Vor dem Spiel ist nach dem Spiel
Anstöße zum Ankick
Dimitri Schostakowitsch steht im großen Zimmer. Auf dem Pult des Flügels hat er die Partitur von Opus 22 aufgeschlagen, ein Foto von elf Sportlern liegt daneben. Der blasse Komponist mit seiner dicken Brille sieht sich um. Seine Augen huschen hin und her; die Freunde im Stadion deuten das als Nervosität. Ja, es sind genügend Stühle im Raum, er hat sie aus allen Winkeln der Wohnung hergetragen. Seine Mannschaft kommt zu Besuch. Er setzt sich ans Fenster. Wenn ihm eine Melodie im Kopf herumgeht, blickt er oft hinunter, als könne er sie auf dem Muster der Pflastersteine festhalten. Er nimmt ein Heft zur Hand und blättert. Da stehen keine Musiknoten. Bei der Tabelle der letzten Saison bleibt er hängen. Er hat nicht notiert, wer in Tiflis das Tor nach dem Corner geköpft hat. Er wird sie fragen. Es klingelt.
Der Fußball ist voller Geschichten, Mythen, Legenden. Nach den überlieferten Fakten kann man sich die Szene in Leningrad zur Stalin-Ära so vorstellen.
Dimitri Schostakowitsch war Anhänger von Stalinez, er hatte die Schiedsrichterschule absolviert. Fußball, meinte er, vermöge geistig zu fesseln. Faszinierend sei die Mischung aus diesen wenigen Regeln und der spielerischen Kreativität auf überschaubar abgegrenztem Feld. Was da durch Engagement und Inspiration entstehe, das sei das Gegenteil des totalitären Regimes.
Der Fußball war für Schostakowitsch ein Gefilde, in das er sich zurückziehen konnte, um die Angst vor der Verhaftung zu verdrängen, zumindest für ein paar Stunden. Allerdings saßen auch die Diktatoren auf den Tribünen. Das wusste er, das sah er. Porträts von Stalin hingen riesig über den Stadioneingängen.
1929 erhielt der Komponist, der vier Jahre zuvor mit seiner ersten Sinfonie weltweite Anerkennung gefunden hatte, den Auftrag für die Ballettmusik zu einem Fußballstück. Selbstverständlich mussten dekadente Kapitalisten von der klassenbewussten sozialistischen Mannschaft geschlagen werden. Das Goldene Zeitalter heißt dieses Opus 22. Die vierte Szene des zweiten Akts bringt ein Match auf die Bühne, das offenbar ohne Schiedsrichter und ohne ersichtliche Regeln abläuft, jedoch den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Teams vorführt.
Nachweislich begann sich Dimitri Schostakowitsch Ende 1930 leidenschaftlich mit dem Fußball zu beschäftigen. Er ging ins Stadion, fuhr zu Auswärtsmatches nach Moskau und sogar nach Tiflis; in Briefen an Freunde berichtete er davon. Er las Sportzeitungen, hörte Reportagen im Radio. Über die Spiele führte er Buch, er notierte die Tabellen. Und während die offizielle Presse die Torschützen nicht nennen durfte, weil alles ja ein Sieg des Kollektivs sein musste, listete der Komponist sie peinlich genau auf. Einige Spieler von Stalinez Leningrad kannte er persönlich, und einmal lud er die ganze Mannschaft zu sich nach Hause ein.
Heute heißt der Verein Zenit St. Petersburg, einer seiner Anhänger ist Wladimir Putin.
»Das Stadion«, soll Schostakowitsch in der Stalin-Ära gemeint haben, »ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht.«
Seinen Aufstieg erlebte der Fußball mit der Industrialisierung und der Entwicklung der modernen Massengesellschaft.
Bald nachdem sich 1863 in England einige Gentlemen auf das erste Regelwerk geeinigt hatten und dieses Association Game zur (fast) weltweiten Popularität gelangt war, lieferte es seine Bilder für das kollektive Gedächtnis und für die Massenmedien. In Europa und in Südamerika brachten ab den 1920er Jahren einige Filme bekannte Kicker sowie Szenen in Stadien und in ihrem Umkreis auf die Leinwand. Seitdem der Fußball im Fernsehen fast täglich präsent ist und digitale Techniken es ermöglichen, auch historische Spielsituationen realistisch nachzustellen, nimmt sich das Kino verstärkt dieses Feldes an.
Doch der moderne Fußball war zunächst eine elitäre Angelegenheit, er kam aus den englischen Colleges. Einen Vertreter dieser Hohen Schulen, einen Professor für Philosophie, sehen wir im Flugzeug sitzen. Sein Nachbar schläft, ein Erotik-Magazin liegt neben ihm. Der Professor nimmt es und beginnt zu blättern, er interessiert sich für das Populäre. Als ihn ein Kollege von schräg hinten anspricht, steckt er peinlich ertappt das Pornographische ins Philosophische des Tagungsprogramms. Er reist ins kommunistische Prag zum »Colloquium philosophicum« – vorrangig allerdings zu einem anderen Populären, zum Ländermatch, bei dem es um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft geht.
Wir sind im Film Professional Foul, den Tom Stoppard 1977 für die BBC geschrieben hat. Über den Wolken lässt er sprachphilosophische Überlegungen anstellen: Sagen wir, was wir meinen; meinen wir, was wir sagen? Im Prager Hotel wird der akademische Fan von einem jungen Tschechen bedrängt, der kurz bei ihm in England studiert hatte und nun in Busstationen putzt. Er will, dass der Professor seine Doktorarbeit über korrektes Verhalten und kollektive Ethik zur Publikation außer Landes schmuggelt. Der junge Mann wird verhaftet, der Professor von der Geheimpolizei festgehalten, so dass er nicht zum Match kann. Er hört es als Radioreportage – auf Tschechisch. Zu deuten vermag er einzig den übertragenen Lärm der Stadionmasse, einen schrillen Pfiff und das Wort »Penalty«. Die CSSR gewinnt durch einen Elfmeter; das »professionelle Foul« des englischen Kickers entspricht dem »professional foul« der Polizei. Und als der Philosoph wieder in seinem Hotel ist, hört er nacheinander zwei britische Journalisten ihre Matchberichte per Telefon durchgeben – als handle es sich um zwei völlig verschiedene Spiele.
Stoppard liefert ein Bespiel für Zusammenhänge zwischen Fußball, Sprache, Politik und Ethik. Wie in jedem sozialen Feld entwickelte man mit der Reglementierung des Fußballs eine Sprache, in ihr finden sich sowohl Wertigkeiten des Spiels als auch ein paar Werte der Gesellschaft ausgedrückt. Dabei stellt sich die Frage, wie sich über die bewegten Bilder berichten, vom Spiel und seinem Umfeld etwas vermitteln lässt. Und obwohl von der Entstehung des modernen Sports an, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zunächst aus den Eliten stammenden Betreiber seine politische Neutralität betonten, wurden sehr bald politische, somit auch ethische Implikationen ersichtlich. Von Elias Canetti wissen wir, dass die Masse im Stadion ein Fall kollektiver Ethik ist. Bei Stoppard spricht ein Professor darüber, der eigentlich lieber beim Match im Stadion wäre.
Fernab der Colleges und der Philosophie sind wir in einem anderen Film. Der Postmann Eric Bishop in Manchester sackt ab, nichts geht mehr in seinem Leben. Er ist depressiv, hat Panikattacken, bis er sich selbst töten will. Da erscheint ihm Eric Cantona, der französische Angreifer, den die Fans von Manchester United zum Jahrhundertspieler ihres Vereins gewählt haben. Der Exzentriker mit der Nummer 7 bringt für den armen Postboten wieder alles ins Lot, wie ein Lebensphilosoph vom grünen Rasen. Man müsse aktiv sein und Risiken nicht scheuen, sonst brauche man gar nicht erst aufs Feld zu laufen, erklärt er. Auf die Frage, welches der beste Moment seiner Karriere gewesen sei, erzählt er nicht von einem Tor, sondern von einem genialen Pass, der ihm gegen Tottenham gelungen war. Looking for Eric heißt der Streifen von Ken Loach, der 2009 in die Kinos kam.
Die Begeisterung für das Spiel und ein Idol vermag nicht nur Emotionen zu wecken, zu Tode betrübt oder stadienhoch jauchzend, sondern auch geradezu metaphysische Hoffnungen; aus dem Fußball kann eine existentielle Haltung gezogen werden. Bei Loach konzentriert der Star in seiner Person, was der Fußball den Fans zumindest zeitweilig bieten kann: eine Lebenshilfe.
Sieben Jahre zuvor war Bend it like Beckham von Gurinder Chadha auf der großen Leinwand zu sehen gewesen (im deutschen Verleih Kick it like Beckham). Da sind wir abseits der gewöhnlichen Pfade. Die Tochter einer indischen Familie in England ist eine äußerst begabte Spielerin und muss sich gegen das elterliche Traditionsbewusstsein durchsetzen, bis sie am Ende ein Fußball-Stipendium an einer US-Universität bekommt. Diese Eloge des Frauenfußballs und die befreiende Wirkung des Kickens wurde für den Europäischen Filmpreis nominiert, in Locarno, Sydney, Marrakesch ausgezeichnet und fand Eingang in die Simpsons. In der Folge Marge online, die 2007 ausgestrahlt wurde, mit Ronaldo als Gaststar, ist Homer Schiedsrichter, foult einen Referee-Assistenten per Kopfstoß, wie Zinedine Zidane gegen Italiens Materazzi im WM-Finale 2006 – und Lisa entdeckt durch Bend it like Beckham ihr Interesse am Fußball.
Kulturräume tun sich auf; Signale eines kollektiven Gedächtnisses schaffen Bestandteile eines weiten kulturellen Reservoirs, Medienbilder stoßen neuerliche Erzählungen an.
Ganz am Rande der üblichen Spielfelder sind wir im Dokumentarstreifen Kick off, den Hüseyin Tabak 2010 herausgebracht hat. Dafür erhielt er den Wiener Filmpreis und wurde vom Publikum bei den Festivals in Graz und Salzburg prämiert. Er zeigt, wie sich die österreichische Mannschaft für den Homeless World Cup 2008 vorbereitet und im australischen Melbourne spielt. Der ehrenamtliche...