3.Wie geht es mir?
Bevor wir mit anderen eine Beziehung eingehen können, ist es unerlässlich, ein gutes Verhältnis zu uns selbst zu haben. Dies ist die Grundlage jeder Beziehung zu anderen. Man kann so weit gehen, zu sagen: Wie stark oder schwach unsere Beziehung zu anderen ist, hängt davon ab, welches Verhältnis wir zu uns selbst haben.
Alleinsein ist im Gegensatz zu Einsamkeit ein schöner Zustand, vor allem dann, wenn er frei gewählt und in wirkliche Stille, Frieden und natürliche Schönheit eingebettet ist. Jeder Mensch ist im tiefsten Inneren ein Einzelgänger, und dieses gesunde Einzeln-Sein verlangt nach dauernder Erneuerung und Pflege. Selbst wenn er in eine Familie eingebettet, von Liebe umgeben und getragen ist, braucht jeder Mensch Zeiten, in denen er »zu sich« kommt: Zeiten des Alleinseins, selbst wenn sich diese wie Einsamkeit anfühlen. Es gibt ein fundamentales Bedürfnis des Menschen, über Zeit zur Besinnung verfügen zu können. Zeit zum Gebet, zum Nachdenken, zum Verarbeiten von Erlebnissen, zum Schreiben und zur Erneuerung unserer Entschlüsse. Auch wenn man liest, zum eigenen Vergnügen, muss man sich von anderen Menschen zurückziehen. Man muss uns dann allein und in Ruhe lassen, unser Bedürfnis nach Alleinsein respektieren. Nur auf diesem Weg können wir unsere seelischen Kräfte erneuern, aus denen heraus wir der Welt etwas zu geben haben.
Es muss für uns möglich werden, die Stille zu hören, und das ist nicht einfach, wenn mechanische Geräusche unsere Umgebung durchdringen – und all unsere energiesparenden Geräte sind letzten Endes immer noch laut! Wir haben uns an die Annehmlichkeiten elektrischer Geräte gewöhnt, die uns viel Mühe und Arbeit ersparen, doch manchmal denken wir nicht an den Preis, den wir dafür zahlen. Sie zehren an unseren Nerven, und sie haben die seltsame Eigenschaft, sich gerade dann aufzudrängen, wenn wir uns nach Stille sehnen. Man denke nur an den Unterschied, den das Geräusch einer Sichel oder Gartenschere im Vergleich zu einem Motorrasenmäher oder einer elektrischen Motorsense verursacht!
Aber selbst wenn Alleinsein und Ruhe gewährleistet sind, ist es oft unmöglich, vollkommen still zu sein. Denn es bleibt der Aufruhr der eigenen Gefühle. Die Sorgen und Ängste, die Sehnsüchte und Enttäuschungen, die Verletzungen durch andere, die Ablehnung und das Gefühl des Versagens: Jedes einzelne dieser Elemente trägt bei zum Missklang in der Seele. Wenn wir unseren täglichen Verrichtungen nachgehen, beachten wir dies vielleicht nicht – es gibt ja jederzeit mehr als genug Möglichkeiten zur Ablenkung. Und wenn diese in den Hintergrund treten, sieht das seelische Stimmengewirr seine Chance gekommen. Wir müssen all das zur Ruhe bringen, bevor das Alleinsein unsere Energien heilen und erneuern kann.
Es ist nicht leicht, Frieden und innere Ruhe in unserer Seele herzustellen. Eine Möglichkeit besteht darin, uns die Fragen, Erinnerungen oder Sorgen, die uns quälen, bewusst zu machen: Indem wir über sie nachdenken, entreißen wir sie den Klauen der Gefühle. Das klare Denken kann durch das Gespräch mit jemandem, der gut zuhört, angeregt werden. Oder wir schreiben auf, was die Gefühle in Aufruhr gebracht hat – egal, wie wir uns äußern: Wir werden kreativ. Wir können uns beispielsweise auch einer Kunstform zuwenden, die den Schöpfer in uns direkt anspricht. Auf diese Weise erheben wir die Angelegenheit in die göttliche Sphäre, von der wir alle umgeben sind. Unser Leben wird bereichert, wenn wir diese andere Sphäre erreichen, die uns dabei helfen kann, an unseren Gefühlen zu arbeiten und sie zu beruhigen. Keiner von uns ist wirklich allein, denn der spirituelle Teil unserer Existenz begleitet uns überall, und wir können ihn jederzeit hereinrufen. Der Zugang findet in den Gedanken statt, sie können uns führen, wenn wir uns ihnen in schweigender Offenheit zuwenden.
Diese Tätigkeit kann uns zu unserer eigenen schöpferischen Quelle zurückführen, dem Ort in unserer Seele, an dem wir uns mit der ewigen Weisheit und der kreativen Energie der geistigen Welt vereinigen. Damit sich dieser Zugang erschließt, müssen wir alle Vorurteile und vorgefassten Meinungen wegräumen, alle festgelegten Haltungen, die unsere Offenheit einschränken. Sie sind Hindernisse, die einem freien Denken im Wege stehen. So beängstigend es ist, Standpunkte aufzugeben, die unsere Auffassung von der Welt untermauern: Wenn wir es schaffen, sie loszulassen, begeben wir uns aus einem stehenden Gewässer in einen lebendigen Strom. Wenn wir diesen Mut nicht aufbringen, können wir zwar so etwas wie Sicherheit empfinden, indem wir eine Position beibehalten, aber man muss sich nur einmal die Erfrischung vorstellen, die in uns einzieht, wenn wir für neue Gedanken und Inspirationen offen sind, die aus dem Fundus unserer eigenen inneren Weisheit entspringen!
Es bedeutet nichts anderes, als den Dichter in uns zu entdecken. Wir dürfen Menschen werden, die alles, das auf sie zukommt, als Ausdruck einer tieferen Weisheit, als Botschaft, als Heilung und als inneres Bild erkennen, an dem wir uns orientieren können. Solche Menschen halten ihre Vorstellungskraft lebendig und wirken heilend auf ihre Umgebung: Aus ihrer reinen Denkkraft heraus können sie ein Gefühl für das Gute entwickeln.
Wer die Regungen moralischer Phantasie in seinem persönlichen, inneren Leben erfährt, wird den Wert des Alleinseins schätzen können. Wenn wir für unsere innere Stimme, die in unserer Seele leise, aber klar zu uns spricht, ein Gehör entwickeln, eine Stimme, die von emotionalem Stress, Schuldgefühlen, Angst oder Scham frei ist, dann verbinden wir uns mit unserem »besseren Teil«, unserem höheren Selbst, unserem ewigen Anteil. Dies hilft uns, das »Durch-Klingen«, das per-sonare, von Weisheit, Heilungskräften und der richtigen Motivation in die irdische, bewusste Seite unseres Wesens zuzulassen. Dadurch werden wir zu vollkommeneren Menschen, die frei sind:
•von der Abhängigkeit von anderen Menschen, Institutionen oder festen Standpunkten;
•von Co-Abhängigkeit, die aus der unbewussten Übernahme von Mustern stammt und die Tendenz hat, unser Verhalten wie eine Sucht zu beherrschen;
•vom bestimmenden Einfluss durch unsere Erziehung, unsere Rasse, unsere Nationalität, durch den Lebensstil unserer Familie, durch politische Propaganda, einschränkende Religion, Gewohnheiten, die aus Unsicherheit heraus entstanden sind, usw.;
•von Schamgefühlen (etwa von Momenten, in denen ein schmerzliches Erlebnis, das wir verdeckt halten wollten, aus unseren Tiefen aufsteigt, aufgestört und ans Tageslicht gezogen wird; etwas, aus dem heraus wir uns selber ablehnen möchten);
•von aufgestautem Stress – und dadurch in der Lage, auf die gegenwärtige Situation angemessen zu reagieren;
•so zu leben, wie wir es wollen.
Ein schwaches Selbstbild weist darauf hin, dass sich der Mensch über sein wahres Selbst, über das alltägliche Selbst hinaus, noch nicht bewusst ist. Er ist mit dem unendlich Guten, Schönen und Wahren noch nicht in Berührung gekommen. Wenn er erkennen kann, wer er ist, kann er auf seinem Weg weiterschreiten. Dann kann er glücklich sein.
Es gibt viele Denker, die das Potenzial, das im menschlichen Wesen liegt, sich über das Alltägliche zu erheben, erkannt haben und es mit Qualitäten versehen, die weitgehend in der Seele schlummern: Ein Potenzial, das darauf wartet, erweckt zu werden, um den Menschen zu immer größeren Höhen seines Wesens zu erheben.
Dies wurde u. a. in der Renaissance erkannt, durch Autoren wie Pico della Mirandola (1463–1494), ein Mitglied der Gruppe von Philosophen um Lorenzo de Medici. Pico schrieb, der Mensch sei in der Lage, unter das Verhalten des Tieres herabzufallen, oder das hohe Wesen eines Engels anzustreben.1
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb Rudolf Steiner (1861–1925), jeder Mensch sei dazu befähigt, die Erkenntnis geistiger Realitäten zu erlangen.2
Und der amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908–1970) entwickelte das Konzept der Selbst-Aktualisierung, um auf die Steigerung der menschlichen Fähigkeiten hinzuweisen, mit denen der Mensch sein volles Potenzial entfalten und einsetzen könnte.3
Eine solche Erweiterung kann nur durch Zeiten des Alleinseins herbeigeführt werden. Und nur, wenn wir bereit sind, Einsichten in unser Leben hereinzulassen, auch wenn diese für die bestehenden Gedankenmuster eine Herausforderung sind. Und auch nur dann, wenn wir demütig genug sind, auf das zu hören, was aus der uns umgebenden Welt auf uns zukommt.
1Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Meiner, Hamburg...