DENKER UND LENKER
UNTER DER HAUT:
FASZINATION
FASZIEN
Die Faszien sind ein ganz besonderer Teil des Bindegewebes. Sie durchziehen den menschlichen Körper ohne Unterbrechung vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Muskeln, Knochen, Nerven, Blutgefäße, Organe sowie Gehirn und Rückenmark werden nicht nur von dieser »Haut« umschlossen, sondern sind sogar untereinander verwebt – vergleichbar mit einem Schwamm oder einem dreidimensionalen Spinnennetz, das je nach Verknüpfung 0,3 bis 3 Millimeter dick ist. Ohne dieses Fasziennetz würden im Körperinneren die Organe herumfliegen, die Muskeln auslaufen, die Knochen herumbaumeln. Selbst die Bänder, Sehnen und Gelenkkapseln sind nach Ansicht anerkannter Faszienforscher integraler Bestandteil dieses körperumspannenden Netzes.
Dieser faszinierende Gewebetyp enthält außerdem unglaublich viele »Fühler«, die ihre Informationen von Position und Lage direkt an den Muskel und das zentrale Nervensystem weiterleiten und so seine Spannung (Tonus) beeinflussen können. Je trainierter diese Faszien sind, desto sensibler können diese Fühler arbeiten. Dieses körpereigene Feedback, das über die sensiblen Mechanorezeptoren der Faszien erzeugt wird, hilft, das Gleichgewicht in schwierigen Situationen zu halten, Muskeln und Sehnen schnell anzusteuern und dreidimensionale Bewegungen auszuführen, aber auch Fehlhaltungen schneller aufzuspüren und zu korrigieren. Mit ein Grund, warum die Faszien von den Wissenschaftlern als weiteres Sinnesorgan »anerkannt« werden – für die Körperwahrnehmung. Je intakter solch eine Faszie ist, desto besser funktioniert sie auch in puncto Eigenwahrnehmung.
Die funktionellen leitungsbahnen verlaufen durch den gesamten körper
Doch was für Sportler, Trainer, Therapeuten und Biomechaniker noch viel interessanter ist: Faszien sind bei der Bewegung unmittelbar am Energietransfer beteiligt. Zum einen verwandeln die Faszien die Kraft des Muskels in Bewegung, da sie sowohl mit dem Knochen als auch dem Muskel verbunden sind, zum anderen können sie aufgrund ihrer biomechanischen Eigenschaften Bewegungsenergie speichern und diese durch einen Katapulteffekt beziehungsweise Reboundeffekt zurückgeben. Erreicht wird sie durch eine Vorspannung wie bei einer Sprungfeder. Die Energie, die dort gespeichert wird, entlädt sich dann durch ein gezieltes Loslassen.
Am Beispiel des Kängurusprungs lässt sich das gut erklären. Das Känguru hat eine elastische Achillessehne, die Muskel und Knochen über das Gelenk hinweg verbindet. Durch die Dehnung vor dem Absprung nimmt die Sehne Energie auf und verlängert sich. Beim Absprung gibt sie die gespeicherte Energie ab und geht wieder zurück in die Ausgangsposition. Beim erneuten Aufkommen wird die Sehne wieder maximal gedehnt.
In Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass dynamisch federnde Bewegungen wie beim Laufen und Hüpfen durch Faszien erzeugt werden und nicht durch Muskeln, wie lange angenommen. Je häufiger diese federnden, ballistischen Bewegungen trainiert werden, desto ausgeprägter wird dieser »Energy-Return-Effekt«.
Möglich machen diese Elastizität die Bauweise der Faszien, ihr Faserverlauf und der Baustoff Elastin, das neben Kollagen Hauptbestandteil der Faszien ist. Elastin und Kollagen sind Proteine, die in den Bindegewebszellen, den sogenannten Fibroblasten stetig auf- und abgebaut werden. Während Dehnungen die Produktion von kollagenen Fasern aktivieren, lässt sich durch dynamische Reize wie Sprünge die Produktion von elastischen Fasern ankurbeln. Je nach Art des Trainings – Umfang wie Intensität – beziehungsweise des Reizes erneuern sie sich, allerdings im Vergleich zu den Muskeln eher behäbig. Experten gehen davon aus, dass sich innerhalb von zwei Jahren das Fasziengewebe im Körper komplett erneuert. Das ebenfalls im Bindegewebe enthaltene Wasser sorgt für einen Austausch und die Ernährung dieser Fasern. Allerdings nimmt die Menge dieses Bindegewebswassers mit zunehmendem Alter ab, dem kann durch eine verstärkte Aktivierung der Faszien entgegensteuert werden.
Im Idealfall zeichnet sich eine Faszie bei genauer Betrachtung dadurch aus, dass sie zwar straff, aber sehr gut verschiebbar ist. Dieser Zustand erlaubt dann auch maximale Dehnungen ohne Einrisse. Experten können die wellenförmigen Fasern, die sich in einem Scherengitter strukturieren, mit modernen Untersuchungsmethoden sichtbar machen.
ALLES UNTER SPANNUNG:
DAS TENSEGRITY-MODELL
Wissenschaftler und Anatomieexperten wie der US-Amerikaner Thomas Myers sprechen bei der Verbindung von Faszien und Muskeln von einem Spannungsnetzwerk und geben dieser besonderen Statik den Namen »Tensegrity«. Dieser Begriff ist eine Kombination aus tension (Spannung) und integrity (Zusammenhalt). Dieses Netzwerk zeichnet sich dadurch aus, dass es sowohl aus stabilen als auch elastischen Bestandteilen besteht. Um der Konstruktion allerdings bei einer »Verformung« auch Stabilität zu geben, müssen die elastischen Bestandteile unter Spannung stehen. Dieses Modell ist auch wiederum ein Indiz dafür, dass die Muskeln nicht isoliert arbeiten, sondern im Verbund mit den Faszien. Der Körper funktioniert immer mit Aktion und Reaktion – auch bei der Bewegung. Und hier übernehmen die Faszien die Funktion des Bindeglieds zwischen Muskeln und Knochen.
Je nachdem, wo sich die Faszien im Körper befinden und welche Aufgaben sie übernehmen, haben sie eine unterschiedliche Struktur und eine andere Zusammensetzung. Also, eine Faszie kann fest, stark und belastbar oder auch elastisch, flexibel und weich sein.
Die Wissenschaft unterscheidet verschiedene Faszienarten, je nach Position. Die oberflächliche Faszienschicht befindet sich direkt unter der Epidermis und ist mit dem Unterhautfettgewebe in direkter Verbindung. Die tiefen Faszienschichten geben der Muskulatur ihre funktionelle Hülle und unterteilen die Muskelfasern und Bündel durch die Bildung von Septen (Scheidewänden).
Auch die Sehnen, durch die die in den Muskeln erzeugte Kraft auf den Bewegungsapparat übertragen wird, zählen zur Familie der Faszien. Ihre Kraftübertragung ist umso effizienter, wenn sich die Ausrichtung und Organisation der Faszienstruktur an die Bewegungsausführung angepasst hat. Aber je weniger angepasst das Fasziensystem ist, desto weniger elastisch ist der Bewegungsapparat und desto schlechter ist die Versorgung mit Nährstoffen und Flüssigkeit. Durch spezielles Training werden die Faszien aber nicht nur stark, sondern auch sehr flexibel. Je geschmeidiger das Fasziengewebe ist, desto belastbarer und weniger anfällig ist es für Schmerzen.
Die Faszien geben den Muskeln die Struktur
Doch genauso wie Muskeln können auch Faszien überlasten, verhärten bzw. verkümmern, wenn sie entweder falsch oder gar nicht gefordert werden. So können Verletzungen, Narbenbildung, Entzündungen oder immer wiederkehrende Überlastung die Struktur der Faszien verändern und die Elastizität verringern.
Während Muskeln elastisch sind und immer wieder schnell in ihre Ursprungsposition zurückkehren, sind Faszien dagegen plastisch. Sie nehmen oft die Form und Beschaffenheit an, die ihnen abverlangt wird. Können sie diese Anforderungen nicht leisten, »verfilzen« sie beziehungsweise bilden sogenannte Cross-Links (Querverbindungen) oder reißen gar.
Wenn beispielsweise der Schulter-Nacken-Bereich aus dem Lot gerät, ist meist der Nacken überstreckt und der Schulter- und Brustbereich verkürzt. Dann vernetzen sich die Faszien in diesem Bereich verstärkt.
CROSS-LINKS
Nach längeren Fehlhaltungen, Verletzungen oder einer Ruhigstellung kann eine Faszie sogenannte Cross-Links bilden. Diese Querverbindungen können die Dehnfähigkeit des Bindegewebes negativ beeinflussen und so auch die Beweglichkeit verschlechtern. Durch regelmäßiges Training lassen sich Cross-Links einerseits verhindern, andererseits auch wieder auflösen. Bei besonders extremen Querverbindungen muss allerdings ein Therapeut im ersten Schritt diese ausfindig machen und mit der Erstbehandlung beginnen.
Hartes Training oder starke Gewebebelastung allgemein führen immer zu Mikrozellverletzungen im Muskel- und Fasziengewebe (sogenanntem Muskelkater). Die Folge sind etliche minimale Entzündungsherde, die durch das gleichzeitige Vorhandensein von Stoffwechselzwischen- und -endprodukten zusätzlich gefördert werden und das myofasziale (myo = Muskel, faszial = Faszie) Gewebe verkleben können.
Zudem sind die Faszien mit ihrer Gitternetzstruktur aus Kollagen und Elastin wesentlich weniger flexibel als Muskelfasern. Dies ist auch der Aufgabe des Bindegewebes geschuldet, den Muskel vor Überdehnung oder gar Rissen zu schützen. Sind nun die Faszien nicht ausreichend mit Flüssigkeit versorgt, steigt das Risiko eines Überstrapazierens der Faszien erheblich. Diese Gefahr besteht besonders bei starken, ruckartigen Bewegungen. Denn die spröden Faszien sind nicht mehr widerstandsfähig genug und anfällig...