Was Kinder stark macht
Wir wünschen uns Kinder, die dem Leben mit Mut begegnen; die mit Misserfolgen, Schwierigkeiten und Rückschlägen umzugehen wissen. Kinder, die ihre Stärken kennen und nutzen und ihre Schwächen akzeptieren können. Wir möchten, dass sich unsere Kinder in der Familie aufgehoben und geborgen fühlen, Beziehungen zu anderen als etwas Schönes und Stärkendes begreifen und in der Lage sind, Freunde zu finden und mit Konflikten umzugehen.
Die Texte in diesem Buch sind über einen Zeitraum von sechs Jahren entstanden und decken ein breites Themenspektrum ab. Viele Kapitel sind aufgrund von Fragen entstanden, die von Eltern an uns herangetragen wurden. So verschieden die Anliegen sind: Allen liegt der Wunsch zugrunde, Kindern eine glückliche Kindheit zu schenken und sie in ein erfülltes Erwachsenenleben zu begleiten.
Wir hoffen, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch einige Antworten auf Ihre Fragen finden, sei es, weil Sie wissenschaftliche Hintergründe zu einem tieferen Verständnis führen, Beispiele von anderen Familien Sie inspirieren oder unsere Ansichten Sie zum Nachdenken anregen.
Bitte betrachten Sie dieses Buch nicht als Programm, das Sie mit Ihrem Kind durcharbeiten müssen, oder als Schlüssel zur »richtigen Erziehung«. Unser Wunsch wäre, dass Sie sich in vielem bestärkt fühlen, was Sie ohnehin bereits tun, und da und dort neue Anregungen finden.
Wenn wir darüber sprechen, wie wir Kinder stärken können, tauchen immer wieder ähnliche Begriffe auf. Eltern erzählen, dass sie ihrem Kind gerne zu mehr Selbstvertrauen verhelfen oder seinen Selbstwert stärken möchten. Da wir diese Begriffe im Laufe des Buches immer wieder aufgreifen werden, möchten wir zu Beginn kurz darauf eingehen, inwiefern sich diese unterscheiden.
Selbstvertrauen: Was kann ich?
Unter Selbstvertrauen verstehen wir eine Einschätzung der eigenen Kompetenz. Der Begriff geht auf den Psychologen William James zurück, der bereits 1890 die folgende Formel aufstellte:
Gemäß dieser Formel wächst unser Selbstvertrauen, wenn wir Erfolge erzielen. Das gilt allerdings nur, wenn wir die Erfolge auch als solche werten. Sind unsere Ansprüche zu hoch, laufen wir Gefahr, dass nur noch hervorragende Leistungen gut genug sind. Perfektionisten leiden daher oft darunter, dass sie trotz vieler positiver Rückmeldungen, guter Noten und Ergebnisse nicht das Gefühl entwickeln, sich auf ihre Fähigkeiten verlassen zu können. Ständig beschleicht sie von neuem die Angst, nicht zu genügen.
Einen Menschen mit hohem Selbstvertrauen – Psychologen sprechen von Selbstwirksamkeit – erkennt man an der Einstellung: »Wenn ich mir etwas vornehme, werde ich es erreichen. Auf dem Weg dorthin mag es Hindernisse, Rückschläge und Misserfolge geben, aber damit komme ich klar!«
Selbstvertrauen ist wertvoll, weil es uns hilft, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Einige Kapitel in diesem Buch befassen sich daher mit der Frage, wie Kinder an Selbstvertrauen gewinnen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Selbstvertrauen Ihres Kindes wächst, wenn es im Alltag immer wieder erleben darf:
- Ich kann etwas! Ich habe Stärken und Talente.
- Ich mache Fortschritte, wenn ich mich anstrenge und übe.
- Ich kann mit Misserfolgen und Rückschlägen umgehen.
- Ich kann mich meinen Ängsten stellen und sie überwinden.
- Ich habe Einfluss: Andere greifen meine Ideen auf und lassen sich von mir begeistern.
Starke Kinder verfügen aber nicht nur über ein gesundes Ausmaß an Selbstvertrauen, sie haben auch ein intaktes Selbstwertgefühl.
Selbstwertgefühl: Ich bin als Mensch wertvoll
Der Soziologieprofessor Morris Rosenberg definierte 1965 Selbstwertgefühl als eine Haltung oder Einstellung, die wir uns selbst gegenüber einnehmen. Nach seiner Definition empfindet sich ein Mensch mit hohem Selbstwertgefühl als »gut genug«; er glaubt, dass er als Mensch wertvoll ist, und kann sich mit seinen positiven und negativen Facetten annehmen – ohne sich deswegen selbst zu bewundern oder dies von anderen zu erwarten. Beim Selbstwertgefühl steht somit nicht die Kompetenz im Vordergrund, sondern die Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit. Kinder mit einem hohen Selbstwertgefühl mögen sich selbst und gehen liebevoll mit sich um.
Um diese Haltung zu entwickeln, sind wir auf Erfahrungen mit anderen Menschen angewiesen, die uns das Gefühl geben, liebenswert zu sein. Das Selbstwertgefühl Ihres Kindes wird gestärkt, wenn es beispielsweise erleben darf:
- Ich habe Eltern, die mir zuhören, sich Zeit für mich nehmen und mich verstehen.
- Ich habe Freunde, die mich gernhaben und mich so akzeptieren, wie ich bin.
- Wir haben eine Lehrerin, die sich für uns interessiert und uns ernst nimmt.
- Ich fühle mich in meiner Familie eingebunden und willkommen.
- Meine Eltern fangen mich auf, wenn ich strauchle. Sie mögen mich auch, wenn ich etwas nicht kann oder ihre Erwartungen nicht erfülle.
- Mein Umfeld nimmt meine Stärken, positiven Eigenschaften und liebenswerten Seiten wahr und gesteht mir meine Schwächen zu.
Das Selbstwertgefühl wird von anderen Quellen gespeist als das Selbstvertrauen. Ein hohes Selbstwertgefühl entwickeln wir dann, wenn wir erfahren dürfen, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind, die uns annimmt, versteht, respektiert und in der wir uns geborgen fühlen.
Über das Selbstwertgefühl lassen sich oft auch Kinder stärken, die im Leistungsbereich eher schwierige Erfahrungen machen müssen.
Ich (Fabian) war ein Spätzünder, lernte spät sprechen, besuchte ein zusätzliches Jahr den Kindergarten, weil ich nicht schulreif war, und benötigte Logo- und Ergotherapie, um meinen Sprachfehler und den steifen Gang zu überwinden. Mein Bruder hingegen lernte schnell und holte mich bald ein – trotz der zweieinhalb Jahre Altersunterschied.
Viele Eltern kennen diese Situation, die oft zu Eifersucht und Geschwisterrivalitäten führt. Manche Eltern reagieren darauf, indem sie versuchen, das Selbstvertrauen des »schwächeren« Kindes zu stärken. Sie nehmen es in den Arm, wenn es sich selbst abwertet, und sagen ihm: »Aber du kannst dafür besser …« Verzweifelt zählen sie ihm seine Stärken auf in der Hoffnung, dass es sich dadurch besser fühlt. Unserer Erfahrung nach funktioniert das selten. Und zwar deshalb, weil es den Konkurrenzgedanken verschärft. Die Kinder erhalten das Gefühl, es gehe darum, besser und talentierter zu sein als andere.
Das »weniger talentierte« Kind beginnt nun zu kalkulieren und bemerkt bald: Ich mag zwar in ein, zwei Bereichen stärker sein – aber mein Geschwister schlägt mich in fast allem.
Bald flammt jedes Mal Eifersucht auf, wenn der Bruder oder die Schwester einen Erfolg erlebt oder von den Eltern gelobt wird. Nicht selten greift ein Kind in dieser Situation zum letzten Mittel, um sich zu schützen: Es beginnt sein Geschwister abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten. Das wiederum wird von den Eltern nicht gerne gesehen und führt zu heftiger Kritik und noch größeren Selbstzweifeln auf Seiten des Kindes.
Meine (Fabians) Eltern konzentrierten sich damals nicht auf mein Selbstvertrauen, sondern auf mein Selbstwertgefühl. Sie wiesen mich darauf hin, wie sehr sich mein kleiner Bruder freut, wenn er mich sieht, wie viel er von mir lernt, wie gern er mich hat, dass er mich braucht und wie wichtig es für ihn ist, einen großen Bruder zu haben.
Im Vordergrund standen nicht wir als Personen, sondern unsere Beziehung zueinander und unser Beitrag für ein schönes Miteinander. Wenn meinem Bruder wieder etwas Erstaunliches gelungen war, rannte ich zu meinen Eltern und rief voller Stolz: »Kommt schnell, schaut, was unser kleiner Johannes kann!«
Wenn wir uns selbst annehmen können, uns auch mit unseren Schwächen wohlfühlen und die Erfahrung machen, dass wir uns unseren Platz in einer Gemeinschaft nicht durch Leistung verdienen müssen, passiert etwas Wunderbares: Wir müssen nicht mehr ständig darüber nachdenken, wie wir abschneiden und wo wir stehen. Wir können uns auf andere einlassen, mit ihnen zusammenarbeiten und uns mit ihnen über ihre Erfolge freuen.
Innere Stärke zu entwickeln bedeutet nicht nur, sich etwas zuzutrauen und sich selbst als wertvoll anzunehmen, sondern auch sich selbst und seine Bedürfnisse kennenzulernen und einen konstruktiven Umgang mit unangenehmen Gefühlen zu finden.
Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung: Was geht in mir vor und wie will ich damit umgehen?
Bin ich mir meiner Gedanken und Gefühle bewusst? Kann ich diese ausdrücken und reflektieren? Widerstandsfähige Kinder und Jugendliche besitzen eine gut ausgeprägte Selbstwahrnehmung. Es geht ihnen nicht einfach schlecht: Sie wissen, ob sie traurig, wütend, enttäuscht oder nur mies gelaunt sind. Dadurch kennen sie nicht nur sich selbst besser, sondern können auch die Gefühle und Stimmungen anderer besser »lesen« und adäquat darauf reagieren. Gleichzeitig sind sie dazu in der Lage, ihre Emotionen zu regulieren.
Dies bedeutet, dass sie diesen nicht ausgeliefert sind, sondern Möglichkeiten kennen, um ihre Gefühle zu beeinflussen. Dadurch können sie beispielsweise trotz Wut im...