Die eigentlichen Entdeckungsreisen
bestehen nicht
im Kennenlernen neuer Landstriche,
sondern darin,
etwas mit anderen Augen zu sehen.
Marcel Proust (1871-1922)
Reisen
Wie sagte schon Antoine de Saint-Exupéry: »Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern dann, wenn man nichts mehr weglassen kann.« Insofern ist das oben stehende Zitat Marcel Prousts eine perfekte Zusammenfassung dessen, was ich Ihnen auf den folgenden Seiten nahebringen möchte.
Reisen, unterwegs zu sein ist eine der ältesten Aktivitäten der Menschheit. Etymologisch bedeutet das deutsche Wort „Reise“, abgeleitet vom althochdeutschen „risan“, soviel wie „Aufbruch; aufstehen, sich erheben“. Allerdings hatte es auch die Bedeutung des Aufbruches zum Krieg. „Reise, reise“ auch heute noch der morgendliche Weckruf in der Marine.
So waren historisch gesehen die Beweggründe und Eigenarten zu reisen unterschiedliche und stetem Wandel über die Jahrtausende unterworfen. Ausgehend von den Ursprüngen der Menschheit war es zunächst die Nahrungssuche unserer nomadisierenden Vorfahren. Später kam die notwendige Erschließung von Siedlungsräumen und beginnender Tauschhandel dazu und veranlasste die Menschen, sich auf zu machen und jenseits des Horizontes zu gehen.
Mit fortschreitender Entwicklung kamen Neugier und Wissensdrang als Triebfeder, auf Reisen zu gehen, dazu. Die großen Seefahrer und Entdecker stehen in der Tradition der Ägypter, von denen die ältesten Überlieferungen schon 2360 v. Chr. von Warenaustausch und Sklavenhandel mit dem Sudan berichten. Der griechische Dichter Homer besingt in der Qdyssee die Irrfahrt auf der Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg, und Alexander der Große erreichte, beim Versuch an die Ostgrenze der bewohnten Welt vorzudringen, Indien.
Nur wenige Beispiele, die allerdings auch zeigen, dass oft, allzu oft der Entdeckerdrang mit kriegerischen Handlungen und Eroberungen einherging. Aufstieg und Niedergang ganzer Weltreiche hingen davon ab. Kolumbus, dessen Suche eines neuen Seeweges nach Indien auch kommerziell motiviert war, den Indianern in Nord- und Südamerika, neben dem falschen Namen, letztlich Not und Elend brachte. Der Zwerg Portugal katapultierte sich mit Heinrich dem Seefahrer und seinen kolonialen Eroberungen unter die Weltmächte seiner Zeit. Bis in die Gegenwart wirken die Folgen der Kolonialherrschaft, an deren Spitze die britische Krone stand. Künstlich gezogene Grenzen, ohne jede Rücksichtnahme auf ethnische und/oder religiöse Zugehörigkeit, bescheren uns bis heute andauernde brisante politische Konfliktzonen, wie zum Beispiel in Kaschmir.
Der schmale Grat, der die legitimen Bedürfnisse zu reisen, die Entdeckungslust, die menschliche Neugier von Eroberung, Unterwerfung und Ausbeutung fremder Kulturen trennt, wurde oft überschritten. Nach heutigen Maßstäben taugen all diese in ihrer Zeit einmaligen Leistungen nicht als Vorbild.
Eine ungebrochene Faszination jedoch üben die großen Forschungsreisenden aus. Marco Polo, der venezianische Händler, jahrelang unterwegs durch Asien, beteuerte noch auf dem Sterbebett, nicht die Hälfte dessen erzählt zu haben, was er tatsächlich erlebte. Seine Reiserlebnisse, „Le divisament dou monde“ - „Das Buch von den Wundern der Welt“ diktierte er einem Mitgefangenen, nachdem er in der Seeschlacht bei Curzola, als Kommandant einer Galeere, in genuesische Gefangenschaft geriet.
Schon einige Jahre vor der Geburt Marco Polos scheiterte der Franziskaner und Schüler des Franz von Assisi, Johannes de Plano Carpini in päpstlicher Mission beim mongolischen Großkhan. Der frühere Missionar und Gründer mehrerer Klöster im Rheinland und Sachsen hinterließ aber mit seinem Reisebericht „Ystoria Mongolorum quos nos Tartaros appellamus“ - „Geschichte der Mongolen, die wir Tartaren nennen“, erstmals eine Beschreibung der Kultur und Gebräuche der Mongolen.
Einer der größten, und vielseitigsten Forschungsreisenden war zweifellos Alexander von Humboldt. Ihm werden jenseits seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen, auch die bekannten Worte: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben“ zugeschrieben. Die interkulturelle Kompetenz, das Verständnis und vor allem die Akzeptanz der und auch des „Anderen“ ist die andere Ebene des Reisens.
In einem Buch, das sich mit Asien und der Himalayaregion beschäftigt, kann Sven Hedin nicht unerwähnt bleiben. National Geographic, eine renommierte Gesellschaft für Geografie und Forschung, apostrophiert ihn als „den letzten großen Landreisenden“, als schwedischen Marco Polo. Seine Expeditionen, fast immer von mehrjähriger Dauer, waren die Grundlage für ein umfassendes Kartenwerk, machten ihn zu einem gesuchten Ratgeber, Vortragsreisenden und Autor. Die Türen zu den Herrscherhäusern und Mächtigen seiner Zeit standen ihm offen. Tragisch dass ihm seine Ambivalenz zum Nationalsozialismus, trotz eigener jüdischer Vorfahren, Reputation zum Lebensabend gekostet hat.
Eine andere, wegen der Teilnahme an der nationalsozialistisch organisierten Expedition zum Nanga Parbat, umstrittene Forscher- und Reiselegende ist Heinrich Harrer. Neben seinem auch im Buch dokumentierten Aufenthalt in Tibet und am Hof des Dalai Lama war er ein renommierter Forschungsreisender, dessen Wege bis nach Papua-Neuguinea führten. Bis zu seinem Tod blieb er dem tibetischen Volk und dem Dalai Lama tief verbunden. Harrers legendäres Buch „Sieben Jahre in Tibet“ ist von Jean-Jacques Annaud stimmungsvoll verfilmt worden. Wenngleich viele Außenaufnahmen aus den Anden, statt aus dem Himalaya stammen.
Eine erschöpfende Abhandlung großer Reisevorbilder ist sicher nicht möglich. Imponierend fand ich allerdings auch die Berichte des Österreichers Herbert Tichy. Seine frühen Reisen zum heiligen Berg Kailash (1953) beschreibt er einfühlsam und spannend zugleich. In seinem Buch „Zum heiligsten Berg der Welt“ schildert er seine Reise, verkleidet als indischer Pilger, zum Götterthron in Westtibet. Nicht weniger eindrucksvoll der Reisebericht seiner Durchquerung Westnepals im Buch „Land der namenlosen Berge“. Beide sind antiquarische Schätze in meiner kleinen Bibliothek. Tichy war auch der Erstbesteiger des Cho Oyu (1954). Die Tibeter nennen diesen Berg „Göttin des Türkis“, für Tichy war es der Berg der Sehnsucht. Er setzte damit schon früh neue Maßstäbe für den modernen Alpinismus. Die Abkehr von gigantischen Expeditionen und Materialschlachten, hin zu minimalistischer Ausstattung und persönlicher Leistung sind heute anerkannter Standard.
Den frühen Reisenden war es noch vergönnt, „weiße Flecken“ auf der Landkarte zu erobern, wirkliches Neuland zu betreten. Zu ihnen gehörte auch der legendäre Toni Hagen, ein Schweizer Geologe und Pionier der Entwicklungshilfe. Auf Einladung der nepalesischen Regierung konnte er das Land erkunden. Seine Reputation beim damaligen Maharadscha nutzte er für ein außerordentliches humanitäres Engagement zugunsten tibetischer Flüchtlinge, die 1959 nach der gewaltsamen Annexion Tibets durch China zu zehntausenden nach Nepal kamen.
Eine andere Version der Suche nach dem Unbekannten, ist die Herausforderung, eigene Grenzen zu sondieren und womöglich zu überschreiten. Reinhold Messner hat es Grenzgang genannt, die Entdeckungsreise ins Innere. Sei es nun den winzigen weißen Fleck auf der Landkarte in Form eines noch unbestiegenen Gipfels zu erobern, oder neue bisher für unmöglich gehaltene Wege zu erschließen. Sei es eine, für unmöglich erachtete, Skiabfahrt vom Mt. Everest, wie sie dem Südtiroler Extrembergsteiger Hans Kammerlander gelang oder verrückte Rekorde beim Speed-Klettern an den tausend Meter senkrecht abfallenden Felswänden des El Capitan im Yosemite Nationalpark.
Der gewöhnliche Reisende wird mit seinen persönlichen Grenzerfahrungen nicht die spektakulären Ereignisse suchen. Aber er wird, sofern sich seine Reisetätigkeit nicht auf den Konsum von Urlaub im Sinne von Sonne, Strand und Meer beschränkt, sicher mit individuellen Grenzen konfrontiert. Sei es die physische Leistungsfähigkeit, zum Beispiel bei längeren Trekkingtouren, widrige Umstände mit Wetter, Wegbeschaffenheit oder andere Faktoren, die auch mental belasten.
In jüngster Zeit findet eine schon antiquiert geglaubte Form des Reisens wieder großen Zuspruch. Pilgerfahrten sind spätestens seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ zu neuer Popularität gelangt. Peregrinus, der Fremde, der Pilger ist wieder da. Im Wortsinne ist der Pilger einer, der „per agrum“, ‚über Land’ kommt, ein Fremdling also. Die religiöse Motivation ist keine spezifisch christliche Eigenschaft. Besonders im Himalaya trifft man auf eine Vielzahl von hinduistischen und buddhistischen Pilgern. Nicht zu...