Stationen der Kindheit und Jugend
VON BERLIN NACH DÜSSELDORF
Am 19. Februar 1877, die Einwohnerzahl des wild wuchernden Berlins überschritt gerade die Millionengrenze, wurde Gabriele Münter geboren. Die Adresse der Beletage Unter den Linden 58 war repräsentativ und entsprach dem amerikanischen Traum ihres Vaters Carl Friedrich Münter, den er einst in New York begonnen hatte zu träumen und den er in Deutschland zu vollenden suchte. Im Berliner Adressbuch zuletzt als »Amerikanischer Dentist und Hof-Zahnarzt« eingetragen, war der Westfale Münter, 1826 geboren, als 23-Jähriger zusammen mit einem Freund nach Amerika ausgewandert, wohl auch, um als liberaler Geist, der sich in den Jahren der deutschen Revolution von 1848 verfolgt sah, seine Ideale in der Ferne leben zu können.
Glaubt man den Aufzeichnungen von Münters späterem Lebensgefährten, dem Kunsthistoriker und Philosophen Johannes Eichner, so hat die Emigration nicht ganz freiwillig stattgefunden. Der Überschwang seiner Freiheitsrhetorik soll dazu geführt haben, dass Carl Friedrichs Vater, seinerseits Steuerbeamter in den Diensten des Königs, den aus der Art geschlagenen Sohn mittellos in Richtung Vereinigte Staaten einschiffte.2
Dort begann er nach der Landung in New York als Krämer in Quincy (Illinois), einem Städtchen, dessen Architektur im South Side District – wegen der zahlreichen dort gehaltenen Kälber auch Calftown genannt – bis heute von den deutschen Einwanderern zeugt. Die Hälfte der ansässigen Jakobi-Gemeinde bestand um 1850 wiederum aus ehemaligen Herfordern. 1852 heiratete Carl Friedrich Münter in der lutherischen St. James Church Mary Lucinde Richardson, eine junge Witwe, die ihn wiederum bald zum Witwer machte.
Den Grundstein für einen sozialen Aufstieg legte schließlich ein Studium am Dental College von Cincinnati, nach dessen Abschluss er eine zweite Ehe einging. An der Seite von Wilhelmine »Minna« Scheuber, der robusten Tochter eines ebenfalls in die USA ausgewanderten Schreiners und Holzhändlers, lebte Carl Friedrich Münter ab 1857 in verschiedenen Orten Tennessees, in Jackson, in Nashville und schließlich im Städtchen Savannah, wo das Paar einen Drugstore mit angeschlossener Zahnarztpraxis führte.
Inwieweit das Leben in einem Staat mit 270 000 Leibeigenen und in einer Gemeinde mit weniger als 500 Einwohnern mit seinem Freiheitsgeist in Einklang zu bringen war, lässt sich schwer sagen, er selbst hatte aber offenbar keine Hemmungen, seinerseits in Haus und Praxis »Negersklaven« zu beschäftigen. Dennoch, so merkte Gabriele Münter in späten Erinnerungen an, begegnete man den deutschen Emigranten mit Skepsis. Schon weil sie als Kaufleute, anders als die Plantagenbesitzer, nicht so dringend auf billige Arbeitskräfte angewiesen waren und sich auch deshalb Vorbehalte gegen die Sklaverei leisteten. »Die meisten waren außerdem als politische Flüchtlinge, die an die Menschenrechte glaubten, in die Staaten gekommen. Sie erregten bei den Nachbarn den Argwohn, auf Seiten der Gegner der Sklaverei, das heißt der Nordstaaten, zu stehen.«3
Carl Friedrich Münter konnte während seiner amerikanischen Jahre beobachten, wie der Nord-Süd-Konflikt eskalierte, wie nicht nur die Frage der Sklaverei, sondern vor allem die gegensätzlichen Vorstellungen von der Souveränität der Einzelstaaten gegenüber dem Bund immer mehr polarisierten und 1861 zum Sezessionskrieg führten. Als der Krieg im April des folgenden Jahres auch nach Savannah kam und die Schlacht von Shiloh direkt vor seiner Haustür ausgetragen wurde, mögen sich die Zweifel erhärtet haben. Spätestens mit dem Gedanken an die Zukunft seiner noch ungeborenen Kinder sah er im Jahr darauf endgültig den Zeitpunkt gekommen, den Vereinigten Staaten wieder den Rücken zu kehren. Ab 1864 war er in Berlin registriert, und während der kommenden 13 Jahre kamen hier seine vier Kinder zur Welt: August (1865), Carl Theodor (1866), Emmy (1869) und Gabriele (1877).
Abb. 2: Familie Münter um 1882. Sitzend die Eltern Wilhelmine und Carl Friedrich Münter, zwischen ihnen Gabriele und August, links Carl Theodor, rechts Emmy
Jahrelang hatte er im Wilden Westen überlebt, hatte, auch dank seiner zunächst als besonders fortschrittlich angesehenen amerikanischen Ausbildung, den gesellschaftlichen Aufstieg in Berlin geschafft und war mit dem Titel des Hof-Zahnarztes bekrönt worden, der später in Stein gemeißelt selbst noch auf seinem Grabstein prangen sollte. Jetzt aber schien es dem Nomaden an der Zeit, sich auf seine familiären Wurzeln zu besinnen, zumal er beim Gründerkrach 1873 spürbar Kapital an der Börse eingebüßt hatte und ein etwas bescheidenerer Lebenswandel angemessen schien. 1879 siedelte die Familie daher zunächst nach Herford über, wo sie ein repräsentatives Haus baute, um dann ins benachbarte Oeynhausen zu ziehen. Gabriele Münter verbrachte somit einen Großteil ihrer Kindheit im Norddeutschen Tiefland zwischen Wiehengebirge und Teutoburger Wald. Wirklich sesshaft wurden die Münters nie, und so fand sich die Familie bald schon in Koblenz wieder, wo Carl Friedrich Münter 1886 starb. Gabriele war neun Jahre alt. Nur zwei Jahre später – er hatte dem Beispiel seines Vaters folgend in den USA Zahnmedizin studiert – starb auch der älteste Sohn August.
Wilhelmine Münter blieb mit einer kleinen Tochter und zwei halbwegs erwachsenen Kindern zurück. Sie war immer die gradlinige Amerikanerin geblieben, hatte nie akzentfrei Deutsch gelernt und machte sich nichts aus feinem Gesellschaftsleben. »Durch ihr entwurzeltes Leben schritt sie gelassen und wortkarg, ohne einen Anflug von Gefühlszerrissenheit«, schrieb Eichner, auf den Erinnerungen Gabriele Münters basierend. »Überall bewegte sie sich mit der natürlichen Sicherheit eines Menschen, der in sich selbst fest ist und keinen falschen Schein kennt.«4
Die charakterlichen Parallelen zu ihrer jüngsten Tochter, die Eichner suggeriert, sind unverkennbar. Gabriele, seit Kindertagen nur »Ella« genannt, ist »nicht auf Wirkung bedacht; sie blieb innerlich. Das angeborene Sein und die unwillkürliche Regung bestimmten Tun und Lassen.« Äußerlich unscheinbar, bewahrte sie in sich doch das urwüchsige und unverbildete Enfant terrible, verweigerte nicht nur schulische Zwänge und füllte stattdessen freie Stellen ihrer Schulbücher mit Zeichnungen von Köpfen, was wiederum manche Bildungslücke zur Folge hatte, sondern bewahrte sich auch den Charme der Autodidaktin, der ihr gesamtes Dasein in allen Aspekten durchzog.5 Sie empfand sich von ihrer Mutter auf unbestimmte Art alleingelassen, ein Gefühl, dass ihr nicht so unangenehm war, wie es klingen mag, sondern ihr eine Quelle bedeutete, aus der sie für sich selbst schöpfen konnte: »Dass meine Vorfahren mir die künstlerische Begabung mitgegeben hätten, lässt sich weder nachweisen noch herausdeuten. Meine frühe Neigung zum Zeichnen kam ganz aus mir selbst und fand in meiner Familie so wenig Förderung wie in der Schule.«6 Dass Gabriele Münter das so vehement betont, ist auch vor dem Hintergrund der kunstgeschichtlichen Tatsache zu sehen, dass erfolgreiche Künstlerinnen auch im 19. Jahrhundert noch fast durchweg aus Familien stammen, in denen die Kunst bereits gepflegt wurde, Väter oder Brüder selbst als Künstler tätig waren und ein begabtes weibliches Familienmitglied in der eigenen Werkstatt einfach mit ausbildeten.
Nach durchgestandener Schulzeit stellte sich für die Tochter aus einem zugleich unkonventionellen und gutbürgerlichen Elternhaus die Frage nach dem weiteren Lebensweg. Zunächst konnte es für Außenstehende so scheinen, als ginge es auch für sie darum, die Zeit bis zu einer Eheschließung mit Gesellschaftsleben und musischem Dilettieren herumzubringen. Sie fuhr Schlittschuh und ritt aus, besuchte die Oper, komponierte Lieder, zeichnete, nahm Tanzstunden und verschlang wahllos Romane, okkultistische Literatur und lehrreiche Sachbücher – Brehms Tierleben war lebenslang ihre Lieblingslektüre.
Sie gehörte nicht mehr zur physisch-materiellen Pioniergeneration, die aus den preußisch-erstarrten Gesellschaftsmustern ausgebrochen war und in Selbständigkeit den sozialen Aufstieg geschafft hatte, sondern entpuppte sich als Protagonistin einer Generation, die eine innerlich-künstlerische Erneuerung anstrebte. Für ihr Potential besaß ihre Familie wenig Gespür, und doch war ihr selbst ihre Begabung zum zeichnerischen Begreifen der Dinge und Menschen so selbstverständlich, dass es der Anregung ihres Bruders Carl Theodor, genannt Charly, bedurfte, bevor sie mit 20 Jahren nach Düsseldorf ging, um einen Blick in den akademischen Kreativbetrieb zu werfen. Mehr als ein Blick war es auch nicht. Denn eine professionelle Ausbildung zur Künstlerin an staatlichen Kunstschulen blieb Frauen ohnehin weitgehend verwehrt, so dass ihnen nur der Weg zu privaten Akademien offenstand, die zum einen Geld kosteten und zum anderen überwiegend Dozenten beschäftigten, die es nicht oder noch nicht zum Professor an einer »richtigen« Akademie gebracht hatten und das Unterrichten des weiblichen Geschlechts folglich auch selbst als zweite Wahl betrachteten. Gabriele Münter mietete sich beim großväterlichen Morten Müller ein, dem norwegischen Meister, der mit wenigen Unterbrechungen seit 50 Jahren in Düsseldorf die Fjorde und Wälder seiner skandinavischen Heimat idealisierte. Die Weite und Sehnsucht, die diese Gemälde atmeten, wirkte bereits ein wenig aus der Zeit gefallen, als Münter bei ihm ihren Wohnsitz nahm, aber sie verfehlten bei der jungen Kunststudentin doch nicht ihre...