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E-Book

Früher war alles besser?

Erinnerungen an eine ostdeutsche Jugend

AutorSteffen Kottke
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783744803199
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Geboren in den 60er-Jahren im Ostteil Deutschlands wächst der Autor mit Pionierhalstuch und FDJ-Bluse auf. Es sind die kleinen Dinge, die das Leben hinter Mauer und Stacheldraht erträglich machen. Die DDR gibt's nicht mehr, den DDR-Bürger mit all seinen Facetten und seiner Mentalität schon. Noch. Die nächste Generation bezeichnet sich nicht mehr als Ossi und Wessi, sondern als Deutsche. In seinen Jugenderinnerungen beschreibt der Autor den Alltag in der DDR, seine Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume. Und gelangt zu dem Schluss, dass das Leben immer wieder Überraschungen bereit hält. Hüben wie drüben.

Der Autor erblickte 1967 im sachsen-anhaltinischen Stendal das Licht der Welt. Nach einer Lehre zum Facharbeiter für Süßwaren im Nachbarort Tangermünde, arbeitete er nach der Wende als freiberuflicher Journalist. In den 90er-Jahren absolvierte er ein Volontariat bei der Magdeburger Volksstimme, war danach als Redakteur und Freiberufler tätig. Seit 2010 lebt der Autor in der Lüneburger Heide und arbeitet in einem Soltauer Verlag

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Leseprobe

Teil II


In der ersten Klasse war es, dass ich das erste Mal mit einem Spiel in Berührung kam, das sich Schach nannte. Während Mama diesem Figurenschieben nichts abgewinnen konnte, und auch die Regeln nicht beherrschte, war mir Papa in der Anfangszeit haushoch überlegen. Es gab keine Partie, in der er mich nicht matt setzte, zumal Aufgeben – wie auch der Damentausch – früher verpönt waren. Obwohl ich so schlecht spielte, gab es einen, der noch schlechter war als ich: mein Klassenkamerad Markus. Eines Tages hatten wir mitbekommen, dass im Pionierhaus die Kreis-, Kinder- und Jugendspartakiade stattfinden sollte. Wer dreimal gewonnen hatte, durfte sich über eine Medaille freuen. Ich gewann einmal – gegen Markus. In den anderer Partien sah ich kein Land, und als mich meine Gegner matt setzten, musste ich erst einmal einige Minuten lang überprüfen, ob es wirklich keinen Ausweg mehr gab für meinen von feindlichen Figuren umzingelten Monarchen. Ich hätte natürlich dreimal gegen Markus spielen können, aber zu meinem Leidwesen wurden die Runden jedesmal neu ausgelost. So blieb ich bei meinem Premierenauftritt in der Schach-Öffentlichkeit ohne Edelmetall. Letzter wurde ich aber nicht. Den Platz hatte sich Markus erkämpft.

Nach diesem Misserfolg hängte ich Brett und Figuren erst einmal an den sprichwörtlichen Nagel. Ich ließ mich nur noch für den Hausgebrauch zu einer Partie hinreißen. Entweder gegen Papa oder gegen den einen oder anderen Kollegen Papas, gegen die ich aber meist gewann.

Schon bevor ich eingeschult wurde, waren wir von der Mühlenstraße in die Stavenstraße gezogen. Eine größere Wohnung war notwendig, denn meine kleine Schwester brauchte auch ihren Platz. Wir wohnten im Obergeschoss, während das Erdgeschoss die Familie Wolkenhaar, die zugleich Eigentümer der Immobilie war, beherbergte. Nicht nur, dass Mama einmal im Monat Frau Wolkenhaar Geld gab – wofür, konnte ich mir damals noch nicht erklären – die Vermieter besaßen auch ein Telefon. Ein schwarzer klobiger Kasten mit Wählscheibe. Damals ein Wunderwerk der Technik. Zumindest für einen Dreikäsehoch, der zwar problemlos zwei einstellige Zahlen addieren konnte, aber im Alphabet erst bei B angekommen war.

Familie Wolkenhaar hatte zwei Söhne. Andreas war etwa zwei Jahre älter als ich, Kai sechs oder sieben Jahre. Mit den beiden, die auch in die Comeniusschule gingen, wie auch mit Christian, der ein paar Häuser weiter wohnte, verbrachte ich die erlebnisreichsten Jahre meiner frühen Kindheit. Meist zog es uns in den angrenzenden August-Bebel-Park, wo wir herumtollten, dem runden Leder nachjagten – obwohl wir meist nur eine Gummipflaume zur Verfügung hatten, weil Lederbälle unheimlich teuer waren – oder uns auf dem Spielplatz die Anerkennung der anderen verdienten, weil wir so unheimlich mutig waren. Das imponierte natürlich auch den Mädchen, die in unserer Straße wohnten: Heike, Simone und Katrin, mit denen wir auch Verstecken und Fangen gespielt haben, aber sonst noch nichts anzufangen wussten. Wenn unsere Mädchen Stubenarrest hatten, oder für die Schule lernen mussten, waren wir Jungs unter uns.

Seitdem wir in die Stavenstraße gezogen waren, hatte ich viele neue Menschen kennengelernt. Und fast täglich kamen weitere hinzu. Einer meiner Freunde war Bernd, ein kleiner untersetzter rothaariger Junge in meinem Alter, der im angrenzenden Haus in der Johann-Sebastian-Bach-Straße wohnte. Bernd hatte – ebenso wie ich – nur Unfug im Sinn. Als Papa auf dem Grundstück, das wir mitbenutzen durften, einen Schuppen baute, und ich ihm dabei bewunderungsvoll zusah, fragte ich Bernd einfach, ob wir Freunde werden wollen. Natürlich willigte er ein. Und von diesem Tag an gehörte er zu uns – der unheimlichen August-Bebel-Park-Clique. Der Zusammenhalt in der Clique war allerdings nicht so sehr ausgeprägt, als dass wir den ganzen Tag lang aufeinander gehockt hätten. Wir wollten ja keine Heldentaten zu Ehren des 25. Jahrestages unserer Republik verbringen, sondern hatten die Innenstadt zu unserem Revier erklärt. Der Sperlingsberg, die Breite Straße, die Stavenstraße, die Johann-Sebastian-Bach-Straße, und manchmal auch die Vogelstraße, waren die bevorzugten Plätze unserer Kindheit.

Andreas und Kai hatten schon das eine oder andere Auge auf dieses oder jenes Mädchen geworfen, während ich das schöne Geschlecht noch immer „Bäh!“ fand. Natürlich konnte man mit Mädchen auch spielen, besonders fangen, weil man als Junge meist schneller war, auf der Schiene einer jungen Liebe spielte sich (noch) nichts ab. Das heißt: Mit einem Mädchen, das auch in der Stavenstraße wohnte, hatte ich mich mal verlobt. Ich wusste damals zwar noch nicht, was das bedeutet, aber mit zunehmendem Alter und einige Umzüge später verloren wir uns aus den Augen, sodass ich mein Eheversprechen, das ich in der zweiten Klasse abgegeben hatte, nie einlösen konnte.

Nach den Winterferien 1976 war Mama zum Schuldirektor geladen worden. In der Comeniusschule wurden nämlich ab der dritten Klasse sogenannte „r-Klassen“ installiert, in denen die leistungsstärksten Schüler aus den drei zweiten Klassen konzentriert werden sollten. Obwohl mein Zeugnis nicht besonders ausfiel, hatte der Lehrkörper wohl mein Potenzial erkannt, und hoffte, die mehr und mehr sichtbaren Symptome der aufkommenden Krankheit Faulenzius in den Griff zu bekommen. Als Mama fragte, ob sich denn später berufliche Vorteile für ihren Jungen ergeben würden, wenn er die r-Klasse besuchen würde, und der Direktor dies verneinte, war die Sache mit dem Sonderstatus vergessen. Der Direx wollte sich aber noch nicht damit abfinden, und wies Mama darauf hin, dass ihr Sohn ein Kind des Sozialismus sei, wonach Mama, wie von einer Hornisse gestochen, fluchtartig das Weite suchte. Zumindest im Zimmer des Direktors ward sie nie wieder gesehen. Und ich blieb ein Kind von Mama, die fortan immer wieder auf die „Russen-Zone“ schimpfte.

Eineinhalb Jahre später hatte sich das Thema Eliteklasse endgültig erledigt. Die Wohnung in der Stavenstraße wurde zu klein, meine Schwester wuchs heran und verlangte ihr eigenes Reich. Im September 1977 zogen wir nach Stendal-Nord in die Mannsstraße – und ich wurde Schüler der POS „Wilhelm Pieck“. Wohl habe ich mich nicht gefühlt an meinem ersten Tag, schließlich musterten mich meine Mitschüler von Kopf bis Fuß. Und die Mädchen tuschelten über mich. Eine sagte dann aber doch: „Der sieht doch nicht schlecht aus.“ Das beruhigte mich doch ungemein, sodass ich mich mit der Zeit einlebte. Meine Klassenlehrerin war Frau Hermann, die ich nach der vierten Klasse nie wieder gesehen habe.

Noch im selben Monat wurden wir in die Reihen der Thälmannpioniere aufgenommen. Das war die zweite staatliche Stufe auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Am Wilhelm-Pieck-Denkmal, das neben der Schule stand, wurden wir eingeschworen auf den Klassenkampf, auf die Freundschaft zu den Kindern der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern, auf Ordnung und Sauberkeit und auf Hilfsbereitschaft. Und natürlich auf unser sozialistisches Vaterland, die DDR. Mein rotes Halstuch trug ich mit Stolz. Irgendwann erfuhr ich dann, dass Opa auch mal in einer Jugendorganisation war. Die aber trug nicht den Namen des großen Arbeiterführers und war auch nicht rot.

Die 70er-Jahre, das Jahrzehnt von Diskowelle, Dalli-Dalli, Columbo und Muppet-Show war auch das Jahrzehnt der Umbrüche und Veränderungen in der Familie. Wir sind zweimal umgezogen, ich habe schreiben, lesen und rechnen gelernt – und bekam 1979 noch eine Schwester. Mama war immer fasziniert von tschechischen Spielfilmen, sodass ein Name für das Neugeborene frühzeitig feststand: Jana.

Dennoch hatte ich das Gefühl, dass das Leben nur so dahin plätschert, sich außer „Ehen vor Gericht“ und Willi Schwabes Rumpelkammer nichts bewegt. Ehen vor Gericht, eine Justiz-Doku, in der es um Scheidungen ging, war für Mama und Papa der TV-Höhepunkt eines jeden Monats. Ehen vor Gericht war die Urzeit-Barbara-Salesch und langweilte mich zu Tode. Hatten es sich Mama und Papa bequem gemacht, um immer wieder zu staunen, welch tolle Ehedramen sich die Autoren ausgedacht hatten, verkrümelte ich mich in mein Zimmer, versetzte mich in eine andere Zeit und brachte meine PVC-Cowboys gegen heranrückende Rothäute in Stellung. Meistens überstanden sie dem Sturm der Indianer.

Hatte ich in der Stavenstraße den einen oder anderen Freund gefunden, blieb ich in der neuen Umgebung meinem Urinstinkt als Einzelgänger treu. Zumindest in der ersten Zeit. Dann hatten wir, einige Nachbarskinder und ich den Fußball entdeckt, und kickten tagein, tagaus auf der Wiese vor dem Block, wobei die Betonkante des Sandkastens auf der einen und zwei kleine Bäume auf der anderen Seite als Tore dienten. Manchmal spielten wir aber auch nur auf ein Tor, wobei sich der Schlussmann absolut neutral verhalten musste. Dass das nicht immer gelang, oder gelingen wollte, lag auf der Hand. Und so musste ein guter Fußballer schon mal eine zweistellige Niederlage gegen einen weniger guten Altersgenossen einstecken, weil es das Turnier unheimlich...

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