In den letzten Jahren tauchen immer wieder neue Leitbegriffe in der Behindertenhilfe auf, die zu einem Überdenken der vertrauten Handlungs- und Deutungsmuster führen sollen. Mit einer inhaltlichen Präzisierung dieser Begriffe sollen nun in diesem Kapitel sowohl die bestehenden Überschneidungen als auch die jeweils spezifischen Ausprägungen dieser neuen Leitideen verdeutlicht werden.
Zunächst wird im Punkt 3.1 dargestellt, was sich hinter dem bereits vertrauten Leitbegriff »soziale Integration« und hinter den aktuellen Leitbegriffen »Teilhabe« und »Inklusion« verbirgt. Im Folgenden werden dann die Leitbegriffe bzw. Grundprinzipien der Normalisierung und der Selbstbestimmung vorgestellt (3.2). Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit der Beschreibung dreier Konzepte: Empowerment, Assistenz und Community Care.
Der Begriff Integration wird heute sowohl in vielen unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen als auch in der Alltagssprache geradezu auf eine inflationäre Weise benutzt. So werden völlig unterschiedliche Inhalte und Situationen als integrativ bezeichnet, so dass kaum noch jemand weiß, was tatsächlich unter »Integration« zu verstehen ist.[42]
Ursprünglich leitet sich dieser Begriff von den lateinischen Worten »integrare« und »Integratio« ab. „Integratio bedeutet Wiederherstellung, integrare bedeutet wiederherstellen oder erneuern.“[43]
In der Pädagogik werden heute unter dem Begriff der »Integration« Fragen des gemeinsamen Lebens und Lernens von Menschen mit und ohne Behinderungen über alle Lebensbereiche hinweg diskutiert. Ursprünglich beschreibt der Begriff in den deutschsprachigen Ländern den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern. In Deutschland begann die Integrationsdiskussion in den 70er Jahren und sie bezieht sich bis heute vorrangig auf den vorschulischen und schulischen Bereich.[44] Die soziale Integration, die „als Prozess im Zusammenwirken zwischen Individuen und verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen verstanden werden [kann und die, M.L.] auf die Umsetzung der gesellschaftlichen Teilhaberechte für alle Menschen“[45] abzielt, ist dagegen noch weit von einer Realisierung entfernt. Dabei sollte gerade die soziale und die gesellschaftliche Integration die generelle Zielsetzung aller Integrationsbemühungen sein.
Wie bereits angedeutet ist der Begriff Integration heute zu einem sehr abgenutzten Modewort geworden. So gibt es seit einigen Jahren auch eine massive Kritik daran, welche Verwendung dieser Begriff teilweise in Deutschland findet und was alles als Integration wahrgenommen oder dargestellt wird. So herrschen unter dem Deckmantel der Integration oftmals weiterhin Segregation und Diskriminierung.[46] Es wird der Vorwurf erhoben, die Integrationsidee sei hierdurch in eine Sackgasse geraten.[47]
Auf dem Hintergrund dieser Kritik an der praktischen Umsetzung der Integration und an den mangelnden Bemühungen um eine soziale Integration, suchte man nach einer zutreffenderen Beschreibung des gemeinsamen Lebens von Menschen mit und ohne Behinderungen. Im englischen Sprachraum hat sich seit etwa 1990 der Begriff »Inclusion« hierfür durchgesetzt und dieser wird seit einigen Jahren zunehmend auch in der deutschsprachigen Fachliteratur, hier übersetzt als »Inklusion«, verwendet.[48] Seitdem entwickelt sich der Begriff der Inklusion, trotz einer fehlenden genauen Definition zu einem neuen Leitbild einer zukünftigen Integrationsentwicklung und „soll über die teils kritisierte Praxis der Integration hinausführen und als neues umfassendes Konzept etabliert werden.“[49]
Hierzu schreibt Alfred Sander: „Inklusion ist in der deutschen Fachsprache ein sinn-voller Begriff, wenn man darunter optimierte und erweiterte Integration versteht.“[50]
Inklusion bedeutet übersetzt Einschluss oder Einbeziehung. Wie schon erwähnt bedeutet der Integrationsbegriff dem Wort nach eine Wiederherstellung. Integration strebt demnach eine (Wieder-) Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in die bestehende Gesellschaft an. Inklusion dagegen zielt auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und Auffassungen ab. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen soll als selbstverständliche Tatsache und Normalität erkannt werden, damit jedem Menschen die Unterstützung zukommt, die er für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigt.[51]
„Der Inclusionsbegriff thematisiert die Teilhabe an der komplexen und differenzierten Gesellschaft. [...] Während im Wort Integration eher ein ‚Die Mehrheit integriert unter bestimmten Umständen eine besondere Minderheit‘ steckt, läßt Inclusion die Verschiedenheit im Gemeinsamen bestehen [...].“[52]
So beschreibt auch Georg Theunissen, unter Bezugnahme auf Andreas Hinz[53], Inklusion der Idee nach als einen
„Ansatz, der von Lebenswelten [...] ausgeht, in denen alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, willkommen sind und die so ausgestattet sein sollten, dass jeder darin, mit oder ohne Unterstützung, sich zurechtfinden, kommunizieren und interagieren, kurzum sich wohlfühlen kann. [...] Inclusion bedeutet in diesem Sinne uneingeschränkte Zugehörigkeit und ist quasi das Fundament für Partizipation.“[54]
Statt allein eine Reintegration von Menschen mit geistigen Behinderungen zurück in die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen anzustreben setzt sich das Leitbild der Inklusion also zum Ziel, eine Ausgrenzung von Menschen mit geistigen Behinderungen aus ihren Regelstrukturen von vornherein zu verhindern, Ausgrenzungen also gar nicht erst zuzulassen.[55]
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen allerdings neue Konzepte und Strategien entwickelt werden. Von zentraler Bedeutung ist hier vor allem das Community Care Konzept[56] und der mit diesem Konzept verbundene »Kompetenztransfer«: Professionelle Helfer aus der Behindertenhilfe müssen allgemeine gesellschaftliche Institutionen so beraten, also ihre Kompetenz so transferieren, dass diese Institutionen auch Menschen mit geistiger Behinderung entsprechend ihrer Bedürfnisse und ihrer Anliegen angemessen bedienen und beraten können. Dies bedeutet für die Institutionen der Behindertenhilfe, dass sie nicht mehr nur fast ausschließlich die Menschen mit Behinderungen als ihre Kunden betrachten, sondern zunehmend auch die regulären gesellschaftlichen Einrichtungen.[57]
In diesem Sinne definiert auch Ulrich Heimlich Inklusion als
„Interaktionen [...], die zur Bildung von Gemeinschaften im Sinne von Netzwerken zur Unterstützung der selbstbestimmten sozialen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen beitragen.“[58]
Der Begriff Inklusion wird als Synonym für die Bezeichnung »volle gesellschaftliche Teilhabe« verwendet. Unter einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe wird ein uneingeschränktes, gleichberechtigtes, selbstbestimmtes und selbstverständliches Einbezogensein in die Gemeinschaft aller Menschen verbunden mit dem Erleben von Anerkennung und Unterstützung verstanden. Teilhabe ist also erst dann realisiert, wenn eine Gesellschaft nicht mehr ausgrenzt.[59]
Die Realität sieht jedoch bislang ganz anders aus. „Natürlich ist volle gesellschaftliche Teilhabe bzw. Inclusion ‚nur‘ eine Utopie. [...] Aber es ist eine lohnende Utopie, für die zu streiten sich lohnt.“[60]
Hierbei gilt es, das Menschenbild in unseren Köpfen zu verändern und zu erkennen, dass jede Person bereits integraler Bestandteil der gesamten Menschheit ist. Diese Einheit muss durch vielfältige soziale Beziehungen intensiviert und ausgestaltet werden, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Inklusion verwirklicht werden kann. Es muss also all das, was der Begriff impliziert, in der Realität eingefordert werden, so dass tatsächlich eine inklusive Gesellschaft entsteht.[61]
Ohne Zweifel weist der Begriff »Inklusion« deutlicher in die richtige Richtung als der Begriff »Integration«. Jedoch taucht auch in der für diese Arbeit verwendeten relativ aktuellen Literatur meist noch der Begriff Integration auf. Dahinter steht aber in den meisten Fällen ein inklusives Denken. Daher wird hier weiterhin in den meisten Fällen der Begriff Integration verwendet und nur wenn explizit auf den erweiterten Gedanken der Inklusion aufmerksam gemacht...