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Fronturlaub

Wie ich in meiner Freizeit in Kurdistan den Kampf gegen den IS unterstütze, statt unter Palmen zu liegen

AutorEnno Lenze
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783959719605
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Enno Lenze ist Politiker, Hacker, Aktivist und Unternehmer. In Berlin leitet er einen Verlag und ein Museum. Aber seine größte Leidenschaft verfolgt er nach Dienstschluss: Er engagiert sich für Kurdistan. Eine Region, in der Geschichte geschrieben wird. 2011 bereiste er das Gebiet zum ersten Mal. In den Grenzregionen zwischen Syrien, Irak, Iran und der Türkei lernte er hochrangige Politiker und Generäle kennen. Seitdem ist er überzeugt: Was in Kurdistan passiert, betrifft die Welt. Und Deutschland. Ob im Kampf gegen den IS, in der Türkeipolitik oder der Flüchtlingsfrage: Das Verständnis von Kurdistan ist die Grundlage für das Verständnis unserer gegenwärtigen Politik. In Fronturlaub nimmt Lenze Sie mit auf seine Reisen. Er beschreibt eindrücklich und bildhaft seine Erfahrungen an der IS-Front und seine Begegnungen mit den Menschen und der Kultur vor Ort und erzählt von tragischen Schicksalen: von Familien, die durch den islamistischen Terror auseinandergerissen wurden, aber auch von Menschen, die bereit sind, für ihren Traum von Freiheit und Unabhängigkeit zu sterben.

Enno Lenze ist seit 1982 auf der Erde unterwegs. Der Unternehmer aus Berlin, ist auch ehrenamtlicher Kriegsberichterstatter, Fotograf, Weltenbummler und politischer Aktivist mit großem Netzwerk und über 40000 Facebook-Fans.

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Leseprobe

Prolog


Irgendetwas lag in der Luft. Schon seit Tagen machte sich eine merkwürdige Stimmung in der Stadt breit. Die Leute verhielten sich komisch. Sie sprachen nicht mehr miteinander, warfen sich beinahe verschwörerische Blicke zu. Es schien, als würden einige der Einwohner von Shingal ein dunkles Geheimnis in sich tragen. Als würden sie etwas wissen, was die anderen nicht wissen dürften. Sharwez spürte das nicht bloß. Er beobachtete es auch. Besonders die Sunniten waren merkwürdig. Sharwez war Jeside, aber er hatte mit den anderen Religionsgemeinschaften im Ort nie ein Problem gehabt. Im Gegenteil. Man verstand sich immer gut. Seit Jahrzehnten schon. Doch in diesen Tagen schien etwas anders zu sein. Beunruhigt war Sharwez aber noch nicht. Dafür hatte er in den letzten Monaten zu viel erlebt.

Die Grundstimmung hier im Norden des Irak war grundsätzlich nicht die beste. Der Islamische Staat hatte große Teile des benachbarten Gebietes in Syrien eingenommen. Die Grenze lag nur ein paar Kilometer entfernt. Und jeder wusste, dass die Terrormiliz auf Expansionskurs war. Sharwez rechnete mit vielem. Er rechnete auch damit, dass es irgendwann zu Kämpfen kommen würde. Aber Sharwez rechnete nicht mit dem, was an einem heißen Augusttag im Jahr 2014 dann wirklich passieren sollte.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Der IS rückte an.

»Das kann nicht sein«, warfen einige Soldaten ein, die hier in der Stadt stationiert waren. Sie wären doch gewarnt worden, wenn der IS größere Truppen einberufen hätte. So etwas bleibt nicht unbemerkt. Auf dem Marktplatz in der Stadtmitte versammelte sich eine große Menschengruppe.

»Sie kommen nicht mit großen Truppen«, warf der Mann ein, dem offenbar die Informationen zugespielt worden waren. »Sie kommen mit ein paar Jeeps.«

Mit ein paar Jeeps. Das war merkwürdig. Über das militärische Vorgehen der IS-Milizen gab es zahlreiche Gerüchte und einige Mythen. Es hieß, dass viele ihrer Soldaten übermütig wären. Dass sie oftmals unüberlegt handelten. Das hier schien so eine übermütige und unüberlegte Aktion zu sein. In Shingal waren nicht viele Soldaten stationiert. Aber die Bewohner hatten Waffen. Sie könnten sich gegen ein paar Hundert Angreifer zur Wehr setzen.

»Wann sind sie da?«, wollte jemand wissen.

»In ein paar Stunden«, sagte der Mann mit den Informationen. Und Sharwez, Familienvater, Ende 40, überlegte, was er nun machen sollte. Sollte er mit seiner Familie aus der Stadt fliehen und sie in Sicherheit bringen? Oder sollte er in der Stadt bleiben und helfen, sie zu verteidigen? Er wägte ab. Ein paar Hundert Angreifer waren auf dem Weg. Maximal. Shingal hatte knapp 40.000 Einwohner. Nein, dachte Sharwez, mit den paar IS-Idioten werden wir schon fertig. Er ging in sein Haus und besprach sich mit seiner Familie. Sagte ihnen, dass sie im Haus bleiben sollten. Für den Fall der Fälle. Die Häuser in Shingal waren einfache Betonhäuser. Ähnlich wie einfache Plattenbauten. Es gab keine Keller, keine Möglichkeiten, sich groß zu verstecken. Aber, beruhigte Sharwez die Familie, die Soldaten würden gar nicht erst bis in die Stadt kommen. »Bleibt einfach im Haus. Es kann nichts passieren.«

Dann nahm er sich sein Sturmgewehr und ließ seine Familie zurück. Er kam nicht weit. Nach ein paar Metern hörte er Schüsse. Menschen liefen aufgeregt durch die Straßen, sie schrien. Was war passiert? Er schaute sich um. Immer mehr Menschen liefen ihm panisch entgegen. Dann hörte er die Rufe.

»Allahu Akbar!«

Waren sie da? War der Feind gekommen?

Sharwez kämpfte sich vorbei an den Menschen, die ihm entgegenströmten, und plötzlich sah er, wie immer mehr schwarz vermummte Männer mit Kalaschnikows aus den Häusern kamen. Er wurde bleich. Konnte das wirklich sein? Offenbar hatten sich zahlreiche Stadtbewohner dem IS angeschlossen. Und sie waren über die Offensive informiert.

Die schwarz vermummten Männer zogen durch die Stadt und schossen auf die Jesiden. Die Jesiden waren dem Islamischen Staat als religiöse Minderheit ein besonderes Übel. Da sie nicht den »reinen Islam« lebten, gehörten sie zu den Todfeinden der IS-Milizen. Sharwez presste sich an eine Häuserwand. Er sah, wie einer seiner Nachbarn mit seiner Familie in einem Jeep mit voller Geschwindigkeit durch die Straße fuhr. Er wollte fliehen. Raus aus der Stadt. Doch die Milizen schossen auf den Wagen. Er fuhr gegen einen Stein und überschlug sich. Sharwez sah, wie die schwarz gekleideten Männer zu dem Autowrack liefen und die Insassen herauszogen. Sie schossen seinem Nachbarn und dessen Sohn in die Beine. Die Schreie waren unerträglich. Dann ließen sie die beiden einfach liegen. Wahrscheinlich im Bewusstsein, dass sie verbluten würden. Sie zogen die Ehefrau und die Tochter aus dem mittlerweile brennenden Autowrack. Der Ehefrau verpassten sie einen Kopfschuss. Die Tochter, sie war vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, wurde von den Männern vergewaltigt. Vor den Augen ihres sterbenden Vaters.

Was zur Hölle war hier los? Sharwez konnte nicht fassen, was gerade in seiner Stadt passierte. Es kam so plötzlich. So unerwartet. Im Hintergrund hörte er Gewehrsalven und Allahu-Akbar-Rufe. Es schien, als wären die Milizen überall. Sie mussten das über Wochen sorgfältig geplant haben. Es waren nicht Hunderte. Es waren bereits jetzt Tausende. Zusätzlich näherten sich die Jeeps den Stadtgrenzen. Für Flucht war es zu spät. Und Verteidigung schien angesichts dieser Übermacht an Soldaten unmöglich. Sharwez wurde panisch. Er rannte zurück zu seinem Haus. Wollte zu seiner Familie. Unterwegs sah er, wie sunnitische Nachbarn auf die Jesiden zukamen.

»Kommt, kommt«, schrien sie. »Wir verstecken euch bei uns. Habt keine Sorge.«

Die Jesiden galten in Shingal eigentlich als äußerst beliebt. Sie hatten es sich zum Prinzip gemacht, immer denen Schutz zu gewähren, die in der jahrhundertealten Geschichte der Stadt unterdrückt wurden. Wenn die Schiiten die Sunniten unterdrückten, dann stellten sich die Jesiden auf die Seite der Sunniten. Und wenn die Sunniten die Schiiten unterdrückten, sprangen sie den Schiiten bei. Es schien nun, als würde sich das auszahlen. Doch in vielen Fällen wollten die ehemaligen Nachbarn ihren jesidischen Freunden gar keinen Schutz gewähren. Sie lockten sie bloß in einen Hinterhalt. Und erschossen sie dann skrupellos.

Sharwez rannte noch ein bisschen schneller. Als er in seiner Straße ankam, sah er, wie vier schwarz gekleidete Männer vor seinem Haus standen.

»Nein!«, schrie er. Die IS-Milizen schauten zu ihm herüber und legten ihre Waffen an. In dem Moment spürte Sharwez, wie eine Hand ihn in einen Hauseingang zog. Es war sein Nachbar.

»Sharwez, bist du wahnsinnig?!«

Der IS eröffnete das Feuer. Die beiden schossen zurück. Der Hauseingang bot ihnen Schutz.

»Meine Familie!«, sagte Sharwez. »Meine Familie ist noch in meinem Haus. Ich muss da rein.«

»Du kommst da nicht rein. Siehst du nicht, wie viele von den Terroristen da stehen? Daesh ist überall.«

Daesh war der kurdische Begriff für Feind.

»Wir müssen was tun.«

»Sharwez, bleib ruhig. Wir können nichts tun.«

Sharwez wusste, dass sein Nachbar recht hatte. Er konnte nichts tun, außer sich erschießen zu lassen. Er kämpfte mit den Tränen.

»Reiß dich zusammen, das bringt uns gerade auch nichts«, sagte sein Nachbar. Die beiden kauerten in ihrem Versteck. Sie wussten, dass der IS sie im Visier hatte. Würden sie jetzt herauskommen, würde man sie erschießen. Nur ganz kurz wagte Sharwez den Blick auf die Straße. Den Blick auf sein Haus. Er sah, wie die IS-Milizen seine Tür eintraten. Er sah, wie sie seine Familie herauszogen. Wie sie seinem Sohn in den Bauch schossen. Er hörte ihn schreien. Sharwez biss sich auf die Lippen, wollte aufspringen, aber sein Nachbar hielt ihn zurück. »Nein«, sagte er. »Du kannst nichts für ihn tun.«

Sharwez liefen die Tränen über sein Gesicht. Das war ein Albtraum, der schlimmer war als alles, was er sich jemals hätte vorstellen können. Dann sah er, wie zwei Soldaten ein Seil nahmen, seinen verletzten Sohn an den Füßen an einen Jeep banden und mit dem Wagen durch die Stadt fuhren. Das waren keine Menschen mehr, dachte Sharwez. Das waren Teufel.

Er sah, wie seine Frau und seine Tochter verschleppt wurden. Hörte, wie sie um Hilfe schrien. Es brach ihm das Herz.

»Hör zu«, sagte ihm sein Nachbar nüchtern. »Da sind zwei Schützen, die uns im Visier haben. Sobald wir rauslaufen, knallen die uns ab wie Hunde. Damit helfen wir deiner Familie auch nicht. Wir werden jetzt durch das hintere Fenster klettern, versuchen uns den Weg halbwegs freizuschießen und werden dann zusehen, dass...

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