Wörter und Realität
In den Nachwehen von 9/11 entspann sich eine weitere semantische Debatte, deren Konsequenzen sogar noch schwerwiegender waren als die Milliarden von Dollar, die beim Zählen der Ereignisse jenes Tages auf dem Spiel standen. Diese andere Debatte betrifft einen Krieg, der weitaus mehr Geld und Menschenleben gekostet hat als die ursprünglichen Anschläge von 9/11 und der den Lauf der Geschichte möglicherweise für den Rest des Jahrhunderts beeinflussen wird. Die Diskussion dreht sich um die Bedeutung einer weiteren Abfolge von Wörtern – 16 Wörtern, um es genau zu sagen:
The British government has learned that Saddam Hussein recently sought significant quantities of uranium from Africa.
Die deutsche Übersetzung lautet:
Die britische Regierung hat in Erfahrung gebracht, dass Saddam Hussein vor kurzem beträchtliche Mengen Uran aus Afrika beschaffen wollte.
Der englische Satz stammt aus der Rede zur Lage der Nation, die George W. Bush im Januar 2003 hielt. Er nahm Bezug auf Geheimdienstberichte, nach denen Saddam möglicherweise versucht hatte, 500 Tonnen eines Uranerzes namens Yellowcake aus Quellen in Niger in Westafrika zu kaufen. Für viele Amerikaner und Briten war die potentielle Gefahr, dass Saddam Nuklearwaffen bauen würde, der einzige vertretbare Grund, in den Irak einzumarschieren und Saddam zu entmachten. Im Frühling jenes Jahres erfolgte die Invasion unter Führung der Vereinigten Staaten; es war die am heftigsten kritisierte Initiative der amerikanischen Außenpolitik seit dem Vietnamkrieg. Im Laufe der Besatzung wurde klar, dass Saddam über keinerlei Vorrichtungen verfügte, um Nuklearwaffen herzustellen, und wahrscheinlich nie in Betracht gezogen hatte, Yellowcake aus Niger zu beziehen. Plakate und Schlagzeilen überall auf der Welt verkündeten: »Bush hat gelogen.«
Doch tat er das wirklich? Die Antwort ist nicht so offenkundig, wie Anhänger beider Seiten vielleicht meinen. Nachforschungen des britischen Parlaments und des US-Senats ergaben, dass der britische Geheimdienst tatsächlich glaubte, Saddam würde versuchen, Yellowcake zu kaufen. Sie zeigten, dass die Indizien, die den britischen Geheimdienstoffizieren zu jener Zeit vorlagen, nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber auch bei weitem nicht wasserdicht waren. Und sie enthüllten, dass die amerikanischen Geheimdienstexperten die Korrektheit des Berichts anzweifelten. Wie sollen wir angesichts dieser Fakten entscheiden, ob Bush gelogen hatte? Dabei geht es nicht darum, ob es unklug von ihm war, dem britischen Geheimdienst Glauben zu schenken, oder ob er auf der Grundlage vager Informationen ein kalkuliertes Risiko einging. Es geht darum, ob er nicht ehrlich war, als er der Welt diesen Teil seiner Begründung für die Invasion verkündete. Und die Beantwortung dieser Frage hängt an der Bedeutung eines jener 16 Wörter, an dem Verb learn (bzw. in Erfahrung bringen, das sich semantisch genauso verhält).[5]
In Erfahrung bringen ist, wie Linguisten sagen, ein faktives Verb. Es impliziert, dass die dem Subjekt zugeschriebene Überzeugung wahr ist. Insofern entspricht es dem Verb wissen und unterscheidet sich von dem Verb glauben. Sagen wir einmal, ich habe einen Freund namens Mike, der fälschlicherweise annimmt, dass bei der Bundespräsidentenwahl 1949 Kurt Schumacher über Theodor Heuss triumphierte. Ich könnte dann wahrheitsgemäß sagen Mike glaubt, dass Schumacher Heuss geschlagen hat, aber nicht Mike weiß, dass Schumacher Heuss geschlagen hat, denn Schumacher hat Heuss in Wahrheit nicht geschlagen. Mike mag durchaus glauben, dass es so war, aber Sie und ich wissen, dass es nicht so war. Aus demselben Grund könnte ich nicht wahrheitsgemäß sagen, Mike habe zugegeben, entdeckt, beobachtet, sich daran erinnert, gezeigt oder (!) in Erfahrung gebracht, dass Schumacher Heuss geschlagen hat.
Das englische learn hat zwar auch noch die Bedeutung »lernen«, und die ist nicht faktiv. So kann ich sagen Auf dem Gymnasium haben wir gelernt, dass es vier Geschmacksqualitäten gibt, obwohl ich heute dank einer jüngeren Entdeckung weiß, dass es fünf sind. Doch normalerweise wird learn, und vor allem have learned, faktiv verwendet und bedeutet dann »eine wahre Information erlangen«.
Menschen sind also im philosophischen Sinne »Realisten«. Sie gehen in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch stillschweigend davon aus, dass bestimmte Aussagen wahr oder falsch sind, ganz unabhängig davon, ob die Person, über die man spricht, sie für wahr oder falsch hält. Faktive Verben leiten eine Aussage ein, von der die jeweiligen Sprecher annehmen, dass sie unter allen Umständen wahr ist, und nicht nur etwas, was sie für sehr wahrscheinlich halten. Es ist kein Widerspruch zu sagen Ich bin ganz sicher, dass Oswald Kennedy erschossen hat, aber ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Aus diesem Grunde umweht faktive Verben immer ein Hauch des Paradoxen. Niemand kann sich der Wahrheit sicher sein, und die meisten von uns wissen, dass wir uns niemals sicher sein können, und doch verwenden wir ständig mit lauterem Herzen faktive Verben wie wissen und erfahren und sich erinnern. Wir müssen von einer intuitiven Gewissheit erfüllt sein, die so stark und durch allgemeingültige Sprecher-Hörer-Regeln so sehr abgesichert ist, dass wir bereit sind, für die Wahrheit einer bestimmten Überzeugung zu bürgen, obwohl uns im Allgemeinen (wenn auch mutmaßlich nicht in diesem speziellen Fall) bewusst ist, dass unsere Behauptungen falsch sein können.
Mark Twain schöpfte aus der Semantik der faktiven Verben, als er schrieb: »Das Problem auf dieser Welt ist nicht, dass die Menschen zu wenig wissen, sondern dass sie so viele Dinge wissen, die nicht zutreffen.«[6] (Angeblich schrieb er auch: »Als ich jünger war, konnte ich mich an alles erinnern, egal ob es passiert war oder nicht; nun aber lassen meine geistigen Kräfte nach, und bald … werde ich mich [nur] noch an die Dinge erinnern, die nie geschehen sind.«)
Hat Bush also nun gelogen? Vieles spricht dafür. Indem Bush sagte, die britische Regierung hätte »in Erfahrung gebracht«, dass Saddam sich Uran beschaffen wollte, schloss er sich der Behauptung an, dass die Bemühungen um den Urankauf wirklich erfolgt waren, und nicht, dass die britische Regierung dies nur glaubte. Falls er damals Grund für berechtigte Zweifel hatte – und sein Regierungsstab wusste von der Skepsis des amerikanischen Geheimdienstes –, enthielten die 16 Wörter tatsächlich eine wissentliche Unwahrheit. Laut Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der Bush in Schutz nahm, war die Aussage »technisch korrekt«, und die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice fügte hinzu, dass »die Briten dies gesagt« hätten. Doch hier ist der Austausch der Verben zu beachten: Bush hatte nicht behauptet, die Briten hätten gesagt, dass Saddam Yellowcake erwerben wollte. Das hätte der Wahrheit entsprochen, ungeachtet dessen, was Saddam wirklich getan hatte. Bush hatte behauptet, die Briten hätten es in Erfahrung gebracht, und das konnte nur der Wahrheit entsprechen, wenn Saddam tatsächlich auf Einkaufstour gegangen war. Es war also die Logik der Faktivität, auf die sich Bushs Kritiker stillschweigend beriefen, als sie ihn der Lüge bezichtigten.
Ein Präsident kann aufgrund einer Lüge angeklagt werden, insbesondere wenn diese in einen schrecklichen Krieg mündet. Können aus der Semantik wirklich solche Folgen für die Politikgeschichte erwachsen? Ist es plausibel, dass das Schicksal eines amerikanischen Präsidenten von den feinen Bedeutungsnuancen eines Verbs abhängt? In Kapitel 4 kehren wir zu dieser Frage zurück; dort werden wir sehen, dass die Bedeutung des Wortes is dabei eine wichtige Rolle spielt.
Wörter sind mit der Realität verknüpft, wenn ihre Bedeutungen, wie bei den faktiven Verben, davon abhängen, ob die Sprecher sich der Wahrheit verpflichten. Wörter können aber auf eine andere Weise noch direkter mit der Realität verbunden sein. Sie geben nicht nur im Kopf von Menschen gespeicherte Fakten über die Welt wieder, sondern sind unmittelbar mit dem Kausalgewebe der Welt an sich verwoben.
Natürlich ist eine Wortbedeutung von irgendetwas abhängig, das sich im Kopf befindet. Neulich stolperte ich über das Wort siderisch und musste einen belesenen Freund fragen, was es bedeutet. Nun kann ich es auch dann verstehen und verwenden, wenn mein Freund nicht in der Nähe ist (es bedeutet »auf die Sterne bezogen«, wie in siderischer Tag, der die Dauer einer Erdumdrehung in Relation zu einem Fixstern beschreibt). Etwas in meinem Gehirn muss sich in dem Moment, in dem ich das Wort gelernt habe, verändert haben, und eines Tages können uns kognitive Neurowissenschaftler vielleicht sagen, worin diese Veränderung besteht.
Natürlich lernen wir ein Wort meistens nicht dadurch, dass wir es nachschlagen oder jemanden fragen, sondern indem wir es in einem bestimmten Zusammenhang hören. Doch wie auch immer man ein Wort lernt – es muss im Gehirn irgendeine Spur hinterlassen. Die Bedeutung eines Wortes scheint also aus Informationen zu bestehen, die in den Köpfen der Personen, die das Wort kennen, gespeichert sind – aus den elementaren Konzepten, die es definieren, und, bei einem konkreten Wort, aus...