Sprache
Maschinen lesen Shakespeare, damit sie unser Leben steuern können
Als Kind durfte ich manchmal meine Mutter bei der Arbeit besuchen, die in einer Buchhandlung in der Innenstadt von Nürnberg arbeitete. Meine Oma, die Sie ja schon kennengelernt haben, begleitete mich auf dem Weg dahin. Schon von Weitem sah ich in den beleuchteten Auslagen der Schaufenster Plakate mit schön gestalteten Buchtiteln oder Autorenporträts. Ich konnte es kaum erwarten, in den Laden hineinzugehen, wo mir der Geruch von Büchern entgegenströmte. Die deckenhohen Regale mit enggestellten Buchrücken waren für mich eine Schatzkammer voller Geheimnisse. Und in dieser Schatzkammer konnte ich stundenlang auf einem Stuhl sitzen und mir ein Buch nach dem anderen ansehen. Bilderbücher mochte ich natürlich besonders gerne, nahm aber auch medizinische Fachbücher mit gruseligen Zeichnungen von irgendwelchen Körperteilen, Reiseführer voller Bilder aus fernen Ländern oder die extrem schweren Bildbände mit ihren hochglänzenden, bunten Seiten voll von Kunstwerken. Für einen Buchhändlersohn wie mich waren Bücher natürlich von klein auf sowohl sehr vertraut als auch kostbar.
In den ersten Jahren interessierten mich vor allem die Bilder. Ich besaß einige dicke Bände über die Landschaften der Erde und all die Menschen und Tiere, die dort lebten. Da ich selbst noch nicht lesen konnte, zwang ich bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit meine Eltern oder die vielen Gäste, die bei uns zu Hause aufschlugen, zum Vorlesen. Als ich endlich selbst lesen konnte, fesselte mich eine spannende Geschichte oft so sehr, dass ich mich von dieser aufregenden Welt tagelang nicht lösen konnte. Später, ich war schon im Gymnasium, begann ich mich auch für die Sprache hinter den Geschichten zu interessieren. Hermann Hesse begeisterte mich ebenso wie Thomas Mann, später sein Sohn Klaus oder Jean Cocteau. Sie erschufen mit ihrer Art zu schreiben nicht nur eine Erzählung, sondern benutzten dafür auch Wörter, Sätze und Strukturen, die Inhalte zum Klingen, Leuchten, Duften oder Glühen bringen konnten. Sprache, so ging mir auf, war eine unerschöpfliche Ressource, um daraus neue Welten erschaffen und beschreiben zu können. Ich begann damit, in den Büchern Sätze anzustreichen, die mir besonders gefielen: »… sein Herz, er fühlte es in der Brust innen frieren wie ein kleines Tier, einen Vogel oder einen Hasen, als er sah, wie allein er sei.« Das war eine solche Stelle aus dem Siddhartha, die damals das intensive Bild eines verängstigten Tieres im tiefen Schnee einer endlosen Landschaft vor meinem geistigen Auge entstehen ließ. Dazu war Sprache also fähig: Gefühle zu vermitteln, die weit über die Bedeutung von Wörtern hinausgingen!
Wieder einige Jahre später fand ich heraus, wie es ist, in fremden Sprachen, vor allem auf Englisch und Spanisch, zu lesen. Es eröffnete sich eine weitere Dimension von Sprache für mich. Alleine durch den anderen Satzbau, die ungewohnte Melodie der Silben und die fremdartige Bedeutung von Wörtern und Begriffen hatte ich das Gefühl, ein wenig die unbekannten Eigenarten eines anderen Volkes verstehen zu können. Die fremden Sprachen ermöglichten mir auch neue Formen des Denkens, weil zum Beispiel Begriffe fehlten oder es plötzlich viele Wörter mit feinsten Unterscheidungen gab für eine Sache, die im Deutschen nur durch ein Wort repräsentiert wird.
Die kluge Schriftstellerin und Apothekerin Marie von Ebner-Eschenbach schrieb einmal: »Der Geist einer Sprache offenbart sich am deutlichsten in ihren unübersetzbaren Worten.«1 Denn diese zeigen, dass es Dinge gibt, die nicht zu unserer Kultur gehören und für die wir deshalb keinen Begriff brauchen. Auch der fremde Klang von Wörtern scheint Dingen eine neue Bedeutungsebene zu geben. Kennt man nur das deutsche Wort »Schmetterling«, wirkt das entsprechende Tier eben sehr viel weniger exaltiert, als wenn man ihm als »Papillon« oder »Mariposa« begegnet.
All diese neuen Welten, in denen ich mich nun bewegen konnte, waren einzig und allein mit der Macht der Sprache geschaffen und hatten viele Jahre vorher in der Buchhandlung meiner Mutter ihren Ursprung gehabt. Damals schien mir der Arbeitsplatz einer Buchhändlerin das wahre Paradies zu sein – und meine Mutter allwissend. Als kleines Kind fragte ich mich: Hatte sie wohl alle Bücher von vorne bis hinten gelesen, um ihren Kunden die richtigen Empfehlungen geben zu können? Meine Mutter lachte, als ich ihr eines Tages diese Frage stellte, während ich von meinem Stuhl in der Nürnberger Buchhandlung zu ihr hochblickte. »Niemand kann je alle Bücher in einer Buchhandlung lesen«, sagte sie, »es sind viel zu viele. Dafür müsste man mehrere tausend Jahre alt werden.«
Wer hätte gedacht, dass sie so unglaublich falsch liegen konnte.
Roboter schreiben Romane
Vor Kurzem, knapp vier Jahrzehnte nach den Erlebnissen meiner Kindheit, begegnete den Preisrichtern eines Literaturwettbewerbs ein unglaublicher Autor, der genau das zu Ausbildungszwecken in kürzester Zeit getan hatte: unzählige Bücher lesen.
»›Ich krümmte mich schier vor einer Freude, die ich zum ersten Mal erlebte und schrieb voller Aufregung weiter.‹
Der Tag, an dem ein Computer einen Roman schrieb.
Der Computer konzentrierte sich ab jetzt ganz auf seinen eigenen Spaß und hörte auf, für die Menschen zu arbeiten.«
So endet ein Roman, der es fast ins Finale des bekannten japanischen Literaturpreises Nikkei Hoshi Shinichi geschafft hätte. Den lesenden Juroren hatte das Buch mit dem Titel Der Tag, an dem ein Computer einen Roman schreibt gut gefallen, und so kam es in die vorletzte Runde. Die professionellen Leser lobten vor allem die gute Struktur der Geschichte, kleinere Schwächen fanden sie lediglich in den Charakterbeschreibungen der Figuren. Vielleicht lag es nur an dieser Kleinigkeit, dass es am Ende nicht ganz für einen Sieg des Romans reichte.
Sie ahnen es sicher schon, der Titel des Romans ist Programm: Der Autor des Werkes ist tatsächlich ein Computer oder, genauer gesagt, eine Künstliche Intelligenz, die vom Wissenschaftler Hitoshi Matsubara von der Future University Hakodate in Japan dazu trainiert wurde, Romane zu schreiben. Das ist insofern ein Wunder, als es in der Vergangenheit kaum einem Computerprogramm gelungen war, überhaupt literarische Texte und schon gar keinen ganzen Roman zu produzieren. Denn um das tun zu können, braucht es inhaltliche Kreativität, Vorstellungsvermögen, Gefühl für Erzählstrukturen, Wissen um Zusammenhänge und nicht zuletzt mit Bedacht gewählte Wörter, die zu Sätzen, zu Absätzen und zu Kapiteln geschmiedet werden. Das sind alles Fähigkeiten, die wir den wenigsten Menschen zutrauen, geschweige denn einer Software.
Kreative Künstliche Intelligenzen wie die aus Japan lernen derzeit von den besten Autoren, die die Geschichte der Menschheit zu bieten hat. Sie werden mit Hunderttausenden Werken der Weltliteratur gefüttert, um zu verstehen, wie wir Menschen unsere Geschichten erzählen und unsere Romane schreiben. Meine Mutter lag also ziemlich falsch mit ihrer Annahme, dass man tausend Jahre alt werden müsse, um die gesammelte Literatur zu lesen. Künstliche Intelligenzen schaffen das deutlich schneller. Und sie fressen noch viel mehr als Bücher in sich hinein! Unersättlich stopfen sich die Rechner voll mit Fotografien, Bildern, Skulpturen, Architekturmodellen, Notenblättern, Konzertaufführungen und Modeschnitten. Sie eignen sich unser gesamtes künstlerisches Weltwissen an.
Aufgabe der Programme ist es, darin so gut zu werden, dass sie selbst bald kreative Höchstleistungen erreichen können: Literatur, Poesie, Film, Malerei, Architektur – keine künstlerische Disziplin ist momentan vor dem Hunger Künstlicher Intelligenzen sicher. Vor Kurzem schrieb eine Software zum ersten Mal die Drehbücher für eine Folge der Sitcom Friends, für einen Horrorfilm und für einen Science-Fiction-Kurzfilm. Maschinen schicken sich derzeit an, mit dem Menschen als Schöpfer von Texten und bei der Bildung von Sprachkultur in den Wettbewerb zu treten.
Doch warum tun sie das? Welcher Sinn besteht darin, wenn eine Maschine mit Romanen gefüttert wird, die wir Menschen zum reinen Vergnügen lesen? Wem nützt eine solche Spielerei? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Künstliche Intelligenzen lernen unsere Sprache, damit sie später täglich mit uns sprechen können. Natürlich steckt dahinter nicht die Lust an der Konversation, sondern vor allem...