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Wanderjuden
Von Galizien nach Wien
Der Bruch mit der Tradition
Der Bruch mit der Tradition, das Thema, das die großen Theoretiker der Moderne – Hegel, Nietzsche, Marx, Durkheim und Weber – in Atem hielt, stand auch im Mittelpunkt von Freuds Leben und Werk. In seinem Fall kam ihm sogar eine besondere emotionale Bedeutung zu, denn Freuds Familie hatte all die Migrationsbewegungen, die durch diese historischen Umwälzungen ausgelöst wurden, selbst mitgemacht. Im Laufe von drei Generationen wurden aus provinziellen Ostjuden, die in der engen Welt des galizischen Judentums am östlichen Rand des habsburgischen Reiches lebten, säkularisierte Juden, die in einer der weltoffensten Hauptstädte Westeuropas zuhause waren.
Für fromme Juden bedeutete Tradition die ununterbrochene Überlieferung der Thora, und in dieser Tradition wurde Freuds Vater Jacob (1815–1896) erzogen. Jacobs Vater Schlomo wiederum war Rabbiner. Ob er die orthodoxe oder die chassidische Richtung vertrat, lässt sich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. In jedem Fall aber sorgte Schlomo dafür, dass sein Sohn aufs Gründlichste in den heiligen Texten unterwiesen wurde. Wir wissen auch, dass Jacob sich zeitlebens in die Schriften vertiefte. Schlomo selbst, so berichtete seine Enkeltochter, las den Talmud noch als alter Mann in Wien auf Aramäisch.1
Jacob wollte diese Tradition zweifellos an seinen Sohn, Sigmund, weitergeben. Doch sein unorthodoxes – oder post-traditionelles – Vorgehen bezeugt, dass die bis dato ununterbrochene Überlieferungskette bereits gerissen war. Dass sich an seinen Entscheidungen und Verhaltensweisen die inneren Spannungen eines Mannes ablesen lassen, der mit einem Fuß noch in der Welt des traditionellen Judentums und mit dem anderen schon in der säkularen Moderne stand, macht sie für uns unschätzbar aufschlussreich. Jacob erwartete von Sigmund nicht, sich Stunde um Stunde über die Gemara, den Talmud und seine Kommentare zu beugen, wie er selbst es getan hatte. Als Sigmund sieben Jahre alt wurde, begann Jacob stattdessen, ihm aus der Familienbibel vorzulesen, und schon bald las der frühreife kleine Junge die biblischen Geschichten allein, ohne Hilfe. Bezeichnenderweise handelte es sich um die Israelitische Bibel, die Ludwig Philippson, ein berühmter Gelehrter, gleichermaßen bewandert in religiösen wie weltlichen Fragen, zusammen mit seinem Bruder Phoebus veröffentlicht hatte. Aus der Wahl der Philippson-Bibel spricht eine veränderte Einstellung zur Traditionskette. Sie sagt uns vieles über Jacobs Beziehung zu den Bräuchen und Lehren seiner Vorväter.
Wie üblich enthielt auch die Freud’sche Familienbibel ein Gedenkblatt, auf dem die wichtigen Ereignisse der Familiengeschichte notiert wurden. Von Jacob stammen lediglich vier Einträge. Der erste betrifft den Erwerb der Philippson-Bibel am 1. November 1848, in einem für ganz Europa wichtigen Jahr also, in dem die Stürme der Revolution – und die reaktionären Gegenwinde – über den Kontinent tosten und das Leben vieler jüdischer Gemeinden auf den Kopf stellten. Damals lebte Jacob noch in seiner galizischen Geburtsstadt Tysmenitz, die bis 1772 zu Polen gehört hatte und dann von der Habsburger Monarchie annektiert wurde, zu deren Gebiet sie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zählte. In Galizien im Allgemeinen und in Tysmenitz im Besonderen flossen zahlreiche der rivalisierenden Strömungen, die das jüdische Leben in der Mitte des 19. Jahrhunderts destabilisierten, zusammen. Es war eine »Zeit des Umbruchs, in der […] die Tradition des Glaubens und damit die Organisation der jüdischen Gemeinden in fundamentaler Weise in Frage gestellt wurde«2. Die drei Hauptströmungen des Judentums, das orthodoxe Rabbinertum, der Chassidismus und die Haskala, die jüdische Aufklärung, bekämpfen sich gegenseitig. Diese Konfrontation stellte die althergebrachte Autorität von Grund auf infrage.
Das galizische Judentum war eine durch und durch kommunale Angelegenheit. Die Halacha, das geheiligte jüdische Recht, schaffte Klarheit in sämtlichen Aspekten des Lebens. Die extreme Armut, die in den Schtetln herrschte, und die generell unsichere Existenz machten gegenseitige Hilfe und Solidarität schon im Interesse des physischen Überlebens unabdingbar. Es war, so die Psychoanalytikerin Ana-Maria Rizzuto, keineswegs selbstverständlich, am Leben zu bleiben. In Galizien »starben trotz aller Anstrengungen, die die Gemeinden unternahmen, viele Juden den Hungertod«3. Vor diesem Hintergrund war der Zusammenhalt des Kollektivs unverzichtbar, setzte das Individuum aber gleichzeitig unter massiven Druck, sich an die Gebote und Regeln, die so gut wie jeden Moment des Tages bestimmten, anzupassen. Jede Herausforderung des Zusammenhalts dieser in sich geschlossenen Gemeinschaft und ihres »althergebrachten Systems theologischen und ritualisierten Denkens und Handelns« bedrohte nicht nur die kollektive Identität der Gruppe, sondern auch die Existenz jedes einzelnen Mitglieds.4
Die erste Verunsicherung ging vom Chassidismus aus, einer Bewegung, die die Autorität der orthodoxen Rabbiner infrage stellte, indem sie deren Formalismus, ihre Schulgelehrsamkeit und ihren Legalismus kritisierte und als Alternative eine einfache, tröstliche Lehre vertrat, die das Gefühl, den Spiritualismus und die Alltagserfahrung betonte. Freud nahm an, dass sein Vater ursprünglich ein Chassidim gewesen war. Wie auch immer Jacobs frühe Kontakte zum Chassidismus ausgesehen haben mögen – die entscheidende Rolle in seinem Leben spielte eine andere Bewegung, nämlich die Haskala, die jüdische Aufklärung, die sich die deutsche Aufklärung zum Vorbild nahm und die physische und spirituelle Entghettoisierung der Juden, die mit den Napoleonischen Reformen (1896–1808) begonnen hatte, voranzutreiben suchte. Die Maskilim, die Anhänger der Haskala, wollten die jüdische Tradition transformieren und ihren Mitgliedern eine umfassendere Teilnahme an der aufgeschlossenen Welt der Moderne ermöglichen. Sie waren säkular und fortschrittlich, doch weder antireligiös noch antiklerikal, anders formuliert: Sie waren keine Jiddisch sprechenden »philosophes«, sondern verstanden sich lediglich als Bekämpfer der in ihren Augen atavistischen Elemente des traditionellen Judentums und traten dafür ein, die bürgerlichen Werte der Gastkultur sowie deren Bräuche und Kleidungsstil zu übernehmen.
Die Chassidim wiederum standen diesen radikalen, säkularen Strebungen absolut feindlich gegenüber. Umgekehrt wurden ihr Aberglauben und ihre magischen Bräuche von den Maskilim nicht weniger argwöhnisch betrachtet. Ironischerweise aber hatten die Chassidim, indem sie es wagten, Kritik an den Rabbinern zu üben, bewiesen, dass die traditionelle Autorität nicht absolut und unantastbar war; ohne es zu beabsichtigen, hatten sie der Kritik an der Orthodoxie im Allgemeinen und der rationalistischen Kritik der Haskala im Besonderen das Tor geöffnet.
Die Maskilim durchschritten dieses Tor und schickten sich an, ihren Glauben an Gott, das Judentum und die Thora mit den Fortschritten der Aufklärung in Einklang zu bringen – das heißt, »den Gehalt der Schriften und des Talmud im Lichte der Vision und der Weisheit der Aufklärung erglänzen zu lassen«5. Folgerichtig boten sie dem rabbinischen Verbot des weltlichen Lernens die Stirn und traten für die Unterweisung in den europäischen Naturwissenschaften, in der Philosophie, Sprache und Literatur als Bestandteil jüdischer Ausbildung ein. Doch auch die Anhänger der Haskala, die den kleingeistigen Talmudismus der orthodoxen Studien ablehnten, hielten an der Bibel als Herzstück des Bildungsprozesses fest. Das Studium der Bibel, die sie als einen humanistischen Text und Teil der Weltliteratur rühmten – ein der Odyssee und der Göttlichen Komödie ebenbürtiges Werk –, bot die Möglichkeit, das vielleicht kostbarste Gut der deutschen Aufklärung, nämlich die Bildung [deutsch im Original], zu fördern. Genau dafür stand die Philippson-Bibel ein, die der berühmte französische Psychoanalytiker Didier Anzieu als ein Produkt der Haskala par excellence bezeichnete.6
Weil sie die herkömmliche, zentrale Bedeutung der Rituale und Zeremonien ablehnten, richteten die Maskilim neben ihrer besonderen...