I. Was wertschätzende Führung bewirkt
Mancher Leser wird sich jetzt vielleicht fragen, was mich zu der optimistischen Annahme berechtigt, mithilfe wertschätzender Führung ließen sich die Arbeitszufriedenheit und der Unternehmenserfolg wirksam steigern. Wie Sie, liebe Leser, aus Ihrer eigenen Praxis wissen, versagen traditionelle Führungsinstrumente wie Befehl, Druck, Zielvereinbarung, Belohnungen in Form von Geld und Privilegien immer häufiger. Die oben benannten Arbeitnehmerbedürfnisse sind offenbar wichtiger geworden. Überdies zeigt die ökonomische Glücksforschung (Frey & Frey-Marti), dass materielle Anreize ab einem gewissen Schwellenwert nicht zu besseren Leistungen führen, sondern ganz im Gegenteil falsche Orientierungen fördern.
Ich habe zusammen mit meinem Team viele Jahre nicht nur Unternehmen und andere Organisationen, sondern auch Schulen und Bildungseinrichtungen beraten und beim Kulturwandel begleitet. Auf meine Frage, was die Führungskräfte und Mitarbeiter in Bildungseinrichtungen darin hindert, den notwendigen Wandel einzuleiten, erhielt ich meist den Hinweis auf einschränkende Rahmenbedingungen, enge Zielvorgaben und Zeitknappheit. Sind die Rahmenbedingungen wirklich entscheidend? Eine erste Antwort auf diese Frage kann uns für den Bildungsbereich die Schulqualitätsforschung geben, die über ein breites Datenmaterial verfügt. Die Erkenntnisse dieser Studien sind überraschend und geben auch wichtige Hinweise für den Unternehmensbereich. So belegen sie in erdrückender Weise, dass es unter gleichen Rahmenbedingungen Schulen gibt, die sehr gut sind, und Schulen, die versagen. Worin liegt der Unterschied? Brauchen diese Schulen mehr Mittel? Müssen wir die Rahmenbedingungen grundlegend ändern? Brauchen sie andere Mitarbeiter? Die Antwort ist für die uns interessierende Frage nach geeigneten Führungsmodellen von Bedeutung. Sie wird in der nachfolgenden Zusammenfassung einer Untersuchung der Führungspraxis von Schulen aus acht Industriestaaten deutlich:
»While many researchers have looked at differences in school inputs – such as teacher quality, class size and family/pupil characteristics – or variations in the institutional environment – such as pupil choice – few studies explore differences in school management. In this paper we show robust evidence that management practices vary significantly across and within countries and are strongly linked to pupil outcomes. Management seems to matter for schools.« (Bloom et al. 2014, S. 23)
Fazit: Das Führungsverhalten, die Organisationskultur und die Managementpraxis machen den entscheidenden Unterschied.
Worum es in Unternehmen wirklich geht
Diese pointierte Zusammenfassung einer Untersuchung der Gelingensfaktoren erfolgreicher Schulen in acht Staaten umreißt die Kernaussage dieses Kapitels, die auch auf Führungskräfte in Unternehmen übertragbar ist, zumal die Untersuchungen von McKinsey, die ich weiter unten vorstellen werde, zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen: Auf die Führungskräfte, in diesem Fall die Schulleiter/innen bzw. Schulleitungsteams, kommt es sehr viel stärker an, als uns bisher bewusst ist! »Management Practices« – verstanden als wertschätzende Führungsformate – bestimmen über Engagement, Wohlbefinden und Spitzenleistung. Dies ist eine ermutigende, aber auch herausfordernde Botschaft für alle, die in Führungspositionen tätig sind, sei es im Bildungs- oder im Unternehmensbereich: Auf ihre Art der Führung kommt es an, denn der jeweilige Führungsstil prägt die Unternehmenskultur und beeinflusst das Verhalten und die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Nur wenn ein wertschätzender Umgang gepflegt wird und die grundlegenden Arbeitnehmerbedürfnisse angemessen berücksichtigt sind, kann man mit Engagement rechnen. In Zeiten rasanten Wandels, in denen Unternehmen immer mehr zu »Lernenden Organisationen« werden, wie es der MIT-Organisationsforscher Peter Senge schon 1996 ausgedrückt hat, verschwimmen die Grenzen zwischen Produktion und Bildung. Immer mehr Unternehmen müssen Produktion und permanentes Lernen miteinander verbinden. Gefragt ist der hochmotivierte, agile, proaktive Mitarbeiter, der intrinsisch motiviert und befähigt ist, sich selbst und seinen Arbeitsplatz bzw. die jeweilige Anforderung allein oder im Team zu optimieren.
Monotone Arbeitsabläufe gehen in vielen Bereichen zurück. In Zeiten disruptiven Wandels geht es immer häufiger um komplexe Herausforderungen, die nur selten mit Routinen oder hierarchischer Steuerung bewältigt werden können. Es bedarf eines neuen Typs von Mitarbeiter, der fähig ist, eigeninitiativ und weitgehend selbstgesteuert die Herausforderungen im fachübergreifend zusammengesetzten Team kreativ zu bewältigen. Die Ausbildung solcher Führungskräfte wird zum Schlüssel des Erfolgs. Sie müssen in der Lage sein, die grundlegenden Mitarbeiterbedürfnisse so zu berücksichtigen, dass sie zu optimalen Leistungen im Sinne des Unternehmensziels befähigen.
Die wichtigsten Fragen, die am Beginn eines jeden Kulturwandels stehen sollten, der auf optimiertes Führungshandeln abzielt, lauten: Was kommt auf uns zu und was sind die wichtigsten Ziele bei der Entwicklung unseres Unternehmens in den nächsten zehn Jahren? Wie und mit welchen Maßnahmen können wir zukunftsfähig bleiben?
Diese Frage sollten Sie etwa auf der Jahreskonferenz Ihren Führungskräften stellen. Der Blick auf die zu erwartenden Herausforderungen, verbunden mit einer Klärung der Sinn- bzw. Zielfrage, ist der Schlüssel für einen erfolgreichen Change-Prozess. So haben wir, um ein Beispiel zu geben, den Führungskräften eines Dax-Konzerns – anlässlich des Antritts eines neuen Vorstands – nach der gemeinsamen Erarbeitung einer Zukunftslandkarte die Sinnfrage gestellt. Was wurde am häufigsten genannt?
Gemeinsam mit einem Gedankenzeichner entwarfen wir aus den einzelnen Beiträgen ein Zukunftsbild. In dessen Zentrum stand als Symbol für das am häufigsten genannte Ziel: ein prall gefüllter Geldsack. Wie bewertete der neue Vorstand diese Zielbeschreibung seiner Führungskräfte? Ganz offensichtlich versuchten die verunsicherten Mitarbeiter – mit ihrer Prioritätensetzung auf den Unternehmensgewinn – die Erwartungen zu erfüllen, die sie vermuteten und die in der Tradition des hierarchisch geführten Unternehmens begründet waren. Doch wie sich zeigen sollte, lagen sie mit ihren Vermutungen falsch, denn der CEO überraschte sie: »Geld ist doch kein Ziel«, sagte er, »ich will Spaß!«
Fünf Kernaufgaben wertschätzender Führung aus Mitarbeitersicht
Man konnte an den Gesichtern der Führungskräfte ablesen, wie sehr sie diese überraschende Äußerung verunsicherte. So etwas hatten sie aus dem Munde eines Vorstands in ihrem Unternehmen noch nicht gehört. Da ging es immer nur um Leistungskennziffern, Zielvereinbarungen und Ähnliches. Aber Spaß?
Wie die anschließende Rede des Vorstands zeigte, stand »Spaß« als Metapher für eine Neuausrichtung des Führungsverhaltens an den Werten Vertrauen, Transparenz und Verantwortung mit dem Ziel, die Energie und Leidenschaft der Mitarbeiter für das Erreichen der Unternehmensziele freizusetzen.
In einer Gesellschaft schnellen Wandels, in der Befehl und Gehorsam immer weniger dazu geeignet sind, eine kreative Problembewältigung zu gewährleisten, müssen Mitarbeiter wissen, warum sie etwas tun, und sie müssen für das Erreichen der Unternehmensziele Energie und Leidenschaft aufbringen, genau das, was laut Gallup in den meisten Unternehmen fehlt und worauf der CEO mit seiner Hervorhebung des »Spaßes« abzielte.
Damit sich Mitarbeiter wohlfühlen und engagieren, müssen sie für ihr Handeln einen weiten Vertrauensspielraum erhalten, über die nötigen Informationen und einen angemessenen Raum für Verantwortungsübernahme verfügen. Das Kriterium »Verantwortung« hat der weltweit tätige Hersteller von Medizinprodukten, B. Braun, in seinem auf drei Werten beruhenden Führungskompass durch »Wertschätzung« ersetzt und damit eine wichtige Akzentverschiebung vorgenommen, denn Wertschätzung fördert auch die Übernahme von Verantwortung. Bei B. Braun ist die wertschätzende Führung in der Unternehmenskultur verankert. Zumindest wird an deren Umsetzung gearbeitet – ein Weg, der durchaus anspruchsvoll und schwierig ist, erfordert er doch die...