VORWORT
Oft suche ich mir Themen, die mich überfordern. Von der Stunde null – Tag der Vertragsunterzeichnung – bis zur letzten Zeile am Manuskript begleitet mich das anstrengende Gefühl: Du wirst scheitern! Was mich kaum beunruhigt. Ich habe mich daran gewöhnt, ich mag die Stimme des Teufels in mir. Sie hält mich wach. Sie sorgt dafür, dass ich mich erst ausruhe, wenn ich tot bin.
Gebrauchsanweisung für die Welt, welch unschuldiger Größenwahn mochte mich antreiben. Versteht man unter »Welt« nur die Erde: Schon das reicht, um einzuknicken. Unheimliche 4,5 Milliarden Jahre ist sie alt, und unheimlich einsam rast sie mit 107 000 Kilometern pro sechzig Minuten durch das All. Und sieben Milliarden Menschlein rasen mit. Darüber schreiben? Damit fertig werden? Gar wissen, wie man mit all dem umgeht, sie »gebraucht«? Wie aberwitzig. Natürlich bin ich mit meinem Buch gestrauchelt. Winzige 258,4 Gramm wiegt es. Ein Furz gegen die 5,976 Trilliarden Tonnen der Erde. Und ihre Aberbillionen Geschichten.
Jetzt also – Gipfel des Übermuts – eine Gebrauchsanweisung für das Leben. Gleich beim ersten Aussprechen des Titels fing ich zu zittern an, denn life is always bigger than you! Himmel, wie soll einer mit dem schwerwiegendsten, dem geheimnisvollsten, dem unfassbarsten und sensationellsten Wort umgehen, das je in einer Sprache vorkam? Hinter welchen fünf Buchstaben stehen mehr Fragezeichen? Mehr Glück? Mehr Abgründe? Mehr Heldentaten und Niedertracht? Mehr Genialität und Wahnsinn? Was ist teurer für den einen, und was könnte nicht billiger und wertloser sein für einen anderen? Was behüten Menschen mit mehr Macht, und was vernichten sie mit gleicher Vehemenz? Das LEBEN, klar.
Versprochen, auch dieses Buch wird das Mysterium nicht lösen. Denn ich habe – wie jeder von uns – keine Ahnung, woher unser Leben kommt und wohin es, nachdem es aufhört, verschwindet. Ich bin Darwinist, impertinent von seiner Idee der Evolution überzeugt. Dass der liebe Gott dahintersteckt, halte ich für eine Zumutung. Sie wurde von jenen erfunden, die von einem freien, selbstbestimmten Menschen – sprich selbstbestimmten Leben – nichts wissen wollen. Ihr Mensch soll Sünder sein, soll sich ducken und buckeln. Und den »Schöpfer« vergötzen. In alle Unendlichkeit.
Dass wir hinterher in die Hölle oder ins Himmelreich müssen, klingt noch infantiler. Wer sich ein bisschen auf der Welt umgesehen hat, wird feststellen, dass wir Himmel und Hölle schon haben. Mitten unter uns.
Ich will nicht ewig sein, will nur ein Leben, ein ganzes, vor meinem Tod. Will lieben und geliebt werden, will sein. Aber heftig, aber innig, aber sinnlich. Und am Tag nach meinem Tod will ich lichterloh brennen und ein letztes Mal Wärme abgeben. Und ein paar Momente als Asche über dem Indischen Ozean wehen. Und damit hat es sich.
Jetzt kommt die erste Enttäuschung: Der Autor verteilt keine Ratschläge, denn er weiß keine. Er weiß jedoch ein paar Geschichten, und die erzählt er. Da überzeugt, dass sie weiser sind und tiefer in Herz und Hirn fahren als Litaneien.
Nun, warum dieses Buch? Bevor ich darauf eingehe, hier ein Zitat von Haruki Murakami: »Mein Job als Schriftsteller ist es, die Menschen ihr elendes Leben vergessen zu machen.«
Schön befremdlich der Satz. Hundertmal nein! Ein Schreiber soll nicht einlullen, niemanden in Traumwelten jagen. Er soll das Gegenteil unternehmen: Die Leser in die andere Richtung treiben, zurück ins Leben, er soll ihnen den Rückweg ins Träumen versperren, soll sie beuteln und rütteln, sie verstören, sie lauthals daran erinnern, dass sie nur dieses eine verdammte Mal – die paar Jahrzehnte lang – lebendig sind, ja, dass ihr Leben das Unglaublichste ist, was ihnen je begegnen wird. Ach, dass jeder Tag um Mitternacht entschwindet. Unschätzbar, unwiederholbar, unwiederfindbar.
»Ich wundere mich«, schrieb Charles Bukowski, »wie mühelos vielen ihr Leben misslingt.« Der Alte war unerbittlich: mit welcher Leichtigkeit wir es hergeben, mit welcher Nonchalance wir ihm – unserem Leben – ausweichen und jeder Sirene hinterherlaufen, die zum Zeittotschlagen einlädt.
Ich mag solche Sätze, die wie Flammenwerfer daherkommen. Ich kopiere sie in mein Tagebuch. Damit sie dort weiterbrennen. Damit sie in mir lodern, damit ich nicht vergesse, dass ich genauso unter die Räder der Verblödung geraten kann. Dass auch ich mich eines Tages kommandieren lasse von den zwielichtigen Verführern, die mir meinen Verstand rauben wollen, meinen Willen, mein ganzes Leben. Ja, dass ich – das wäre ihr ultimatives Ziel – zum Schaf mutiere, das freudig blökt, wenn sie das Gatter aufhalten. Und ich hineintrotte und im großen Haufen, schon lange blökend, verschwinde.
Die Sehnsucht nach geistiger Enthaltsamkeit ist immens, nach Einschläfern der Vernunft, nach Einfrieren des Gehirns. Der Pfaffe hilft dabei, der Politiker, der Wachstumstrottel, ein Teil der Medien. Sie alle fordern unsere Besinnungslosigkeit. Wir sollen uns nicht besinnen, nein, wir sollen nachleiern und Ja sagen und shoppen und abends – hingerichtet von tausend Batzen Scheiße, mit denen sie tagsüber nach uns ausholten – vor der Glotze sitzen. Und glotzen.
Sind wir dafür auf die Welt gekommen? Ist das ein Menschenleben? Wie sagte es Herr Kant alias Immanuel, der Größte? »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Das war vor 233 Jahren, und wir wollen nicht hinhören. Wir wollen dösen.
Ich habe lange über die Frage nachgedacht, was denn der Sinn des Lebens ist. »Gottgefällig zu sein«, wie es mir in der Kindheit eingebimst worden war, kam nicht infrage. Gott gab’s nicht. Nicht für mich. Zumindest nicht den einen, von dem ich im Religionsunterricht gehört hatte: der mich jahrtausendelang mit Feuer und Schwefel foltern würde. Mich, für mein kleines Leben mit meinen kleinen Sünden.
Wir kommen, wir treten ab. Gut, die Zeit dazwischen kann lustig sein, bunt, aufregend. Oder ganz anders, eben leidvoll, armselig, todfad. Der eine hat Glück, der andere geht durch ein Tal der Tränen. Ich schaue hin, und kein Sinn leuchtet mir ein. Nicht bei den einen, nicht bei den anderen.
Auch die Idee der Wiedergeburt klingt urkomisch: Der Glückliche war früher ein Held, ein Menschenretter, und deshalb führt er nun ein imposantes Leben. Und die 300 000 vergasten jüdischen Kinder waren in ihren Vorleben Raubritter und Schlächter. Und mussten deswegen in den Ofen.
Uff, die einen erfinden sich ein »Jüngstes Gericht«, an dem alle aus ihren Gräbern kriechen und vom Weltenschöpfer in Himmelsfahrer oder Höllenbesucher eingeteilt werden, und die anderen wissen von einem »Karma«, das als gnadenlos »gerechte« Instanz durch den Kosmos geistert. Unheimlich, was uns an Absurditäten bereits zugemutet wurde. Und unheimlich die Zahl der »Gläubigen«, die diesen Hokuspokus – souverän am Hirn vorbei – als »ewige Wahrheiten« schlucken.
Also, wo ist der Sinn? Ich habe, endlich, beim Schweizer Psychiater C. G. Jung eine Antwort gefunden, die wunderbar irdisch und intelligent anmutet: »Das einzig sinnvolle Leben ist ein Leben, welches nach der – absoluten und unabdingbaren – individuellen Verwirklichung seines ihm eigentümlichen Gesetzes strebt.« Das liest sich altmodisch (der Satz ist über hundert Jahre alt), ist aber hochmodern: Sinn macht, wenn ein Mensch das wird, was in ihm angelegt ist. Wenn er sich nicht verbiegen, nicht verleugnen, nicht verstümmeln muss. Wenn seine Talente in die Richtung gehen, die in ihm vorgesehen ist. Wenn er wird, was er sein will. Nein: sein soll.
Klingt das egoistisch? Wie das? Im Gegenteil: Leute, die ein erfülltes Dasein führen, sind glücksfähiger, sprich, friedfertiger als jene, die täglich zu einem Leben antreten müssen, das nur Wut und Überdruss in ihnen auslöst.
Ich weiß, dass einer zum Sich-Finden Glück braucht und die passenden Zufälle. Und die hilfreichen Frauen und Männer. Und Willenskraft und intuitive Intelligenz. Und – wie seltsam – eine Art »Schuldgefühl«.
Ich denke, dass das Leben ein Geschenk ist. Auf der Welt sein zu dürfen gilt als Privileg. Die meisten nehmen es so wahr. Wäre es anders, würden sie leichtfertiger sterben. Und stets bilde ich mir ein, dass mein Leben mir zusieht. Das ist ein schräger Satz, doch so empfinde ich es: Mein Leben beobachtet mich und fragt, jeden Tag, ob ich mich seines Geschenks würdig erweise. Oder ob ich wieder einmal faul bin, unbedacht und gleichgültig. Ja, ob ich vergessen habe, dass ich vergehe. Ich hasse diesen Blick. Und ich will ihn nicht missen. Solange er mich belauert, bin ich gewappnet.
Ja, das Leben will belohnt werden, hat es doch gerade mich ausgesucht.
Es gibt noch andere Blicke auf mich. Von Leuten, die noch nie etwas von mir gehört haben. Es sind die Schriftsteller, die ich las. Und lese. Und von denen ich mir wünsche, dass sie mich nicht aus den Augen lassen. Frauen und Männer, die vom Jenseits nichts wissen wollen und nur vom Leben hier auf Erden berichten. Die nie Trost suchen im Außerirdischen und die mir, ihrem Leser, jeden Fluchtweg ins Gatter abschneiden. Zerren die einen Richtung Bewusstseinstrübung, so ziehen sie, »meine« Autoren, mich mitten hinein in die Wirklichkeit. Sie sind meine Seelenwächter. Vor ihnen bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wann immer ich mich dabei ertappe, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Wut steigt hoch. Über...