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KAPITEL 1
DIE WICHTIGKEIT VON FAMILIE
»Für mich geht es um die Grundfrage: Wem folge ich? Und meine Kinder merken sehr genau, wem ich folge, nämlich Jesus.«
ANDREAS
»Also, was ist christliche Erziehung? Gar nicht so leicht zu beantworten.«
MELANIE
Über fast kein anderes Thema wird in Medien und unter Fachleuten so dauerhaft und kontrovers diskutiert wie über Familie. Die einen sehen das Ende der traditionellen Familie gekommen und beklagen, dass immer weniger Menschen heiraten, immer weniger Kinder geboren werden und die Vielfalt an familiären Lebensformen inflationär zunimmt. Die anderen sehen gerade in dieser Pluralisierung das Überleben der Familie gesichert und verweisen auf neue Konzepte des Zusammenlebens (Mehrgenerationenhaushalte etc.). Alle aber betonen letztlich die Wichtigkeit von Familie.
Auch in der Bevölkerung hat die Familie – allen Unkenrufen zum Trotz – eine ungebrochen hohe Bedeutung. 81 Prozent der Ostdeutschen und 75 Prozent der Westdeutschen sehen Familie und Kinder als sehr wichtig an. Und so kommt der 14. Familienbericht der Bundesregierung zu dem Ergebnis: »Für mehr als 90 Prozent der Bevölkerung war es die größte Freude im Leben, zu beobachten, wie Kinder groß werden (93 Prozent West- und 96 Prozent Ostdeutschland).«2 Schaut man auf die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes (2014), dann macht die klassische Familie (mit verheirateten leiblichen Eltern) mit 70 Prozent immer noch das Gros aus, gefolgt von Alleinerziehenden mit 20 Prozent. Erst dann kommen mit gerade einmal 10 Prozent neue familiäre Formen des Zusammenlebens wie beispielsweise Patchworkfamilien, Familien mit unverheirateten Eltern, Lebensgemeinschaften oder homosexuelle Paare mit Kindern.3 Die Form der Familie hat sich immer gewandelt, aber bei Weitem nicht so drastisch bzw. nicht so, wie viele Menschen denken und manche Medien sensationsheischend verbreiten.
Dennoch verändert sich in den Familien sehr vieles. Dazu darf man aber nicht nur die äußere Form betrachten, sondern muss auch die innere Rollenverteilung, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, die Art und Weise der Erziehung, die Kommunikation in Familien u. v. m. in Betracht ziehen – in all diesen Bereichen sind die Umbrüche in den letzten Jahren viel gravierender als bei den äußeren Erscheinungsformen. Folgt man dem Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, so hat sich die Rollenteilung innerhalb der Familien verändert vom klassischen Alleinverdienermodell hin zu eher partnerschaftlichen Varianten:4
Vater alleinverdienend (Ernährer-Modell) | 30 % |
Vater Vollzeit, Mutter Teilzeit (Hinzuverdiener-Modell) | 44 % |
Beide Eltern Vollzeit (partnerschaftlich-egalitäres Modell) | 14 % |
Sonstige Konstellationen | 12 % |
Und das ist nur ein Aspekt. Die Veränderungen in der Rollverteilung bringen vor allem Väter dazu, sich stärker an der Kindererziehung zu beteiligen. Doch wie nachhaltig und intensiv prägen sie diese? Und verändert sie sich dadurch? Auch geänderte Erziehungsstile ziehen reichlich Diskussionen nach sich. Die einen fordern das Setzen von klaren Grenzen und eine Rückkehr zu Disziplin und Anstand, damit die Kinder zu Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft werden (zum Beispiel Bernhard Bueb in »Lob der Disziplin« oder Michael Winterhoff in »Warum unsere Kinder Tyrannen werden«). Die anderen fordern Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, weil die Kinder schon als eigene Persönlichkeiten auf die Welt kommen und nur so weiter reifen und gedeihen können (zum Beispiel Jesper Juul in »Dein kompetentes Kind« oder Haim Omer in »Stärke statt Macht«). Schauen wir auf die Diskussion in den Medien oder im Internet, könnte sie kaum kontroverser geführt werden.
Und die christliche Familie? Was macht die?
Welche Auswirkungen haben all diese Veränderungen und Diskussionen auf Familien, die bewusst sagen, dass sie ihre Kinder christlich erziehen wollen? Und was heißt »christlich« überhaupt? Ist dieser Begriff nicht sehr weit und wird teilweise inflationär gebraucht?
Ein geradezu typisches Zitat für das befürchtete Aussterben der Familie ist dieses: »Die gegenwärtige Moralrevolution zerstört die Familie. Entweder ist die Bibel Gottes Wort und dann ist sie auch unfehlbar oder der Mensch entscheidet darüber, was für ihn verbindlich ist und was nicht. Die dann entstehenden Ideologien haben deutliche Folgen für das Leben, wie die Entwicklungen auf dem Gebiet von Ehe und Familie zeigen. Es gibt Gründe für die moralische Zerstörung der Familie. Nur eine konsequente Rückkehr zu biblischen Maßstäben kann dagegen helfen.«5 Die Frage ist natürlich, zu welchen biblischen Maßstäben hier zurückgekehrt werden soll.
Auch beim Verständnis, was eine christliche Familie ist oder sein sollte, gibt es eine große Bandbreite von Meinungen. Auf der einen Seite sind da die Verteidiger traditioneller Werte und Familienformen, die sich unter dem Motto »Demo für alle. Ehe und Familie vor« lautstark bei Demonstrationen in verschiedenen Städten Deutschlands Gehör verschaffen. Auf der anderen Seite gibt es die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken«, die viele Veränderungen als positive Entwicklung deutet und die Vielfalt modernen Zusammenlebens bereits in der Bibel verwurzelt sieht.
Auch hier ist also festzustellen, dass die Diskrepanzen kaum größer sein könnten. Uns geht es in diesem Buch nicht um die Frage, wer genau recht hat, sondern die Analyse, wie eine typische, durchschnittliche, engagierte christliche Familie mit all diesen Veränderungen und Diskussionen umgeht. Wie gestaltet sie konkret ihren Familien- und Erziehungsalltag? Und was daran ist eigentlich christlich? Bevor wir diesen Fragen nachgehen, wollen wir uns jedoch zunächst kurz ansehen, welche Rolle die Familie in der Bibel spielt.
Familie spielt in der Bibel in vielerlei Hinsicht eine besondere Rolle. Gott selbst wird oftmals mit menschlichen oder menschenähnlichen Zügen dargestellt und mit Familienrollen beschrieben. Das ist gerade im Hinblick auf Eltern-Kind-Gespräche über den Glauben von Bedeutung, da sich Kinder Gott in Gestalt eines menschlichen Körpers vorstellen bzw. mit einem erkennbaren Gesicht mit Augen, Nase, Ohren, Mund und Haaren. Am bekanntesten ist sicherlich Gott als Vater, wie er zum Beispiel im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lukas 15) vorkommt. Es gibt darüber hinaus noch viele andere Bilder von Gott, die aus der familiären Erfahrungswelt stammen. So wird beispielsweise die Treue Gottes zu den Menschen mit der barmherzigen, tröstenden und mitfühlenden Liebe einer Mutter (Jesaja 49,14; 66,13) verglichen. Überhaupt enthalten viele Bilder die mütterliche Seite Gottes (Gott als gebärende Frau, als stillende Mutter, als Geburtshelferin etc.). Die besondere Bedeutung der Familie rührt daher, »dass ohne sie Aussagen über Gott und sein Verhältnis zu den Menschen anscheinend nicht ausreichend verstanden werden können«6. Wir können Gott also nur über unsere Erfahrungen mit Familie und mit konkreten Müttern und Vätern verstehen. Der Religionspädagoge Michael Domsgen weist darauf hin, wie wichtig diese Grunderfahrung überhaupt für Kinder ist: »Von entscheidender Bedeutung ist die Erfahrung, als von seinen Eltern erwünschtes und geliebtes Kind aufwachsen zu dürfen.«7
Im Kontext des Alten und Neuen Testaments wird unter dem Begriff Familie jedoch nicht die bürgerliche Familie aus Vater, Mutter und Kindern verstanden, sondern das ganze Haus und damit alle Personen, die dieser Hausgemeinschaft angehören. Teil dieser Familie sind meist auch Hauslehrer, Sklaven und Familienangehörige aus mehreren Generationen und teils ferneren Verwandtschaftsgraden. Kinder gelten in solch einer Gemeinschaft als Geschenk Gottes (Psalm 127,3) und spielen eine zentrale Rolle.
Das biblische Bild von Familie ist dabei nicht, wie oft missverstanden, normativ, will also kein festes Muster von Familie vorgeben und alle anderen Formen des Zusammenlebens als defizitäre Abweichung von der Norm abwerten. Vielmehr lenkt es den Fokus auf das spezielle Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Mitgliedern. Familie diente bereits in alttestamentlichen Zeiten zur Reflexion des Gottesglaubens, quasi als Mikrokosmos, um die Beziehung der Menschen zu Gott zu verdeutlichen. Die Liebe zu den Menschen und die Liebe zu Gott lässt sich biblisch-theologisch nicht trennen und stellt die Grundlage aller weiteren Beziehungen da (3. Mose 19,18; Matthäus 22,34-40). In der Beziehung zu Gott wird die Geborgenheit gefunden, die sich dann auch in der Familie widerspiegelt und umgekehrt. Dabei gibt es wie gesagt nicht eine biblische Idealform von Familie, sondern diese wandelt sich mit der Zeit: von der Familie im Alten Testament als Sippe, der der »pater familias« (Familienoberhaupt) vorsteht, zu der Frauen, Kinder und Sklaven gehören und die oftmals mit »Vaterhaus« (bêt ’āv) bezeich net wird, hin zum »Haus« (οἶκος) im Neuen Testament.8 Die Bibel kennt also die soziale Gestalt der modernen Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind nicht, sondern sammelt unter den genannten Begriffen Bewohner eines ganzen...