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E-Book

Gebrauchsanweisung für die Formel 1

AutorJürgen Roth
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492970235
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Kaum ein Sport wird von den Fans so innig verfolgt und von den Kritikern so heiß diskutiert wie die Formel 1. Jürgen Roth - Motorsportfan, seit er denken kann - besuchte jahrzehntelang den Grand Prix von Spa-Francorchamps, fühlte dem 1. Michael-Schumacher-Fanclub am Nürburgring auf den Zahn und blickte hinter die Kulissen des Großen Preis von Monaco. Er berichtet über legendäre Duelle, dramatische Momente und Skandale aus über 60 Jahren Formel-1-Geschichte. Widmet sich den Rüpeln und Gentlemen des Asphalts, exzentrischen Teamchefs sowie umstrittenen Funktionären und wirft einen kritischen Blick auf wahnwitzige Reglementänderungen. Ein unverzichtbarer Band für alle, die die kicker-Formel-1-Stecktabelle mit mehr Passion aktualisieren als jene der Fußballbundesliga.

Jürgen Roth, 1968 in Bad Berleburg geboren und in Franken aufgewachsen, lebt als Schriftsteller und Journalist in Frankfurt a. M. Schwerpunkte seiner Publikationen (konkret, taz, Titanic u.a.) sind Kulturkritik, Satire und Fußball. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und CDs, u.a. mit Hans Well bei Kunstmann den Hörbuchbestseller »Stoibers Vermächtnis«. Bei Malik erschien »Die Reise durch Franken«.

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Leseprobe

Bezauberung


Man will nie jemanden vor sich haben.

Stirling Moss

Es waren ungefähr fünfzig Kilometer – von Bonn-Bad Godesberg nach Breidscheid. Ich kann mich nur an wenig anderes erinnern, worauf ich mich in meiner Kindheit so sehr gefreut habe. Einmal im Jahr machten mein Vater, meine beiden Brüder und ich einen Ausflug, dem ich tagelang entgegenfieberte.

Am frühen Sonntagmorgen wurden die Kühltaschen in den Familien-Pkw gepackt, randvoll mit Buletten, Brot, Käse, hartgekochten Eiern, Schokolade und Säften. Bier für den Vater? Ich weiß es nicht mehr. Dann ging’s los, wir fuhren an Wachtberg vorbei, durch den Kottenforst und bogen nach Süden ab, Richtung Eifel. Das Gefühl tiefer Geborgenheit, das ich mit dieser Landschaft verbinde, rührt wahrscheinlich aus dieser Zeit. Bis heute ist die leise Sehnsucht nicht geschwunden, irgendwann einmal in die Eifel zu ziehen.

Vermutlich spielten mein jüngerer Bruder Thomas und ich im Fond Formel-1-Quartett und schmissen mit PS-Zahlen, Drehzahlwerten und Höchstgeschwindigkeiten um uns. Das machten wir viele Jahre wie die Bekloppten (den beknackten sechsrädrigen Tyrrell hatte immer ich, da bin ich mir noch heute sicher), bis wir Tipp-Kick entdeckten und ganze Wochenenden damit zubrachten, brüllend und kommentierend und Stadionkulissen imitierend komplette Bundesligaspielzeiten runterzureißen.

Mein Bruder Wolfgang und mein Vater hoben derweil das Gesprächsniveau und bereiteten sich wenigstens halbseriös aufs 1000-km-Rennen vor, das ein Lauf zur Sportwagen-Weltmeisterschaft war. Spätestens bei Leimbach vor Adenau standen wir im Stau, aber auch das gehörte dazu. In Breidscheid – dort, wo die Nordschleife des Nürburgrings an ihrem tiefsten Punkt vorbeiführt – parkte mein Vater, anschließend suchten wir uns einen Flecken auf der stark abfallenden Wiese direkt an der Brücke, breiteten die Decken aus, studierten das Programmheft, lauschten den inflammierten und manchmal komischen Ausführungen des Streckensprechers Kalli Hufstadt (»Gestern guckte er mit dem Ofenrohr ins Gebirge«) und warteten aufgeregt auf das Dröhnen der Motoren, das nach dem Start zum erstenmal zu hören war, wenn die Meute durch den Adenauer Forst nahte.

Es gibt diese Stelle, diese Wiese immer noch, auch das altmodische Hotel und die schlichte Imbissstation hinter der Linksbiegung neben der Brücke, auf der die Fahrer Gas gaben, um tollkühn und bisweilen schlingernd in die anschließende Rechtskurve zu brettern, was so wirkte, als verschluckte der Berg die Autos.

Man hatte von der Naturtribüne eine hervorragende Sicht, und man hatte sechs Stunden Zeit, Bob Wollek die Daumen zu drücken, dem Teufelskerl aus dem Elsass, der 1979 abwechselnd mit John Fitzpatrick und Manfred Schurti einen grünen Kremer-Porsche 935 pilotierte und gewann. 1977 jagten sich Jacky Ickx und Jochen Mass (Martini-Porsche 935) und Rolf Stommelen, Tim Schenken und Toine Hezemans im roten 935. Mein Vater hatte immer eine Stoppuhr und ein Klemmbrett dabei und notierte die aktuellen Abstände. In die Phalanx der Porsche-Armada brachen Marc Surer und Manfred Winkelhock mit einem BMW 320i ein, und Hans-Joachim Stuck fegte um die Ecken, dass es zischte, was indes nur Wolfgang zu bewundern vermochte, denn er war ab und an zur Kurvenkombination Wehrseifen hinaufgestiefelt.

1978 behielt Klaus Ludwig die Oberhand, und Thomas und ich dachten uns einen virtuellen Spezialwettbewerb zwischen Klaus Ludwig und Klaus Niedzwiedz aus, der im Gruppe-5-Zakspeed-Ford natürlich keine Schnitte sah.

Zu bestaunen gab es neben den stolzen Porsche 935 die 911er und 934er, den einen oder anderen Ford Capri, Ford Escort oder VW Scirocco. 1979 war das spektakulärste Jahr: Neben Stommelen und Derek Bell im Liqui-Moly-Porsche 935 und Klaus Ludwig im Kremer-Porsche hielten uns ein flacher Lotus mit Harald Ertl, ein kantiger Lotus Esprit, ein Lancia Beta Montecarlo und offene Rennwagen in Atem: TOJ SC306, Chevron B36, Lola T390, Lola T297, Porsche 908. Zudem geistern der Porsche 936 und der BMW M1, den Stuck und Nelson Piquet lenkten, in meinem Gedächtnis herum, das müsste 1980 gewesen sein. Und gaffte ich nicht schon auf den Alfa Romeo T33 mit Mass und Jody Scheckter, dessen Name mich bereits 1975 durch und durch überzeugt haben musste? Ja, doch, als ich mir 1976 den Knöchel gebrochen hatte (mein Vater: »Ach was! Ich hatte tausend solche Knöchel! Der ist verstaucht«), fiel das Abenteuer für mich ins Tränenwasser, also musste ich schon 1975 am Ring gewesen sein.

Einmal sind wir mit der Sippschaftskutsche, dem Peugeot 504 Familiale, über die Nordschleife gedackelt, links und rechts pfiffen und kesselten sie an uns vorbei. Auch ein Stock-Car-Rennen im Siebengebirge habe ich nicht vergessen, das war lustig, da ging’s halt ums Zerstören und Verschrotten, Kinder mögen so was – oder Jungs.

1977 schaute ich zusammen mit meinem Vater die LiveÜbertragung vom Großen Preis von Deutschland auf dem Hockenheimring an. Hans-Joachim Stuck in einem Brabham von Bernie Ecclestone wurschtelte sich am Ende auf den dritten Platz. Ich meine mich zu erinnern, dass Dad im Sessel währenddessen einen ziemlich untadeligen Nachmittagsschlaf hinzauberte. (Auf Youtube zeigen prächtige Privatfilmausschnitte – »Formel1 1977 GPvD Hockenheim« –, wie Stuck nach der Zieldurchfahrt Franz Josef Strauß herzte.)

Die achtziger Jahre verwehten weitgehend ohne Motorsport und ohne Formel 1 (trotzdem wurden Weltmeister ermittelt: Alan Jones, Keke Rosberg, Nelson Piquet, Lauda, Prost, Senna), und 1993, 1994 brach das Zeitalter des Michael Schumacher an. Offenbar hatte ich jetzt wieder Zeit für so was, ich entwickelte jedenfalls aufs neue eine Form von Hingabe, die sich schwer erklären lässt. Nein, sie ließe sich erklären, aber muss man Freunden klarzumachen versuchen, warum man in seinen Terminkalender die Grand-Prix-Wochenenden einträgt, um ja nichts zu verpassen, wenn diese Freunde einem ob der eigenen Passion rundheraus eine Verhaltensstörung, eine zerebrale Delle attestieren?

Nein, muss man nicht, und ich will ohnehin niemanden überzeugen.

Michael Schumachers Husarenritt Ende August 1995 in Spa, als der Weltmeister unter wechselnden Wetterbedingungen von Startposition 16 aus gewann, nach diversen haarigen Rad-an-Rad-Duellen mit Damon Hill, verfolgte ich in einer Pension in Bristol, allein. Meine Begleiterin hielt mich für plemplem und ging spazieren.

Nachdem Schumacher 1996 in Monaco eine der besten Qualifikationsrunden aller Zeiten hingelegt (im dritten Sektor acht Zehntel schneller als Hill!) und im ersten Rennumlauf den schauderhaft schlampigen, zickigen Ferrari dann auf feuchter Fahrbahn in die Leitplanken gepfeffert hatte, lief er zwei Wochen später in Barcelona förmlich über Wasser. Es war ein Grand Prix, der heute – auch auf Grund des üblichen Gejammers der Fahrer – umgehend abgebrochen würde, weil es unaufhörlich schüttete, und es war wahrlich ein »Rennen für die Geschichtsbücher« (inside-racing.de). Schumacher durchschnitt die Wassermassen und Gischtfontänen mit seinem mal wieder weidwunden Wagen, als gebe es nichts Leichteres, und ich rannte in der zweiten Rennhälfte vor glühender Nervosität pausenlos drei Stockwerke runter auf die Straße – und wieder rauf, um kurz die Lage zu sondieren. Für unsere traditionelle Formel-1-Herrentorte aus dem Frankfurter Café Laumer, in dem Adorno früher jeden Tag einen Cognac zu frühstücken pflegte, hatte ich kein Auge. Jacques Villeneuve gestand hinterher: »Als Schumacher an mir vorbeigeflogen ist, dachte ich mir: Um Himmels willen, die Formel 1 ist nichts für mich!« Und Stirling Moss verbeugte sich: »Das war kein Rennen, das war eine Demonstration schierer Brillanz.«

An diesem 2. Juni wurde der »Regengott« geboren, und ich war seit Schumachers erstem Sieg für die Scuderia endgültig restlos an diesen Sport verloren. Abermals zwei Wochen später weilte ich mit den Herren Gsella, Schiffner und Sonneborn nach einem Auftritt in Eschwege in einer italienischen Eisdiele. Auf mehreren Fernsehern lief der Große Preis von Kanada. Schumacher kam an die Box, und als der turnusmäßige Stopp absolviert war und er wieder lospreschte, fiel eine Antriebswelle aus der »roten Gurke« (Bild) raus. Die italienischen Kellner tobten, zeterten, fluchten und jaulten um die Wette, bestimmt eine halbe Stunde lang. Jeder Versuch zu zahlen scheiterte, und irgendwann verließen wir achselzuckend das Etablissement.

1997 fuhren die Frau und ich zum erstenmal nach Spa. Spa war damals noch der zuschauerfreundlichste Kurs in Europa. Man wurde nicht, wie etwa am Nürburgring, in eingezäunten Bereichen zusammengepfercht, sondern konnte auf Fußgängerwegen fast um die gesamte Piste herumlatschen.

Die Fans an der Strecke: ungeheuer zivilisiert. Das fiel uns damals sofort auf. Kein Gekrähe nach den jeweils »Unsrigen«, keine Sticheleien, kein Hohn, keine Aggressionen. Eine nahezu buddhistische Gelassenheit, eine milde Feierlichkeit und eine bunte Geselligkeit beherrschten die Szenerie. Die Leute strahlten, fröhliches Geplauder allenthalben, kein Rempeln und kein Schieben. Der Motorsportjournalist Elmar Brümmer hat recht: »Rennstrecken sind […] die letzten Biotope für eine wunderbare Fankultur: Ausschreitungen gibt es im Prinzip nie, die Massenveranstaltungen kommen mit wenig Ordnungsmacht aus.«

Im Bereich Les Combes/Malmedy trauten wir weder unseren Augen noch unseren Ohren, als um halb zehn (warum wurde das Warm-up vor etlichen Jahren gestrichen?) die erste Gruppe der Boliden über die Kemmel-Gerade heranraste. Die Eindrücke haben sich für immer eingeprägt. Der Lärm:...

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