Gärtnerei braucht keinen weiteren Gesellen. Die Arbeitslosigkeit währt jedoch nicht lange. Durch die Vermittlung seines bisherigen Arbeitgebers bekommt Zegga einen neuen Job im bayerischen Rosenheim. „Und das war für mich natürlich ein super Leben: mit 17 alleine in einer Bude zu leben. Ich hatte ein eigenes kleines Zimmer mit Bad und Küche und konnte da mein eigenes Leben führen, mal ohne die ganzen Pflichten und Regeln von zu Hause. Ich hab auch schnell Anschluss gefunden, Leute kennengelernt, mit denen Partys gefeiert … Das war schon eine coole Zeit.“ – „Eine Zeit, die von neuen Freundschaften, Frauen und Alkohol geprägt ist, ihn jedoch auch reifen und neue Erfahrungen sammeln lässt“, heißt es dazu etwas sybillinisch in der 2011 erschienenen offiziellen Band-Biografie Allein nach vorne (Frei.Wild 2011: 17).
Ganz so pflegeleicht scheint Zegga aber auch schon in den Jahren vor seiner Sturmfreie-Bude-Zeit in Deutschland nicht gewesen zu sein. „Wenn du meine Mutter fragen würdest, würde die sagen, ich war schwierig. Klar, wenn man 14, 15, 16 ist und zu Hause die rauen Worte des Vaters fehlen …“, erinnert er sich an seine (post)pubertären Jahre. „In dem Alter denkst du ja, du bist der Größte und Beste, und willst deinen eigenen Weg gehen und lässt dir von deiner Mutter nichts mehr sagen. Man hat dann seinen Kumpelkreis, fährt mit dem Moped durch die Gegend, baut sich eine Hütte und feiert da drin, kommt drei Tage gar nicht nach Hause …“
Zeggas Kumpels kommen alle aus demselben Ort, man kannte sich eben von der Schule und vom Fußballspielen, entdeckte gemeinsam das andere Geschlecht und viele andere Möglichkeiten, sich die Langeweile zu vertreiben, die die Alten allerdings weniger mochten. „Wir haben besonders gern das gemacht, was wir nicht machen sollten.“
Schon nach einem Jahr kehrt Zegga wieder aus dem deutschen Exil in seine Heimat zurück – und findet jetzt auch dort einen Job als Gärtner in einem Gartencenter. Fast zwanzig Jahre lang sollte er an diesem Arbeitsplatz bleiben. Seit 2010 ist er wie die anderen drei Berufsmusiker.
Zegga ist nicht verheiratet, hat aber seit gut 18 Jahren eine Lebenspartnerin und zwei Kinder: eine fünfjährige Tochter und einen Sohn im Alter von 15 Jahren. Sein Sohn führt Zegga heute vor Augen, wie er selbst früher war. „Er gibt mir jetzt alles zurück, was ein Vater eigentlich nicht will, aber meine Mutter mitmachen musste. Also die nächsten Jahre werden sicher noch interessant“, lacht er. Allerdings versucht er auch nicht, dem mit Verboten Herr zu werden. Während Philipp sich im Interview eher als autoritärer Vater outete, ist Zegga überzeugt – und weiß es wohl auch aus eigener Erfahrung –, dass Verbote sowieso nichts bringen. „Ich versuche, überhaupt nichts zu verbieten. Ich rede viel mit ihnen, probiere viel im offenen Gespräch zu klären. Ich möchte, dass meine Kinder keine Geheimnisse vor mir haben müssen. Wenn mein Sohn die erste Zigarette probieren will, soll er mir das ruhig sagen können. Ich rauch ja auch und hab das früher auch heimlich machen müssen. Es gibt viele Familien, die verbieten den Fernseher, und wenn die Kinder dann bei uns zu Besuch sind, sind sie so fanatisch und geil auf den Fernseher … Wenn ich den anmache, hören und sehen die nichts anderes mehr. Und bei uns läuft der Fernseher eigentlich den ganzen Tag und die Kleinen sind das so gewohnt, dass es für sie uninteressant ist. Die gehen lieber raus, als stundenlang am Fernseher zu sitzen. Aber alles, was du verbietest, wird interessant. Deshalb werde ich meinem Sohn nie sagen: Du darfst keinen Joint rauchen, du darfst keinen Alkohol trinken … Da muss er selbst drauf kommen...