Mühsamer Anfang
König Olav
Der Zufall wollte es, dass ich im vergangenem Jahr im Fernsehen eine Kurzpräsentation des norwegischen Olavsweges anschauen konnte. Landschaften, Bauernhöfe, Städtchen und Siedlungen erschienen mir nicht unbekannt, war ich doch mit dem Fahrrad mehrmals in Norwegen gewesen. Aber eine Wanderstrecke von ausgewiesenen 670 Kilometern durchs Gebirge, vielfach auf schmalen, einsamen Pfaden – das weckte meine Wanderlust und lockte als große physische Herausforderung meinen Sportsgeist. Ich kaufte mir einen Wanderführer, legte einen Zeitplan fest und machte mich bereit, als es soweit war.
Eine Frage gibt es vorher zu klären: Was hat der Name „Olav“ mit dem Weg zu tun? Wer war Olav? Nun, jedes Wanderbuch mit seinem Namen bringt uns zurück ins 9. Jahrhundert, in die Zeit der Wikinger. Olav (*995) ist der Urenkel von Harald Halfagre (Schönhaar), dem es gelungen war, große Teile Norwegens zu vereinen. In Olavs Jugendzeit war das Land politisch und religiös gespalten. Als Jugendlicher gelangte Olav nach Rouen, an den Hof Richards II, des Herzogs der Normandie. Olav ließ sich hier taufen. Der Zwanzigjährige sah es als seine Berufung an, sein Land, das unter mehreren Kleinkönigen aufgeteilt war, unter dem Schirm der christlichen Lehre zu vereinen. 1015 kehrte er nach Norwegen zurück. Mit Redekunst und Schwert gelang es ihm, zum Oberkönig gewählt zu werden und das Heidentum aus Norwegen zu verdrängen.
Aber die Macht wurde ihm streitig gemacht. 1030 fiel Olav in der Schlacht von Stiklestad gegen ein Bauernaufgebot. Ob er ein guter oder grausamer König war, ist nicht bekannt. Jedenfalls kam es zur Mythenbildung über Wunder am Ort seines Todes und seines Grabes in Nidaros. Olav wurde heilig gesprochen. Über dem Grab „Olavs des Heiligen“ errichtete man den Nidarosdom. Pilger aus ganz Europa strömten seitdem nach Nidaros, dem heutigen Trondheim.
Der Olavsweg folgt heute, nach seiner Wiederbelebung 2010, in großen Teilen dem Verlauf des mittelalterlichen Pilgerweges von Oslo nach Trondheim. An seinem Anfang verkündet ein Stein: „670 km till (bis nach) Nidaros“, an seinem Ende ein ebensolcher Stein: „0 km till Nidaros“.
Raus aus Oslo
Frisch von Bord der Colour-Line“ die mich in 20 Stunden von Kiel nach Oslo befördert hatte, tue ich meine ersten Schritte mit der 12-kg-Last auf dem Rücken. Das Zentrum der Stadt ist nur wenige Minuten entfernt, ihre Sehenswürdigkeiten hatte ich bereits vor drei Jahren kennengelernt. Ich habe nur einen Wunsch: so schnell wie möglich dem Getriebe Oslos zu entgehen. Als mein erstes Nachtlager habe ich das Quality-Hotel im nördlichen Außenbereich gewählt. Morgen soll es dann weniger luxuriös weitergehen.
Und schon in der ersten Stunde meines Weges werde ich für meine Nachlässigkeit bei der Planung bestraft. Warum hatte ich mich mit einem veralteten Wanderführer zufrieden gegeben und mich nicht, wie meine späteren Pilgerfreunde, um einen aktuellen bemüht?
Die großen Baustellen nahe dem Hauptbahnhof erschweren mir schon mal das Auffinden des „Startpunktes“, der bei den Resten der mittelalterlichen Clemenskirke aus dem Jahre 1100 und der Mariakirke im Middelalderparken zu finden ist. Neue Industrieansiedlungen und ausgedehnte Neubaugebiete mit entsprechenden Straßenanbindungen auf meinem Weg nach Norden existierten 2013, dem Erscheinungsjahr meines Wanderführers, noch nicht. Weitere Markierungen für den Olavsweg sind nicht aufzufinden.
Welch mieser Start: Asphalt, Abgase, Lärm und die Masse Mensch im Freitagnachmittags-Verkehr. Wie eine Witzfigur komme ich mir vor, mit Stock und Hut, dickem Alaska-Hemd, dickledrigen Bergschuhen mit harter Sohle. Tap, tap, tap und tack, tack, tack - so irre ich schwitzend und das unerbittliche Gewicht schleppend gen Norden, meist bergauf., weg vom Meeresspiegelniveau.
Je weiter ich die nördlichen Bezirke durchschreite, desto seltener begegne ich dem „nordischen Menschentyp“. Hier muss ein Hauptansiedlungsgebiet für Immigranten sein. Menschen, Straßen und Häuser machen einen auffallend guten Eindruck. Kein Zeichen von Verwahrlosung und Schmutz. Viel Grün. Schulen, Kindergärten, freundliche Gesichter, vorwiegend Frauen und Mädchen.
Sieben Stunden bin ich schon auf den Beinen, bin total fertig. Ich folge dem Radweg neben einer breiten Straße. Das Hotel kann nicht mehr weit sein. Keine Menschenseele zum Fragen. Oder doch - auf der anderen Straßenseite nähert sich ein Mann mit einem Yorkshire-Terrier! Bevor er wieder abbiegt, kann ich ihn erreichen und stelle meine Frage. Aha, er weiß Bescheid! Weit ausholend beginnt er mit der Erklärung. Währenddessen taucht in ziemlicher Entfernung ein weiterer Hundegänger auf. Das bringt das kleine Terrierbiest dazu, bellend loszurasen, hin zum anderen Hund. Herrchen reagiert fast panisch, ist nur noch auf seinen Hund fixiert. Schreiend spurtet er seinem Hund hinterher – und kommt nicht mehr zurück. Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor...
Die Straße ist wenig befahren. Umso glücklicher bin ich über ein vorbeikommendes Taxi. Der Fahrer, ein Schwarzer, hält kurz, ruft mir zu, ich solle warten, er käme zurück, und saust davon. Das Warten wird zur Geduldsprobe, aber der Mann lässt mich nicht im Stich. Er rettet mich vor den letzten Asphalt-Kilometern, bringt mich zum Quality Hotel, dem Ausgangspunkt für die zweite Etappe.
Bei einem guten Dinner, einem freundlichen, deutsch sprechendem Kellner und einer fröhlichen Tischgesellschaft nebenan verarbeite ich diesen Tag Nummer eins mit dem Vorsatz : Morgen wird's besser!
Pilger oder Wanderer?
Kann man pilgern, ohne einer Kirche anzugehören? Schließt das Pilgern einen religiösen Hintergrund ein? Was müsste ich, der getaufte Abtrünnige, aufweisen, um dem Begriff „Pilger“ gerecht zu werden? Sinngebende Gedanken zu einer höheren Macht? Eine Zwiesprache mit ihr? Ein Monolog, vielleicht ein Dialog über mich, über „Gott und die Welt“? In meiner Vorstellung soll das Pilgern zum Abladen bedrückenden, sündhaften Ballasts beitragen: Pilgern als seelischer Reinigungsprozess; hinterher fühlt man sich wohler; der Weg hat gut getan wie eine erfolgreiche Psychotherapie.
Von all dem bin ich entfernt. Mein Herz ist unbeschwert, meine Seele ist frei, meine Schwachstellen stören höchstens mich selbst und schaden keinem anderen. Dass mich mein Dasein als Teil einer „Gottes Schöpfung“ zerstörenden Menschheit mitschuldig macht, ist mir auch ohne Pilgern bewusst. Daher unterstütze ich lieber mit meinen Spenden Organisationen, die sich für den Naturschutz einsetzen. So erkaufe ich mir meinen Seelenfrieden...
Aber nun zum Wandern: Ich bin empfindsam für Stimmungen, wie sie Theodor Fontane in seinem Gedicht Guter Rat beschreibt:
An einem Sommermorgen
da nimm den Wanderstab.
Es fallen deine Sorgen
Wie Nebel von dir ab.
Des Himmels heitere Bläue
lacht dir ins Herz hinein,
und schließt ,wie Gottes Treue,
mit seinem Dach dich ein.
………...
So heimisch alles klinget
als wie im Vaterhaus.
Und über die Lerchen schwinget
die Seele sich hinaus.
Man muss nicht unbedingt ein Romantiker sein, wenn man im Kontakt mit der Natur eine solche erhabene, vielleicht auch heilige Stimmung verspürt.
Mich hat von Kindheit an die Natur angezogen, die fast vor der Haustür begann. Jeden Tag war ich im Wald, am Wasser, beim Ziegenhüten, Angeln, beim Umherstreifen mit dem Hund, beim Lesen der Abenteuerbücher hoch oben in den Astgabeln ehrwürdiger Eichen. Kaum ein Sonntag damals ohne Wanderausflug der Familie zu einem See in der Umgebung Berlins, begleitet von Vaters fachkundigen Hinweisen zu den Phänomenen der Natur. Im Jugendalter folgten viele Radtouren mit Freunden. Bis heute locken mich die kleinen wie die großen Landschaften, die ich mit dem Fahrrad durchstreife.
Aber nicht nur „des Himmels Bläue“ lockt mich hinaus. Des Wanderers und Dichters Hermann Hesse melancholisches Gedicht Im Nebel spricht mich mit zunehmendem Alter ebenso an wie Fontanes Lyrik:
Seltsam im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein.
Kein Baum sieht den andern,
jeder ist allein.
………..
Wahrlich, keiner ist weise,
der nicht das Dunkel kennt,
das unentrinnbar und leise
von allen ihn trennt.
Seltsam im Nebel zu wandern
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern.
Jeder ist allein.
Es sind die Gedanken über das Leben, über den Tod, über das Schicksal, über den kleinen Erdenwurm, der ich bin… Trotz solcher tiefsinnigen Gedanken weiß ich, dass ich den Pilgerweg als Wanderweg ansehe. Er ist eine sportliche Herausforderung. Er gibt mir die Chance, 670 Kilometer weit durch eine norwegische Kernlandschaft zu gehen. Das kann gelingen, weil er markiert ist und weil die Tagesetappen jeweils mit einer...