Über autoput und Autobahn
Als Kind ging es für mich jeden gottverdammten Sommer nach Dalmatien. Dieses Dalmatien lag damals in Jugoslawien, das es heute nicht mehr gibt. Wenn die Eltern meiner deutschen Freunde danach fragten, wo meine Familie den Sommer verbrachte, antwortete ich: »In Jugoslawien.« Kaum war mir das Wort Jugoslawien über die Lippen gekommen, hellten sich ihre Augen auf, als hätte ich ihnen mit der Antwort einen Gefallen getan: »Über den autoput, wie wunderbar!« Was genau daran so wunderbar war, erschloss sich mir nie. Wir waren Jahr um Jahr nach über zwanzig Stunden Fahrt einfach nur froh, wenn wir heil in unserem Haus ankamen. Für die Deutschen jedoch war das Stichwort Jugoslawien ganz eng verbunden mit dem Zauberwort autoput, das Erinnerungen an die längst begrabene Abenteuerlust weckte. Sie hielten mir dieses Wort entgegen wie einen Abenteurer-Ausweis: Hier, seht nur, ihr werdet es kaum glauben, aber so waren wir, genau so, als wir noch jung waren und uns verliebt auf den Weg machten, die Welt zu sehen. Die Welt im Land nebenan. »Meeein Gott, der autoput!«, schwärmten sie. Manche holten sogar ihre vergilbten Bilder hervor, auf denen sie, kaum wiedererkennbar, in kurzen Hosen und bemerkenswert schlank, meist an einem alten Käfer lehnten, alles Anfängerglück dieser Welt in den stolzen Gesichtern. »Mensch, was war das schön damals, als wir nach Griechenland gefahren sind …« Oder in die Türkei oder nach Bulgarien. Ich fragte mich, warum die Eltern meiner deutschen Freunde immer bei mir über den autoput ins Schwärmen gerieten, nur um mir wenig später zu sagen, dass sie zwar über mein Land, aber selten in mein Land gefahren sind.
Die erste jugoslawische Autobahn diente den meisten Deutschen nur als Brücke nach Griechenland, die Türkei oder den sonstigen Balkan. Erst als Erwachsene habe ich herausgefunden, dass dieser autoput, von dem sie immer sprachen, mit der kleinen Serpentinenstraße, die in mein dalmatinisches Hinterland führte, nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Die Autobahn, die sie meinten, zog sich von Zagreb über Serbien tatsächlich bis nach Griechenland. Hätte mir damals einer erklärt, dass der autoput tief über das Inland verlief, hätte ich mich keinen Moment lang darüber gewundert, warum Jugoslawien nur das Brückenland war: Schön, das hatte man mir nämlich früh eingetrichtert, ist es nur am Meer. Vielleicht hätte ich die Eltern meiner Freunde einfach direkt fragen sollen, warum sie nie in Jugoslawien an der Küste Urlaub gemacht haben, sondern jedes Mal so tief runter ans Mittelmeer gefahren sind, aber sie haben die zwei t in autoput so seltsam ausgesprochen. Aus ihrem Mund, mit diesen deutschen Verschlusslauten in der Mitte und am Ende, klang autoput fast wie ein anderes Wort. Au-t-opu-t. Die haben keine Ahnung, dachte ich damals, sonst wüssten sie doch, wie man das richtig sagt. Autoput, das hieß, ganz gleich wie strahlend und wie oft nacheinander sie es aussprachen, nichts anderes als Autobahn. Stellen Sie sich vor, Sie erzählen jemandem von Deutschland, und dieser Jemand steht kurz darauf jubelnd vor ihnen und ruft zig Mal nacheinander strahlend »Autobahn!«. Ja, genau! Sie wüssten nicht, wohin mit sich. Und noch weniger wüssten Sie, wohin mit dem armen Mann oder der armen Frau. So ging es mir. Jahr um Jahr. Zumal »put« wörtlich übersetzt mehr Weg bedeutet als Bahn, was der damaligen Straßenqualität und der Zeit, der es bedurfte, auf ihr voranzukommen, wohl auch eher gerecht wurde.
Der autoput, das war eine lange, berüchtigte Straße in schlechtestem Zustand. Doch lange nicht so schlecht wie die kleinen Landstraßen bei uns im dalmatinischen Hinterland, wo ein Schlagloch das nächste jagte, eine Leitplanke nach der anderen aufgrund diverser Konfrontationen aus der Form geriet. Im Hinterland hatte man nichts vom autoput; schmale Asphaltserpentinen waren der einzige Weg, der ans Ziel führte. In der Dämmerung oder den frühen Morgenstunden war es, als würde man über eine wie von Geisterhand erbaute Straße fahren. Karstige Hügel. Vereinzelt Steinhäuser. Gebirgsketten. Die wahren Abenteurer, davon hatten die Au-t-opu-t-Eltern meiner Freunde keine Ahnung, fuhren immer schon durchs Hinterland, dachte ich. Autoput, das war im Grunde etwas für begradigte Schwächlinge. Und die richtig Lebensmüden? Die fuhren die Küste lang. Auf der Jadranska Magistrala. Von Triest bis Montenegro geht das – theoretisch. Schwindelerregend nah am Meer fährt man die asphaltierten Felsstraßen ab. Man muss sich das etwa so vorstellen, wie man es von den Bildern kennt, die nach dem Autounfall der monegassischen Fürstin Gracia Patricia alias Grace Kelly um die Welt gingen. Auf ihnen sah man die Küstenstraße, die Zypressen und das traumhafte Meer. Genauso schön ist es. Genauso lebensgefährlich. Und genauso gleichgültig gegenüber all jenen, die sich auf diesen Straßen auf den Weg nach Süden machen. Schmale Serpentinen wie im Hinterland schlängeln sich hier über tausend Meeresmeter die Küste entlang. Die Deutschen nennen sie Adria-Magistrale. Ich wollte immer schon lieber die Magistrale entlangfahren als durch das Hinterland. Wer nicht. Magistrale, das hatte etwas Majestätisches, so wie der Blick auf das türkisfarbene Meer. An manchen Stellen sah man in den Felshängen jahrzehntealte Autoleichen, die irgendwann, auf ihrem Weg nach Süden, aus der Kurve gestürzt sein mussten und nie entfernt worden waren. Da lagen sie, diese alten Karosserien wie aus Herbies Zeiten, und kein Mensch interessierte sich für sie. So also, dachte ich damals, konnte es kleinen Familien wie der meinen ergehen, wenn sie vom Norden in den Süden fuhren. Als kleine Familie sah ich uns deshalb, weil die großen Familien für uns meist in den vollgepackten türkischen VWs mit Berliner Kennzeichen saßen, bei denen wir uns ungläubig fragten, wie lange sie wohl schon auf den Straßen waren, das Gepäck bis obenhin gestopft, oft weit mehr als drei Kinder im Auto. Die Sachen, die in den Bus geladen waren, hätten für eine Zweizimmerwohnung gereicht. Zusammengepfercht saßen sie da, wurden von uns überholt und dabei schadenfroh ausgelacht. Mein Bruder und ich lehnten uns nach jedem Überholmanöver stolz zurück, beruhigt, dass es Familien gab, die weit uncooler waren als wir, bei denen das Reisetoilettenpapier sogar gut sichtbar hinter den Fensterscheiben lag und nicht unter dem Deckel des Kofferraums.
Früher, in diesen Zeiten, von denen die Eltern meiner deutschen Freunde schwärmen, da fing Kroatien spürbar an: Sobald ich über die Grenze war, sei es im Bus oder Auto, rumpelten mich die Schlaglöcher fast in den Schlaf. Meist fuhren wir in Deutschland so los, dass wir bei Dunkelheit die Grenze nach Kroatien passierten und bei Sonnenaufgang ankamen, um nicht in der Mittagshitze durch das Land zu fahren. Die Qualität der Straßen ließ mit jedem Meter Richtung Süden nach. Ungeduldig erwartete ich das Holpern, denn Straßenholpern, das war der Anfang vom Süden. Ich spürte, wie mein Kopf mit jedem Loch, mit jeder Unebenheit etwas schwerer wurde und ich im Polster der Rückbank versank. In diesen Schlaglöchern, so wirkte es, hielt sich die Müdigkeit versteckt und kroch mit jedem Aufprall zu uns herauf. Doch kurz bevor mir die Augen zufielen, blendete mich das Scheinwerferlicht eines ungeduldigen Irren, der meinte, gerade jetzt einen weit über dem Tempolimit fahrenden Lkw überholen zu müssen, dabei Kurven und Gegenverkehr seinem ausschlagenden Tachometer unterordnete und mit Vollgas auf unserer Seite der Fahrbahn fuhr. Diese Überholidioten vertrieben mir mit ihren Scheinwerfern den Schlaf, denn irgendeiner musste auf meinen Vater aufpassen, und schon früh war mir klar: Kleine Mädchen haben auf solchen Straßen als Schutzengel über den Fahrer und die nächtlichen Straßen zu wachen. Mein Vater war mit diesen Nachtkamikazen nicht gerade zimperlich, attestierte, nachdem der frontale Zusammenstoß erfolgreich vermieden worden war, den Irren ein amputiertes Hirn, gottlose Lebensmüdigkeit und Egoistenalkoholismus, meist in dieser Reihenfolge. Nur wenig später schien er unbeeindruckt weiterzufahren, während ich mich sichtlich beeindruckt aufsetzte, kerzengerade zwischen ihn und meine schlafende Mutter. So bestarrte ich die Straßen, als könnte ich für ihn vor-sehen, ihm die Sicht freimachen, damit er jeden Irren, der gleich hinter der Kurve oder einem Lkw hervorschießen würde, frühzeitig sah. Noch als Teenager, als ich längst nicht mehr mit meinen Eltern, sondern mit dem Reisebus nach Kroatien fuhr, blendete mich früher oder später einer dieser Irren in die Kerzengerade: Schutzengelstellung. Gedanken an Schlaf undenkbar. Engel schlafen nicht.
Wer heute nach Kroatien fährt, tut dies über eine nagelneue, garantiert schlaglochfreie Autobahn. Nirgends auch nur die geringste Unebenheit im Asphaltboden, nicht einmal bei genauestem Hinspüren. Schon früh nach der Unabhängigkeitserklärung wollte die Regierung das Land durch eine Autobahn einen. So fahren die einstigen Irren inzwischen anständig, fein durch Leitplanken im Zaum gehalten, auf der anderen Seite des autoput, im Vergleich zu früher fahren sie fast schon in einer anderen Erdumlaufbahn. Ich dachte immer, wenn es eines Tages aufhört, auf der Autostraße zu huckeln, würde es nicht mehr die Einfahrt nach Kroatien sein. Es huckelt längst nicht mehr. Die Autobahn, die echte, ist bei uns angekommen und erleichtert das Reisen ungemein. Die Strecke von Zagreb nach Split nennt sich A1. Im Volksmund Dalmatina. Der...