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E-Book

Gebrauchsanweisung für Kalifornien

8. aktualisierte Auflage 2017

AutorHeinrich Wefing
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783492955560
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Selbst wer zum ersten Mal in Kalifornien landet, kommt in ein Land, dessen Bilder ihm längst vertraut sind. Er erkennt die Highways und die Golden Gate Bridge wieder, den Hollywood-Schriftzug über L.A., die Palmen und die Sonnenuntergänge. Doch hinter der rosa schillernden Fassade gibt es viel mehr zu entdecken: Heinrich Wefing verrät, warum man sich San Francisco vom Wasser her nähern muss, er lüftet das Geheimnis des Nebels und erklärt, wie ampelfreie Kreuzungen funktionieren. Er lädt zu einer Parade am Unabhängigkeitstag in Sausalito und zur Fahrt durch das Central Valley ein. Und gibt preis, warum hellblaue Frotteeanzüge hier das ganze Jahr über Konjunktur haben.

Heinrich Wefing, geboren 1965, stellvertretender Ressortleiter Politik bei der ZEIT in Hamburg, hat mehrere Jahre in Kalifornien gearbeitet. Von der amerikanischen Westküste berichtete er als Korrespondent der F.A.Z., deren Feuilleton-Büro in Berlin er anschließend leitete. Zuletzt erschien sein Buch »Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess«.

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Leseprobe

Der erste Augenblick


Versuchen Sie bitte, liebe Leser, sich den ersten Blick einzuprägen, den Sie auf Kalifornien werfen. Merken Sie sich, wo Sie sitzen, wie spät es ist, wie hoch die Sonne steht. Versuchen Sie nicht zu vergessen, wie die Luft riecht, woher der Wind weht und was sie sehen. Das vor allem: Behalten Sie die Aussicht im Gedächtnis. Egal welche – die auf das Gitternetz der Straßen, auf das Küstengebirge und die helle Sichel des Ufers, die Sie durch die Kabinenfenster erkennen, wenn Sie mit dem Direktflug aus Frankfurt in »Los Angeles International« landen. Oder auf das Durcheinander von grünen Hügeln, glitzerndem Wasser, Nebelfetzen und Wolkenkratzern beim Anflug auf San Francisco. Reservieren Sie diesen Eindrücken einen Platz in Ihrer Erinnerung. Nicht nur als Reiseandenken, als banale Begebenheit, die Sie später daheim Ihren Freunden erzählen können. Nein, daß Sie diesen Moment bewußt wahrnehmen, hilft Ihnen, etwas Grundlegendes zu verstehen: Ankommen ist das kalifornische Urerlebnis. Eine kollektive Erfahrung, die beinahe jeder hier teilt. Neu zu sein ist in Kalifornien der Normalzustand. Eine selbstverständliche Daseinsform. Für die meisten, die zwischen San Diego und Eureka leben, ist es noch gar nicht lange her, daß sie vom Fremden zum Einheimischen geworden sind. Der Staat im Westen ist Zuwandererland von alters her, eine Gesellschaft von Menschen, die gerade erst ihre Umzugskisten ausgepackt haben (wenn sie denn überhaupt Gepäck dabeihatten). Von den fünfzehn Millionen Menschen zum Beispiel, die im Großraum Los Angeles leben, einem fragilen Gebilde, das in abertausend ethnische Splitter zerfällt, je genauer man hinsieht, sind fast vierzig Prozent außerhalb der Vereinigten Staaten geboren, und fast zwei Drittel von ihnen sprechen beim Abendessen mit ihrer Familie kein Englisch, sondern ihre eigene, importierte Sprache; vorzugsweise Spanisch. Sie alle sind Experten der Eingewöhnung, Fachleute für das Gefühl der Fremdheit. Sie wissen, wie beschwerlich es ist, fern der Heimat zu sein, und doch würden sie die Reise vermutlich gleich noch einmal antreten, wenn sie müßten.

Menschen kommen auf Schiffen nach Kalifornien, in Flugzeugen, mit der Eisenbahn oder dem eigenen Auto. Zu Fuß über die grüne Grenze, legal oder illegal, aus Amerika und aus aller Welt. Es sind wahre Menschenfluten, die da heranrollen, Welle um Welle, und sie kommen so zuverlässig wie die Gezeiten. Eine menschliche Brandung, die unablässig über Kaliforniens Küsten und Grenzen schwappt, Tag und Nacht, sommers wie winters. Mitunter steigt die Flut ein wenig höher, mal ebbt sie ab, doch sie versiegt nie. All die Neuen, die Fremden, die Abenteurer und Heimatlosen haben das Land, das so groß ist wie Schweden, in den letzten hundertfünfzig Jahren überhaupt erst bevölkert. Niemand weiß genau, wie viele Indianer im sechzehnten Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien lebten, als die ersten Missionare von Mexiko her nach Norden vorstießen. Wahrscheinlich waren es nur zwei- oder dreihunderttausend Angehörige verschiedener Stämme, die sich in der Weite fast verloren haben müssen. So menschenleer blieb Kalifornien lange. 1848, kurz vor Ausbruch des Goldrauschs, hatte San Francisco erst achthundert Einwohner, Santa Barbara tausend, Los Angeles zwölfhundert. Dann aber explodierte die Gier, und mit ihr die Zahlen; was zuvor ein Rinnsal gewesen war, wurde zur Springflut. In den vier Jahren bis 1852, als längst schon keine Goldklumpen mehr mit der bloßen Hand aus den Bächen der Sierra Nevada geholt werden konnten, fielen rund zweihunderttausend Glückssucher in das Land ein, und seither hat der Zustrom nicht mehr nachgelassen. Heute leben in Kalifornien mehr Menschen als in jedem anderen Bundesstaat Amerikas: gut achtunddreißig Millionen. Und in zwanzig bis dreißig Jahren, spätestens 2050, wird Kalifornien mehr Einwohner zählen als das vergreisende Deutschland.

Manche der Zuwanderer kamen, um Gold und Silber zu suchen. Um Eisenbahnen zu bauen, das Christentum zu verbreiten oder mit Grundstücken zu spekulieren. Heute kommen viele, um in Stanford und Berkeley zu studieren, um reich zu werden im Silicon Valley oder berühmt in Hollywood. Die meisten aber wurden – und werden – von bescheideneren Träumen hierher gezogen. Von der Hoffnung vor allem, nur irgendwie ein Auskommen zu finden. Ein Leben in Freiheit und ohne Not. Deshalb sind die chinesischen Wanderarbeiter gekommen, die verschuldeten Farmer aus der Dust Bowl während der großen amerikanischen Depression in den dreißiger Jahren, farbige Amerikaner aus Texas und Louisiana, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Arbeit in den Rüstungsfabriken von Los Angeles fanden; deshalb kommen heute die Obstpflücker aus Mexiko, die philippinischen Großfamilien, die Flüchtlinge aus dem Iran. Menschen von überall her. Versuchen Sie, liebe Leser, sich diese ewige Völkerwanderung nach Westen klarzumachen, wenn Sie am Flughafen in der Schlange vor der Paßkontrolle stehen oder am Gepäckband nach Ihrem Koffer Ausschau halten. So wie Sie jetzt – müde, neugierig, verwirrt – sind Millionen vor Ihnen nach Kalifornien gekommen.

Denken Sie an die Tausenden, die jedes Jahr durch die Wüste geschmuggelt werden und irgendwie den mexikanisch-amerikanischen Grenzzaun überwinden. Denken Sie an die Immigranten aus El Salvador, Nicaragua und Mexiko, wenn Sie in Tijuana an den Kontrollpunkten der »U. S. Border Patrol« stehen und auf die Einreise in die Vereinigten Staaten warten. Oder malen Sie sich aus, während Ihr Kreuzfahrtdampfer unter der Golden Gate Bridge hindurchgleitet und Sie die Augen kaum lassen können vom Weiß und Silber und Funkeln San Franciscos, wie hier im Sommer 1775 die »San Carlos« vor Anker ging: das erste europäische Schiff, das je durch das Goldene Tor segelte, während an der anderen Küste, im Osten Amerikas, gerade die britischen Kolonien von der Krone abfielen. Oder versuchen Sie, wenn Sie im Mietauto über die Paßstraßen der Sierra Nevada fahren, sich in die Lage der Familien zu versetzen, die denselben Weg vor hundertfünfzig Jahren genommen haben, in Planwagen, Ochsenkarren oder auf dem Rücken von Pferden. Gedenken Sie einen Moment lang der Kinder, die den Hunger, die Hitze, das Fieber nicht überstanden haben; gedenken Sie der Alten und Kranken, die bisweilen unterwegs ausgesetzt wurden, um in den Wäldern zu sterben, wenn der Proviant zur Neige ging oder die Kraft der Siedler nicht mehr reichte, alle durchzuschleppen. Die Geschichten dieser Trecks sind die Legenden Kaliforniens. Jedes Kind hier kennt das grausige Schicksal der Donner-Reed-Party, einer achtzigköpfigen Gruppe von Einwanderern auf dem Weg von Salt Lake City nach Sacramento, die im November 1846 mit zwanzig Planwagen und einer Ochsenherde bei Truckee, unweit des Lake Tahoe, von frühem Schnee überrascht wurde. Monatelang saßen die Pioniere in der Sierra Nevada fest, mehr als die Hälfte starb, und einige der Verzweifelten sollen Menschenfleisch verzehrt haben, ehe schließlich im Februar Hilfe eintraf. Wer aber kann sich die Erleichterung, die Dankbarkeit, die Tränen der Überlebenden vorstellen, als sie, endlich aus ihrer weißen Hölle befreit, aus den Bergen hinabstiegen nach Kalifornien? Jeder Siedler, der nach dem langen Treck ankam, hat die Schriftstellerin Joan Didion einmal bemerkt, sei »wiedergeboren worden in der Wildnis. Ein neues Geschöpf, in nichts dem Mann oder der Frau gleich, die sich viele Monate zuvor auf den Weg gemacht hatte: Schon die Entscheidung selbst, die Reise anzutreten, war eine Art Tod, erforderte sie doch die völlige Aufgabe des bisherigen Lebens, den Abschied von Vater und Mutter und Brüdern und Schwestern, die man niemals wieder sehen würde«, die Unterdrückung aller Gefühle und den Verzicht auf den elementarsten Komfort. Wer hier ankommt, hat einiges hinter sich.

Bewahren Sie also Ihren ersten kalifornischen Augenblick im Gedächtnis. Es ist ein beinahe magischer Moment. Ein Erlebnis, das fast so häufig beschrieben worden ist wie das Einlaufen im Hafen von New York, wenn sich nach wochenlanger Schiffspassage die Freiheitsstatue langsam aus dem Dunst herausschält. Der Unterschied liegt natürlich darin, daß Kalifornien mehr als nur einen Eingang besitzt und kein weithin sichtbares Wahrzeichen wie die Statue of Liberty. Die Ankunft im Westen hat deshalb häufig etwas Gleitendes, Beiläufiges. Es braucht mitunter eine Weile, bis der Ankommende realisiert, daß er sein Ziel tatsächlich erreicht hat – so wie man manchmal nur mühsam aus dem Schlaf erwacht und nicht recht weiß, was noch Traum ist und was schon der neue Tag. »Plötzlich wurde mir klar: ich war in Kalifornien. Warme, palmenwedelnde Luft – eine Luft zum Küssen«, heißt es in Jack Kerouacs »Unterwegs«, und weiter: »Am Sacramento River entlang auf einen Superhighway; wieder in die Hügel, aufwärts, abwärts, und plötzlich die unermeßliche Weite der Bay, jenseits mit den schläfrigen Lichtern von San Francisco bekränzt.«

Lauter bekannte Bilder stecken in diesen paar Sätzen, die komplette Inneneinrichtung des kalifornischen Traums. Die Palmen und die Wärme, Bewegung und Weite, die Lichter, die Straße – und ein euphorisches Staunen darüber, es wirklich ins gelobte Land geschafft zu haben. Auch das gehört zum Ritual der Ankunft: die schier fassungslose Freude der Ankömmlinge, Hunger, Armut, Verfolgung hinter sich gelassen zu haben und endlich in Kalifornien zu sein. Niemand hat dieses erste Erlebnis des Westens eindringlicher beschrieben als John Steinbeck. Es gibt eine Szene in »Früchte des Zorns«, da die Familie Joad in ihrem klapprigen Lastwagen nach tagelanger Reise die Paßhöhe der Tehachapi-Berge erreicht und hinunterschaut in das verheißene Land. »Die Pfirsichbäume und die Walnußwäldchen und die...

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