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I. Reich. Aber sexy?
Warum wir uns für die da oben interessieren sollten
Der erste reiche Mann in meinem Leben hieß Jürgen Hunke. Tag für Tag passierte unser Schulbus die Waldstraße in Großenheidorn, und da lag, am Morgen zur Rechten, am Mittag zur Linken, seine Villa. Wie ein Ufo schien sie gelandet zu sein zwischen all den Siedlungshäusern, Eternitfassaden und Jägerzäunen ringsum. Strahlend weiß getünchte Ziegelmauern umrahmten riesige, grün getönte Fensterfronten. Statt Regenrinnen waren an den Ecken des gewaltigen, einem asiatischen Tempel nachempfundenen Satteldachs schwarze Ketten gespannt, an denen entlang das Wasser in ein Bett aus Quarzkieseln rann. Zwei gusseiserne Doggen bewachten den Eingang, und lediglich verschlungene Initialen kündeten neben dem Portal vom Namen des Bewohners: JH.
»Da wohnt der Hunke«, erfuhr ich ziemlich schnell von meinem Mitschüler Mario. Jeden Morgen drehten die meisten Jungs im Schulbus den Kopf nach rechts und mittags nach links, um zu sehen, ob »der Hunke« zu Hause war. War er zu Hause, dann stand nämlich meist sein Ferrari in der Auffahrt der Vierfachgarage. Dieser Ferrari war für uns etwas Unerhörtes. Etwas, das die meisten ausschließlich aus dem Autoquartett kannten und einige wenige, die schon so lange aufbleiben durften, aus der Fernsehserie »Magnum«. Darin kurvte Tom Selleck mit solch einem Ferrari über die Insel Hawaii.
Jürgen Hunke galt bei uns im Ort als große Nummer. Als einer, der gerne auf Schultern klopfte und beste Beziehungen nach »ganz oben« hatte, was für uns damals hieß: zur Landesregierung unter Ministerpräsident Ernst Albrecht im 30 Kilometer entfernten Hannover. Hunke war Fraktionsvorsitzender der CDU im Stadtrat, galt als Wortführer im örtlichen Tennis- und Fußballklub.
Seine Villa und seinen Ferrari hatte sich Hunke als Chef eines Finanzvertriebs verdient. Hunke führte damals eine Vertretertruppe, die sich darauf spezialisiert hatte, Versicherungen an Jugendliche zu verkaufen. In den 80ern war seine Zeus Vermittlungsgesellschaft mit 800 Mitarbeitern einer der größten Assekuranzmakler in Deutschland. Allein von der Hamburger Dependance der Versicherungsgesellschaft Deutscher Ring kassierte Hunke 1982 Provisionen in Höhe von 70 Millionen Mark und sorgte dort zeitweilig für ein Drittel des gesamten Neugeschäfts.
All diese Details kannte ich aus einem längeren Artikel im Spiegel, der 1983 erschienen war und noch Jahre später bei uns im Örtchen von jenen herumgereicht wurde, die Hunke nicht wohlgesinnt waren. Und davon gab es einige. Laut Spiegel gingen die Zeus-Vertreter nicht eben zimperlich vor, wenn es darum ging, frischgebackenen Auszubildenden bei einem Beratungsgespräch im Beisein ihrer Eltern das Zeus-Kernprodukt anzudrehen, eine Kombination aus Unfall- und Kapitallebensversicherung, zusammengefasst unter dem offiziösen Titel »Jugendschutzbrief«.
Villa und Ferrari und eine Position als unangefochtener Kleinstadt-Zampano schienen Hunke auf Dauer nicht zu genügen. 1986 und 1990 versuchte er sich als Landtagskandidat der CDU in unserem Wahlkreis aufstellen zu lassen, zweimal unterlag er gegen den amtierenden Abgeordneten. Im Landtagswahlkampf 1990 schaltete ein enger politischer Vertrauter von Hunke dann plötzlich Anzeigen in der Lokalzeitung: »Dreimal nein zu Willi Lindhorst«. Willi Lindhorst, so hieß der CDU – Abgeordnete, gegen den Hunke zuvor bei der Kandidatenaufstellung verloren hatte. Lindhorst verteidigte sein Mandat übrigens erfolgreich mit dem Slogan »Wunstorf, Seelze, Gehrden – Willy muss es werden«. Auf dem dazugehörigen Plakat hielt Lindhorst optimistisch den Daumen in die Höhe und zeigte insgesamt eine deutliche Ähnlichkeit mit Rex Gildo.
Nun ja, es war nicht gerade Adenauer, gegen den Hunke da verloren hatte.
Ich bin Jürgen Hunke damals nie persönlich begegnet. Es gab nur die Villa, den Ferrari und das Gerede. Dennoch – oder gerade deswegen – hat Hunke mein frühes Bild von reichen Menschen geprägt. Er war ja der Einzige seiner Art in unserer Gegend. Dieses Bild fiel nicht gerade positiv aus: Chef einer skrupellosen Drückertruppe kauft sich Protzvilla und Angeberauto. So könnte man meine damalige Ferndiagnose zusammenfassen. Bezeichnend, so dachte ich, dass selbst die CDU, der ich damals alles Schlechte zutraute, Hunke eine seinem Geltungsdrang angemessene Position verweigerte.
Wer reich ist, der hat sein Geld im Zweifel jemand anderem weggenommen. Wer reich ist, protzt herum und verschanzt sich zugleich hinter hohen Mauern und getönten Scheiben. Wer reich ist, versucht sich politischen Einfluss zu erkaufen: drei scheinbare Wahrheiten, die sich damals zwanglos in mein linkes Weltbild einfügten.
Nachdem die Anzeigenaktion in der Wunstorfer CDU für verbrannte Erde gesorgt hatte, trat Hunke aus der Partei aus. Wenig später zog er vollständig an seinen bisherigen Zweitwohnsitz Hamburg, und ich war gehörig überrascht, als ich eines Morgens im Sportteil der Süddeutschen las, wer neuer Präsident des Hamburger Sportvereins geworden war: Jürgen Hunke. Der Mann mit dem Ferrari.
1993 schied Hunke im Streit aus dem Präsidentenjob beim HSV. Ein paar Jahre später versuchte er sich als Spitzenkandidat und Landesvorsitzender der Statt Partei, einer konservativen Splittergruppe, die allerdings unter Hunke den Einzug in die Hamburger Bürgerschaft verfehlte. Hunkes Engagement bei der Statt Partei endete mit einem Parteiausschluss durch den Bundesvorstand, auf den Hunke in gewohnt kämpferischem Stil reagierte: »Der Vorstand existiert für uns gar nicht. Ich bin weiter Landesvorsitzender.«
Danach tauchte Hunke als Chef der Hamburger Trabrennbahn auf, worauf bald ein Boykott der Bahn durch Fahrer, Trainer und Züchter folgte. 2008 berichtet Bild von einem angeblichen erneuten Versuch Hunkes, zusammen mit der Fan-Vereinigung »Supporters« die Macht beim HSV zu erobern. Doch bei den darauffolgenden Wahlen verlor Hunke auch noch seinen Sitz im Aufsichtsrat des Vereins, den er sich im Januar 2011 zurückeroberte.
Mein oberflächlicher Eindruck: Hunke als »konfliktfreudig« zu beschreiben ist etwa so, als würde man Rainer Calmund »vollschlank« nennen.
Schon bald war Jürgen Hunke nicht mehr der einzige reiche Mann in meinem Leben. Im Gegenteil: Plötzlich wimmelte es von ihnen. Nach dem Studium begann ich als Wirtschaftsjournalist zu arbeiten, ab 2000 dann als Redakteur bei der Zeitschrift manager magazin in Hamburg. So eng wie vermutlich kein anderes deutsches Medium pflegt das manager magazin Umgang mit jenen Menschen, die im öffentlichen Diskurs neutral als »Oberschicht« tituliert werden, wohlwollend als »Wirtschaftselite« oder abfällig als »Bonzen«.
Jedes Jahr im Frühsommer lädt das manager magazin zum Beispiel zur »Hall of Fame der Deutschen Wirtschaft«, einem festlichen Diner mit vielen Reden im Schlosshotel Kronberg in der Nähe von Frankfurt. Alle waren sie schon dort: die Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden von DAX – Konzernen wie Allianz oder Lufthansa. Unternehmensberater wie Roland Berger. Großverleger wie Hubert Burda, dessen Schauspielergattin Maria Furtwängler für ein bisschen optische Abwechslung sorgte zwischen all den grauhaarigen Männern in dunklen Anzügen. Selfmade-Millionäre wie Carsten Maschmeyer, der ebenfalls mit einem Versicherungsvertrieb reich wurde und Bunte – Lesern bekannt sein dürfte als der Mann an der Seite von Veronica Ferres. Ferner in Kronberg dabei: der eine oder andere Expolitiker, der sich heute für Konzerne verdingt (Gerhard Schröder), und vereinzelte unternehmerisch tätige Vertreter des Hochadels (Graf von Faber-Castell, der mit den Bleistiften).
Irgendwo dazwischen: ein Dutzend Redakteure des manager magazin, die sich mühen, das Tischgespräch in Gang zu halten und en passant die eine oder andere Neuigkeit aus den Chefetagen der deutschen Konzerne aufzuschnappen. Bei einer dieser Feiern habe ich mal Gerhard Cromme, den Aufsichtsratschef von ThyssenKrupp, am Urinal abgepasst, um mir mit offener Hose den bevorstehenden Abgang eines Managers bestätigen zu lassen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich diesen Moment als Höhe- oder als Tiefpunkt meiner beruflichen Laufbahn werten soll.
Im Sommer 2008 wurde meine Tuchfühlung mit der deutschen Oberschicht noch ein bisschen intensiver. Für das manager magazin recherchierte ich eine Reportage über die Lebenswirklichkeit deutscher Millionäre. Eine Art gedruckten Schulmädchen-Report, nur dass es um Geld ging statt um Sex. Einige Wochen lang fuhr ich durch Deutschland und die Schweiz, traf mich mit reichen Erben und erfolgreichen Unternehmern, mit Sozialforschern und Vermögensberatern, besuchte Poloturniere und Segelregatten. Alles, um herauszufinden: Wie ticken Deutschlands Millionäre wirklich?
Das Thema faszinierte mich. Nicht, weil ich besonders gerne Polo spiele oder Porsche fahre. Eher im Gegenteil. Sondern weil ich rasch merkte, wie wenig wir eigentlich wissen über jene Menschen, die ganz am Rand unserer Gesellschaft stehen – am oberen Rand. Die Lebenswirklichkeit der rund 800 000 Millionäre in Deutschland ist nicht annähernd so gut erforscht wie die jenes Drittels der Deutschen, das keinerlei Vermögen besitzt. Der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht...