Einleitung
Es begann mit einer Dose. Mitte der achtziger Jahre, gegen Ende meiner Grundschulzeit, brach in meinem Freundeskreis die Dosensammelwut aus. Nicht wegen des Dosenpfands – der lag damals noch in ferner Zukunft –, sondern einfach um der Dosen willen. So wie andere Leute Aufkleber sammeln, Knöpfe oder Briefmarken. Vielleicht war es wegen der unterschiedlichen Designs der verschiedenen Getränkehersteller. Oder weil man leere Getränkedosen einfach gut ins Regal stapeln konnte. Irgendwann war jedoch, trotz aller Vielfalt, das Angebot der deutschen Supermärkte erschöpft. Und wer aus dem Urlaub mit »neuer Ware« aus fernen Ländern zurückkam, war der Held. Je exotischer die Dose, desto besser.
Für mich gab es aber noch einen anderen Weg, an solche Sammlerstücke heranzukommen. Denn ich wuchs in Wiesbaden in unmittelbarer Nähe des Aukamm-Housings auf, einer Siedlung für US-Soldaten und ihre Familien, von denen damals Tausende im Rhein-Main-Gebiet stationiert waren. Ein little America wie direkt aus einer amerikanischen Vorstadt verpflanzt, und das mitten in der hessischen Landeshauptstadt, inklusive offener Vorgärten ohne Zäune, was allein schon genügte, um mich fundamentale kulturelle Unterschiede zu meiner Heimat und ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum Schutz der Privatsphäre erahnen zu lassen. Es gab dort große Barbecue-Grills und Auffahrten vor den Häusern, auf denen beeindruckend breitspurige Boliden made in USA standen, die kein deutscher TÜV jemals zugelassen hätte. Natürlich fehlten weder ein Basketball-Platz noch ein Baseball-Feld.
Dieses Viertel war meine »Goldmine«. Denn vor allem am Wochenende füllten sich die Mülleimer entlang dieser Knotenpunkte amerikanischer Zivilisation mit den fremdartigsten, coolsten Dosen: Mountain Dew, Dr. Pepper, Coke Classic. So banal es klingt, meine Faszination für die USA muss irgendwann in dieser Zeit mit verbeultem, klebrigem Weißblech begonnen haben.
Aber nicht nur deshalb empfand ich die Ausflüge in die US-Vorstadtidylle gleich nebenan als äußerst aufregend, sondern auch, weil im Herbst skurril ausgehöhlte Kürbisse vor den Türen standen, und das lange bevor Halloween auch bei uns ein Fixpunkt im Kalender wurde. Oder weil Kinder sich dieses seltsame Lederei zuwarfen, es aber dennoch Football nannten. Oder weil in der Adventszeit die blinkenden Festbeleuchtungen an den Häusern allein ausgereicht hätten, um den nahegelegenen Atomreaktor Biblis II rentabel zu halten.
Dass es sich bei den Amerikanern nicht nur um ein kurioses Volk handeln musste, sondern auch um ein irgendwie einflussreiches, hatte ich schon früh mitbekommen. Eine meiner ersten Fernseherfahrungen, an die ich mich erinnern kann, hat mit den USA zu tun. Ich erlebte, wie meine Mutter 1980 gebannt in den Nachrichten den Wahlerfolg Ronald Reagans über Jimmy Carter verfolgte und dabei versuchte, mich auf die Relevanz dieses Ereignisses aufmerksam zu machen – was bei einem Sechsjährigen natürlich komplett ins Leere lief. Aber ich weiß noch, dass ich zumindest eine Ahnung von der Bedeutung der USA bekam: Was in diesem Land passierte, wer an die Macht kam oder nicht, welche Richtung dort eingeschlagen wurde, das alles hatte offenbar Auswirkungen auf den Rest der Welt. Und nebenbei fand ich es höchst unfair, dass das nette blonde Mädchen namens Amy, das neben ihrem Vater, dem Wahlverlierer, stand, nun vorzeitig aus dem schönen weißen Haus ausziehen musste, nur weil der andere Mann mit dem glänzenden Haar irgendeine Abstimmung gewonnen hatte.
Mittlerweile ist das transatlantische Verhältnis für mich längst ein persönliches geworden – ich bin mit einer Amerikanerin verheiratet. Aber schon davor zog sich die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten von Amerika wie ein roter Faden durch mein berufliches und privates Leben und war zunächst von einer jugendlich naiven Begeisterung für dieses Land geprägt. Dabei hatten es mir anfangs besonders die amerikanischen Sportarten angetan. Ich organisierte mit meinen Kumpels Flag-Football-Spiele im Wiesbadener Kurpark, und zu Hause quengelte ich so lange, bis meine Eltern mir einen Basketballkorb an unsere Garage hängten. Mein Enthusiasmus nährte sich zunächst nur von Beobachtungen aus der Ferne und beruhte deshalb auf vielen falschen Vorstellungen und übertriebenen Erwartungen. Es sollte einige Jahre dauern, bis mein romantisiertes USA-Bild einer etwas realistischeren, nüchterneren Betrachtung wich.
Zunächst aber beeinflusste meine Faszination für den American Way of Life und für diesen enormen Kontinent im fernen Westen auch meine Studienwahl: Amerikanistik im Hauptfach. Die logische Konsequenz folgte 1997, als ich zum Auslandsstudium an die Boston University ging. Ich hatte zwar zuvor schon einige Male Urlaub in den USA gemacht, doch hatten diese Reisen meine Neugier höchstens oberflächlich befriedigt. Nun sollte es also ein ganzer Lebensabschnitt werden. Und tatsächlich ergab sich aus dem einen Austauschjahr ein dreijähriger Aufenthalt, zur Hälfte in Boston, zur Hälfte in der Hauptstadt Washington, D.C., wo ich zuerst als Praktikant, dann als Producer im ARD-Studio arbeitete.
Gerade in dieser Zeit habe ich die USA näher und vielfältiger erlebt und kennengelernt, als ich mir das je hätte vorstellen können. Von Key West bis zur äußersten Aleuten-Insel im Nordpazifik, von Arizonas kargen Wüsten bis an Maines zerklüftete Küste, »from Sea to shining Sea« sammelte ich einzigartige Erlebnisse und beeindruckende Begegnungen – sei es mit waghalsigen Küstenbewohnern, die ihr Haus trotz eines herandonnernden Hurrikans nicht verlassen wollten, mit Wahlkämpfern, die für ihren Kandidaten schon Jahre vor der eigentlichen Abstimmung unerschütterlich trommelten, oder mit einem alten Boxer, der einst Sparringspartner von Ernest Hemingway gewesen war.
Doch als ich nach drei Jahren nach Deutschland zurückkehrte, zog ich Bilanz: Das Abenteuer Amerika hatte seinen Preis gehabt. Meine über Jahre gepflegte Affinität zu den USA hatte einige gehörige Dämpfer bekommen. In manchen Punkten würde ich sogar schlicht von Enttäuschung sprechen. Es ist eben das eine, sich an der spektakulären Natur des Kontinents zu berauschen und die Freundlichkeit der Menschen zu genießen. Und es ist etwas ganz anderes, die Widersprüche, Ungereimtheiten und Mängel der Vereinigten Staaten im Alltag hautnah zu erleben, mitunter auch zu erleiden. Dies beginnt mit der maroden Infrastruktur oder der häufig herrschenden Doppelmoral, und es greift weit tiefer, wenn es um die vielerorts unübersehbare krasse Armut, das absurde Recht auf Waffenbesitz oder den alltäglichen Rassismus geht.
Gleichzeitig setzte sich aber eine weitere Erkenntnis durch. Meine Sicht auf die USA war nun zwar nicht mehr so unhinterfragt schwärmerisch, nachdem, wie in jeder »Beziehung«, der Alltag manche Euphorie, manche Leidenschaft abgeschliffen hatte. Dafür war mein Blick nun klarer, realistischer und ermöglichte mir einen ehrlicheren und damit letztlich tiefergehenden Zugang. So gesehen bewirkte die – zunächst negative – Erfahrung also eine Bereicherung.
Genau an diese Erfahrung habe ich mich wieder sehr bewusst erinnert, als in Deutschland die Empörung über die ausufernde Überwachung durch amerikanische Geheimdienste hochkochte. »Unverschämtheit, wie können die so etwas machen? Wir sind doch Freunde – so etwas tut man unter Freunden nicht!«, lautete der Tenor. Ja, das stimmt. Schließlich sind wir mit kaum einem anderen Partner enger verbündet als mit den USA. Die Frage, auf welcher Grundlage diese von Vertrauen abhängige Partnerschaft nach den Enthüllungen Edward Snowdens steht, ist durchaus berechtigt. Selbstverständlich hat das Ausspionieren von Angela Merkels Mobiltelefon nichts mit dem Antiterrorkampf zu tun und ist schlicht ein Affront. Das Problem ist jedoch, dass wir Deutschen in dieser Freundschaft unsere eigene Erwartungshaltung hegen, die vom amerikanischen Partner so nicht geteilt wird. Unsere Enttäuschung über die USA rührt eben auch daher, dass wir eine hoffnungslos romantische Vorstellung von dieser Partnerschaft haben – beziehungsweise hatten. Man könnte in der Tat von enttäuschter Liebe sprechen.
Ein solches Gefühl fundamentaler Entfremdung ist in den USA nie aufgekommen. Dafür gab es andere Themen, welche die Amerikaner zumindest irritiert haben: die oftmals feindselige Haltung deutscher Verbraucher gegenüber dem transatlantischen Handelsabkommen TTIP oder der dreiste Betrug des deutschen Autobauers Volkswagen anhand gezielt gefälschter Abgaswerte. Oder warum Deutschland mehr als ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Einheit sich immer noch so schwertut mit der militärischen Verteidigung von Freiheit und Souveränität außerhalb der Nato-Grenzen.
In der NSA-Affäre hingegen herrschte in Washington allenfalls die überraschte Einsicht vor, dass der Schaden offensichtlich doch größer war als gedacht. Grundsätzlich sahen (und sehen) die Amerikaner die Angelegenheit viel pragmatischer. Ich bin öfter von Bekannten angesprochen worden, die sich über die Aufregung in Deutschland gewundert haben. »Warum die Empörung? Machen das nicht alle Geheimdienste? Ihr profitiert doch auch von unseren Erkenntnissen. Und nicht zuletzt: Wir verstehen ja, dass ihr mit eurer Gestapo- und Stasi-Vergangenheit beim Thema Überwachung empfindlicher reagiert, aber ihr müsst einsehen: Seit den...