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Freundschaft und Fürsorge

Bericht über eine Sozialform im Wandel

AutorJanosch Schobin
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783868546002
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Freundschaft ist im öffentlichen Diskurs um die Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen geworden. Demografischer Wandel, niedrige Geburtenraten, hohe Scheidungsquoten und die Auflösung traditioneller Lebensformen müssen zu der Schlussfolgerung führen, dass Familie und Verwandschaft in Zukunft knappe Güter werden. In dieser gesellschaftlichen Phase des Umbruchs taucht das Bild der fürsorglichen Freundschaft als Hoffnungsträger auf. Wie sieht das neue Freundschaftsideal aus, und hält es stand, wenn es um leibliche Fürsorge, also Krankheit und Sterben, geht? Und können reale Freundinnen und Freunde halten, was das neue Ideal der Freundschaft verspricht?

Janosch Schobin, Studium der Soziologie, Mathematik und Hispanistik an der Universität Kassel; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Leseprobe

Auf dem Weg zur fürsorglichen Freundschaft?


Freundschaft ist im öffentlichen Diskurs um die Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen geworden. Wer das einfache Gedankenexperiment durchspielt, wie sich die Verwandtschaftssysteme einer Gesellschaft verändern, deren totale Fertilitätsrate weit unter der Bevölkerungserhaltungsgrenze und deren Scheidungsquote um die 50% liegt, muss zu dem Schluss kommen, dass Familie und Verwandtschaft in Zukunft knappe Güter werden. Zwangsläufig entstehen in den Stammbäumen jede Menge toter Enden und lichter Äste. Das partnerlose Einzelkind zweier Einzelkinder hat einfach keinen Partner, keine Geschwister, keine Tanten, keine Onkel, keine Cousins und Cousinen. Seine einzigen familialen Bezugspersonen sind Eltern und Großeltern – und hier kommt die Freundschaft ins Spiel. Gedankenexperimentell liegt folgender Ausweg nahe: Menschen, denen Partner und Kinder nicht zur Verfügung stehen, sollten sich auf ihre Freunde besinnen, denn die werden auch bei niedrigen Geburtenraten und instabilen Partnerschaften nicht knapp. Warum sollten also nicht Freunde unsere Nächsten sein, wenn es um unsere Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung geht?

Wer den öffentlichen Diskurs zur Freundschaft in den letzten Jahren verfolgt hat, wird der Aussage zustimmen, dass zumindest an der diskursiven Plausibilität der Alternative Freundschaft gearbeitet worden ist. Das Fernsehen zeigt vermehrt Sendungen, in denen Freunde einander die wichtigsten Bezugspersonen sind. Man vergleiche etwa die Cosby-Show mit Friends oder Sex and the City. Das öffentliche Bild der Freundschaft hat sich verschoben. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Betrachtung der Freundschaftsratgeberliteratur. Der normative Freundschaftsdiskurs im Ratgebergenre hat sich im Zeitraum von 1990 bis 2006 tiefgreifend verändert.1 Ein neues Freundschaftsideal hat sich etabliert. Die feminine Freundschaft ist zur kanonischen Form der Freundschaft aufgestiegen. Heute liegt die Deutungsmacht im Freundschaftsdiskurs bei den Frauen und der Fokus des Freundschaftsdiskurses auf Freundinnen und der Freundschaft zwischen Frauen. Die Autoren (darauf deuten zumindest ihre Pseudonyme und öffentlich einsehbaren Profile hin) sind heute meistens weiblichen Geschlechts, während sie noch Anfang der 1990er fast ausschließlich männlichen Geschlechts waren. Die Geschichten der Ratgeber berichten heute üblicherweise von Frauen in engen und intimen Beziehungen und nicht mehr von Männern, die versuchen, Erfolg in der Welt des Berufs oder öffentlichen Angelegenheiten zu haben. Ein als weiblich deklariertes Freundschaftsideal mit einer wertenden Semantik ist entstanden. Männliche Freundschaften werden offen für schwächer gehalten als ihr weibliches Pendant, und das nicht nur von Frauen: »Beim Mann pflegen sich die Freundschaften in der Regel weniger differenziert und darum harmloser zu entwickeln.«2 Im Kielwasser der Feminisierung fährt dabei die Verfürsorglichung des Freundschaftsideals. Das kann man etwa an den Erklärungsweisen gebotener Handlungen der Selbsthilfebücher erkennen: Noch Anfang der 1990er-Jahre war es üblich, Freundschaftspraktiken aufgrund potenzieller Erfolge in der Arbeitswelt oder des Zuwachses an persönlichem Glück zu empfehlen. Freundschaft war der »Weg zu Erfolg, Glück und Einfluss«3. Dagegen werden Freundschaftsregeln heute vor allem kontextsensitiv und beziehungszentriert – also fürsorgeethisch – und nicht mehr instrumentell und universell – also zweck- oder wertrational – begründet. »Weil wir Freundinnen sind«4, lautet die neue Losung. Ihr zugrunde liegendes Prinzip ist die Sorge um die Andere: » ›Unter Freunden ist das so, […] zur Stelle sein, wenn man gebraucht wird, auch wenn es einen selbst zerreißt‹ «.5 Es geht nicht mehr um Ego und was Ego im Leben erreichen will, sondern um die je besondere Beziehung und wie in dieser für die Andere zu sorgen ist: »Was ich für sie tun kann, ist nur bitterwenig. Aber was ich tun kann, das tue ich eben.«6 Anfang der 1990er-Jahre erzählten die Ratgeber hingegen vor allem moralisierte Lehrgeschichten, in denen meist Männer die Pathologie ihres Verhaltens vorführten: »Zunächst blühte das Geschäft, ebenso wie ihre Freundschaft.«7 Oder sie berichteten von den Erfolgsrezepten wichtiger oder prominenter Männer: »Wie sagte schon der kluge Ben Franklin: […]«8 Den Rest der Geschichten mag sich der Leser denken.

Aber nicht nur der Diskurs der Freundschaftsratgeber zeigt, dass der Begriff der Freundschaft tatsächlich wieder die bedeutsame politische Frage nach der kollektiven Lebensgestaltung berührt. Bestimmte Veränderungen der Sozialgesetzgebung legen den gleichen Schluss nahe. So gibt es etwa innerhalb der neuen Gesetzgebung zum Arbeitslosengeld 2 (SGB II) seit 2005 einen Begriff, der die geltende Ordnung der sozialen Fürsorge in Deutschland gehörig umgekrempelt hat: den der Bedarfsgemeinschaft. Zu ihr gehört nicht nur der Ehepartner und das eigene Kind, sondern auch »eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen«.9

Der rechtliche Terminus technicus, dessen instrumentelles Ziel darin besteht, Ehepaare und eingetragene Partnerschaften nicht gegenüber informellen Partnerschaften zu benachteiligen, greift weiter, als es ursprünglich die Absicht war. Die begriffliche Weichzeichnung von Ehe und Familie hat unvorhergesehene Nebenwirkungen. Bis dato wohlfahrtsstaatlich irrelevante Beziehungsformen sehen sich seit den Hartz-Reformen mit fürsorglichen Ansprüchen konfrontiert. Um in Verdacht zu geraten zu einer Bedarfsgemeinschaft zu gehören, reicht es nämlich laut Gesetzestext aus, mehr als ein Jahr zusammenzuwohnen.10 Leben auch noch Kinder in der gemeinsamen Wohnung, wird es schwer dem Amt zu beweisen, dass es sich nur um eine harmlose Wohngemeinschaft handelt. Es kann daher geschehen, dass man schlicht in einer Haushaltsgemeinschaft zusammenlebt und plötzlich vor dem Staat füreinander verantwortlich ist – sexueller Verkehr oder Verwandtschaft hin oder her. Der deutsche Staat stellt die Mitglieder einer Wohngemeinschaft, oft Freunde oder gute Bekannte, unter den Verdacht, die Nächsten seiner Bedürftigen zu sein. Unter der Hand hat damit das Duo aus kohabitativer Partnerschaft und Familie sein Monopol als Ansprechpartner des Staates in der Frage subsidiärer sozialer Unterstützungsleistungen verloren. Die schwammige Formulierung des SGB II, § 7 vom wechselseitigen Willen zur Verantwortung macht es möglich. Die Semantik der freien Gegenseitigkeit tritt ebenbürtig neben die von Abstammung und Ehe. Zumindest auf der Seite der Pflichten ist damit die Freundschaft implizit zu einer rechtlich ansprechbaren, fürsorglichen Sozialform unter anderen geworden. Der stille Wandel vollzog sich unter der Hand als Nebenergebnis bestimmter begrifflicher Bestimmungen. Wenn staatliche Organe ihre Kategorien verändern, ist das meist kein dummer Zufall. Laurent Thévenot und Luc Boltanski weisen darauf hin, dass solche Erhebungen zu Allgemeinheitsbegriffen mit einer Veränderung der Rechtfertigungsordnung korrespondieren.11 Dem etablierten Dreiklang der ideellen Ordnung der Fürsorge – Partnerschaft, Familie, Wohlfahrtsstaat – ist ein Unterton hinzugetreten: Das Freundschaftsähnliche ist aufgerückt in die Reihe von Begriffen, die im Hinblick auf das Gemeinwohl verwendet werden, weil sich das Eheähnliche mittlerweile zur einen Seite hin zum Freundschaftsähnlichen auflöst.

Die Hoffnungen in die Freundschaft als fürsorgliche Lebensform haben also bereits den Horizont einer folgerichtigen Spekulation verlassen. Sie sind unter der Hand ein öffentliches Ideal und eine rechtliche Pflicht geworden. Dass Ideale und Pflichten aber oft quer zu den realen Möglichkeiten ihrer Träger stehen, ist eine soziologische Binsenweisheit. Es stellt sich daher die Frage, ob der Bewegung im Diskurs auch eine Bewegung in der Praxis entspricht.

Wird Freundschaft tatsächlich auch in der Praxis zu einer fürsorglicheren Sozialform, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Zunächst stellt sich natürlich die Frage, woran dies festzumachen wäre. Zumindest als wichtigen Anhaltspunkt kann man die Veränderung der persönlichen Unterstützungsnetzwerke Erwachsener nehmen.12 Hier werden Freunde tatsächlich etwas wichtiger. Der Trend äußert sich in kleinen Veränderungen. So lässt sich etwa nachweisen, dass immer mehr Menschen zwischen 18 und 55 Jahren mindestens einen Freund/eine Freundin haben, mit dem/der sie Wichtiges besprechen (siehe Abbildung 1).

Befragte/r nennt mindestens eine/n Freund/in, mit dem/der persönliche Dinge besprochen werden

Abbildung 1: Prozentsatz der Befragten zwischen 18 u. 55 Jahren, die mindestens eine/n Freund/in nennen, mit dem/der...

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