„Gewalt ist die Waffe des Schwachen.“
Mahatma Gandhi
Vorwort zur Neuausgabe –
„Endlich passiert mal etwas“
von Rudolf Hausmann, Oberstaatsanwalt
Es ist höchste Zeit, dass Kirsten Heisigs Buch „Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“ neu herausgegeben wird. Nicht nur, weil es zum Zeitpunkt seines Erscheinens und danach, als es mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt wurde, wegen seiner kraftvollen Botschaft zu Recht die Bestsellerlisten stürmte, sondern auch, weil diese Botschaft heute nach wie vor unser Handeln bestimmen sollte.
Kirsten Heisig war eine bemerkenswerte Frau, die mit großer Leidenschaft für das einstand, was ihr wichtig war. Nachdem ich kurz zuvor meinen Dienst bei der Staatsanwaltschaft Berlin angetreten hatte, lernte ich sie Anfang 1992 kennen. Sie stand damals mit ihren 31 Jahren noch am Anfang ihres Wirkens.
Wie viele Kolleginnen und Kollegen waren auch wir –
Kirsten Heisig und ich – in den Jahren nach der Überwindung der Teilung der Stadt voller Enthusiasmus und wollten helfen, die negativen Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung zu überwinden. Berlin hatte seinen „Inselstatus“ verloren und zahlreiche organisierte Banden versuchten sich ihren Anteil vom Kuchen zu sichern. Es ging unter anderem um Drogenhandel, Prostitution, internationale Kfz-Verschiebung und Schutzgelderpressung. Auch die Jugendkriminalität stieg sprunghaft an, und Jugendgerichtshilfe, Polizei und Justiz mussten sich mit überwiegend berufsunerfahrenen Bediensteten diesen neuen Herausforderungen stellen. Kirsten Heisig hatte schon ein wenig Vorsprung an dienstlicher Erfahrung und gehörte damals zu den Kolleginnen/Kollegen, an die sich die „Neuen“, darunter auch ich, gern wandten, wenn sie Rat brauchten. Eine zusätzliche Aufgabe, der sie gern und kompetent nachkam.
In den Folgejahren wechselte Kirsten Heisig in das Richteramt, während ich selbst in verschiedenen Spezialabteilungen der Berliner Staatsanwaltschaft Formen der Organisierten Kriminalität, Tötungsdelikte – wie Mord und Totschlag –, aber auch Drogenkriminalität verfolgen durfte. Es war eine spannende Zeit, in der mir auch die junge Richterkollegin Kirsten Heisig immer mal wieder in gemeinsamen Hauptverhandlungen begegnete.
Die Ursprünge des „Neuköllner Modells“
Aber die Zeit war nicht nur spannend. Sie zeigte uns auch, dass es so in Berlin nicht weitergehen konnte. Irgendwann im ersten Halbjahr des Jahres 2007 diskutierte Kirsten Heisig mit einigen Jugendrichterkollegen daher, was genau sich ändern müsste, um vor allem die wachsende Jugendkriminalität besser in den Griff zu kriegen. Und sie begannen erste Konturen dessen zu entwickeln, was später als „Neuköllner Modell“ bekannt wurde, jenes Modell also, das im Zentrum von Kirsten Heisigs Buch steht.
Die Strafverfahren gegen Jugendliche dauerten in Berlin damals von der Tat bis zur Hauptverhandlung teilweise deutlich mehr als sechs Monate, so dass ein Bezug zwischen Fehlverhalten und staatlicher Reaktion kaum noch wirksam herzustellen war. In der Praxis des Erziehungsstrafrechts, dem Jugendstrafrecht, stellte dies nichts anderes als eine mittlere Katastrophe dar, denn in der Pädagogik gilt es allgemein als unbestritten, dass eine Strafe – also die erzieherische Reaktion auf eine Tat – möglichst „auf dem Fuße“ folgen sollte.
Es war im Oktober 2007, als mich mein damaliger Behördenleiter mit der Aufgabe betraute, Kirsten Heisig und ihre Jugendrichterkollegen bei der Entwicklung eines neuen Verfahrens zu unterstützen, von dessen großem Potential ich von Anfang an überzeugt war. Als Kirsten Heisig und ich dann etwas später den Polizeiabschnitt 55 in Berlin-Neukölln aufsuchten, konnte aber niemand von uns beiden wissen, wie das Gespräch mit dem dortigen Dienststellenleiter verlaufen würde. Das Ergebnis ist inzwischen längst bekannt: Wir wurden begeistert von ihm empfangen: „Endlich passiert mal etwas!“, rief er uns zu, als wir ihm das Grobkonzept des „Neuköllner Modells“ vorgestellt hatten.
Kirsten Heisig zeigte sich an jenem Tag – wie so oft, wenn es um ihr Anliegen ging, die Konzepte gegen die seinerzeit (wieder) steigende Jugendkriminalität in Berlin zu verbessern – geradezu euphorisch. Ihre Begeisterung war ansteckend. Und so war auch ich mehr denn je angetan von der Idee, die Verfahrenslaufzeiten deutlich zu verkürzen, um jugendliche Straftäter möglichst wenige Wochen nach der Tat vor ihren gesetzlichen Richter zu bringen, damit eine rasche und erzieherisch wirksame Reaktion erfolgen kann.
Kein Zweifel, der Besuch beim Dienststellenleiter kann im Rückblick als die Geburtsstunde der Umsetzung des „Neuköllner Modells“ gelten, denn bereits am 17. Januar 2008 begann der besagte Polizeiabschnitt 55 nach dem vereinbarten Konzept geeignete Fälle der Jugendkriminalität zu bearbeiten.
Die Grundidee
Damit der Begriff „Neuköllner Modell“ besser verstanden werden kann, möchte ich dessen wesentliche Grundidee kurz erläutern:
Bei dem „Neuköllner Modell“ handelt es sich um eine spezielle Form des vereinfachten Jugendverfahrens nach den
§§ 76 ff. des Jugendgerichtsgesetzes. Dieses Verfahren lebt von einer besonders engen Zusammenarbeit zwischen Polizei, Jugendgerichtshilfe, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichten, in der wesentliche Koordinierungen gegebenenfalls auch telefonisch abgestimmt werden.
Ziel ist es, in Fällen leichter oder auch mittlerer Jugendkriminalität bei einfacher Beweislage einen Verfahrensabschluss im Wege eines besonders beschleunigten Verfahrens innerhalb eines Zeitraums von ca. drei bis sechs Wochen nach der Tat zu erreichen. Das Konzept kommt zur Anwendung, wenn zum einen nicht ohne eine jugendrichterliche Intervention auszukommen ist, und zum anderen schwerwiegendere Rechtsfolgen als ein Jugendarrest nicht zu erwarten sind. Die Beweislage stellt sich nach den entwickelten Kriterien als einfach dar, wenn ein glaubhaftes – auch pauschales – Geständnis vorliegt oder maximal drei Zeugen bei einem schweigenden oder bestreitenden Angeklagten seitens des Gerichts benötigt werden.
Klar ist damit auch, dass das „Neuköllner Modell“ einem relativ eng umrissenen Teilbereich der Jugendkriminalität vorbehalten ist und nicht etwa, wie seinerzeit von Teilen der Presse „gefeiert“, als neue Waffe gegen die Intensivtäterkriminalität taugt. Denn von Ausnahmen einmal abgesehen – wie etwa von gerade strafmündig (also 14 Jahre alt) gewordenen Intensivtätern – wird bei diesen allein im Hinblick auf die beklagenswerte Dauer ihrer kriminellen Karriere wie auf die erschreckende Intensität bzw. Brutalität ihrer Straftaten die Verhängung einer Jugendstrafe in Betracht zu ziehen sein. Deshalb kann bzw. darf gegen diese nicht vereinfacht im vorgenannten Sinne verhandelt werden. Auf die Intensivtäter komme ich später noch zurück.
Die Erfolge
Das „Neuköllner Modell“ entwickelte sich prächtig in Berlin. Bereits ab dem 1. Februar 2008 nahm auch der Polizeiabschnitt 54 an dem Projekt teil. Die Vorgänge wurden von speziell geschulten Vorgangssachbearbeitern der Polizei nach telefonischer Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft abgeschlossen, unter Nutzung ohnehin vorhandener Kurierkapazitäten von den betreffenden Polizeidienststellen zur zuständigen Jugendabteilung der Staatsanwaltschaft gebracht, dort direkt „von Hand zu Hand“ weiterbearbeitet, unter besonderer Kennzeichnung von dort an die zuständige Jugendabteilung des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin gesandt, wo schließlich die Verhandlungen möglichst kurzfristig terminiert wurden.
Auf diese Weise gelang es, die Zeitspannen zwischen Tat und Verhandlung deutlich zu verkürzen, in Einzelfällen sogar auf unter drei Wochen zu drücken.
Die Wirkung, die dieses Tempo auf die jugendlichen Delinquenten ausübte, war enorm. Vielfach waren außer der schnellen Verhandlung gar keine weiteren erzieherischen Maßnahmen mehr notwendig; die schnelle Reaktion erwies sich als wirksame Erziehung genug.
Wegen der überaus positiven Eindrücke, die die Verfahrensbeteiligten zügig von dem neuen Projekt gewinnen konnten, gelang bereits zum 1. Juli 2008 dessen Ausweitung auf die gesamte Polizeidirektion 5, die für die Bezirke Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin zuständig war und bis heute ist. Schnell folgten zwei weitere Polizeidirektionen diesem Beispiel und zum 1. Juni 2010 konnten wir uns über die flächendeckende Einführung des „Neuköllner Modells“ in Berlin freuen, das seitdem hier nahezu unverändert angewandt wird.
Aus der Projektphase der Polizeidirektion 5 ergaben sich von Januar bis Juni 2008 14 Fälle, von Juli 2008 bis Juni 2009 bereits 94 Fälle, von Juli 2009 bis Mai 2010 121 sowie im Jahr 2010 insgesamt 112 Fälle, die von der Staatsanwaltschaft Berlin vereinfacht nach dem neuen Konzept abgeschlossen werden konnten.
Auch die jüngere statistische Entwicklung des Neuköllner Modells ist gerade trotz insgesamt rückgängiger Jugendkriminalität in Berlin erfreulich. So sind bei der Staatsanwaltschaft Berlin im Jahr 2014 immerhin 153 Verfahren, im Jahr 2015 gar 236 Verfahren und im Jahr 2016 immerhin 186 Verfahren nach jenem Prinzip bearbeitet worden, so dass die Akzeptanz in der Anwendung seit dessen Einführung offenbar noch deutlich gesteigert werden konnte.
Die Hintergründe der Jugendkriminalität
In vielen Fällen gelang und gelingt es, den jugendlichen Delinquenten durch ebenso intensive wie schnelle Zusammenarbeit der...