Legendäre Duelle
»Wenn ich gegen sie spiele,
dann hasse ich sogar meine Schwester.«
Serena Williams
Ich habe Martin gehasst, aufrichtig und aus reinster Seele. Er war kein böser Mensch, ganz im Gegenteil, er war sogar ein ziemlich cooler Typ. Wir haben ein paar Mal versucht, gute oder vielleicht sogar beste Freunde zu werden, doch es ging nicht. Der einzige Grund, warum ich Martin zwölf Jahre lang nicht leiden konnte und warum er bis heute der Einzige ist, den ich in meinem Leben jemals aufrichtig gehasst habe: Er konnte genauso gut Tennis spielen wie ich. Wahrscheinlich war er sogar ein bisschen besser, aber das würde ich niemals zugeben. Er war ein ebenbürtiger Rivale, ein ewiger Feind, ein Duellant auf Augenhöhe.
Ich möchte behaupten, dass jeder, der schon mal einen Tennisschläger in der Hand hatte, kennt so jemanden, den er nur wegen dieses Sports nicht leiden kann.
Freilich gibt es diese wunderbaren Geschichten über die innige Freundschaft zwischen Chris Evert und Martina Navratilova. Es gibt die wahnwitzig schlechte Autobiografie von Tracy Austin, Beyond Center Court: My Story, in der sie über Navratilova schreibt: »Sie ist eine wunderbare Person, sehr sensibel und fürsorglich.« Es gibt diese witzigen Videos von Roger Federer und Rafael Nadal, wie sie beim Werbeauftritt für einen Sponsor miteinander feixen oder beim Laver Cup gemeinsam im Doppel antreten. Es gibt aber auch dieses Wimbledon-Finale 2008, bei dem beide am Ende kaum noch stehen können und sich trotzdem gegenseitig über den Platz scheuchen.
Serena Williams, die wohl beste Tennisspielerin der Geschichte, sagte mal: »Ich liebe meine Schwester Venus – doch wenn ich gegen sie spiele, dann hasse ich sie.« Sie sagte nicht: »Ich will gegen sie gewinnen.« Sie sagte: »Ich hasse sie.« Ich glaube, das bringt eine Rivalität besser auf den Punkt als »Sie ist eine wunderbare Person, sehr sensibel und fürsorglich«.
Mein erstes Duell mit Martin fand im Juli 1985 statt. Boris Becker hatte gerade Wimbledon gewonnen, weshalb sämtliche Eltern wie die Lemminge in die Tennisclubs liefen und ihre Kinder in sogenannte Schnupperstunden schickten. Tennis, das war plötzlich nicht mehr nur der Sport für Ärzte und Anwälte und Unternehmer. Tennis, das war in Deutschland plötzlich ein Sport für alle – also auch für jemanden wie mich, der davor eher mit einem Fußball auf Bolzplätzen herumgekugelt ist. Die Partie gegen Martin im Tennisclub meiner Heimatstadt Tirschenreuth war die erste in meinem Leben, bei der ich den Ball nicht über unseren Gartenzaun zu meinem Vater oder meinen Bruder spielte. Sie fand auf einem Sandplatz statt, mit richtigen Linien und richtigem Netz. Ich verlor, 5:7, 6:7. Das Spiel dauerte drei Stunden und war der Beginn einer wunderbaren Feindschaft.
Ich wurde im Laufe der Jahre paranoid, ja regelrecht obszessiv. Ich lag nachts wach und dachte: Woran denkt Martin? Welche Schläge hat er verbessert? Was hat er gegessen? Und warum ist er immer noch zwei Zentimeter größer als ich? Ich habe seine Spielweise analysiert und aufgemalt. Ich habe seine Geschwindigkeit berechnet und einen nur für ihn nicht erreichbaren Vorhand-Cross entwickelt. Ich habe für einen Sieg gegen ihn gebetet. Ja, ich war besessen von Martin.
Eine Rivalität verbindet die Duellanten auf Lebenszeit. Ein Duell wird nicht unvergesslich, wenn der eine den anderen vom Platz prügelt. Das ist der Grund, warum sich Dirk Nowitzki nicht an seinen Sieg gegen mich bei einem Turnier in Franken erinnert. Er war 14 Jahre alt, ich ein Jahr jünger. Er gewann 6:0, 6:0 – und die Partie war längst nicht so spannend, wie es das Ergebnis vermuten lässt. Ich erinnere mich auch nur deshalb daran, weil ich ein paar Jahre später sein Gesicht im Fernsehen gesehen und dabei bemerkt habe, dass er Basketball noch viel besser spielte als Tennis, was bei mir zwei Wochen lang für tiefe Depressionen aufgrund meiner offensichtlich mangelnden Begabung zum Profisportler gesorgt hat. Ich bin dann zunächst in den Fußball und später in den Journalismus abgedriftet.
Legendäre Siege kriegt man nicht geschenkt. Für legendäre Siege muss man an eine Grenze gehen, von der man vorher nicht gewusst hat, dass es sie überhaupt gibt und dass überhaupt jemand jemals so weit gehen kann, geschweige denn man selbst. Wer bereit ist, an diese Grenze zu gehen, braucht jemanden, der ihn dorthin treibt. Er braucht einen ebenbürtigen Rivalen, der selbst an eine Grenze getrieben werden will. Unvergessliche Duelle sind immer Kämpfe zwischen Athleten auf Augenhöhe. John McEnroe gegen Björn Borg. Chris Evert gegen Martina Navratilova. Boris Becker gegen Stefan Edberg. Steffi Graf gegen Monica Seles. Roger Federer gegen Rafael Nadal. Martin Stützel gegen Jürgen Schmieder.
Es ist völlig egal, ob diese Grenze ein Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier ist oder das Finale bei einer Stadtmeisterschaft. Es ist nur wichtig, dass es sie gibt. Sie und diesen Rivalen, der einen dorthin treibt. Das genügt.
In der bayerischen Kleinstadt Tirschenreuth waren Martin und ich weltberühmt – auch wegen anderer Sachen abseits des Tennisplatzes, die ich hier keinesfalls erwähnen werde, weil wir nun beide verheiratet sind, Kinder erziehen und unsere Jobs behalten möchten. Außerhalb dieser Stadt interessierte sich niemand für diese Rivalität. Ach was, außerhalb des Tennisclubs interessierte sich niemand dafür. Aber für Martin und mich und ganz sicher auch für unsere Eltern waren diese Duelle mindestens so wichtig wie das Leben selbst.
Einmal, ich war zwölf Jahre alt, habe ich vor einem Match gegen Martin mit meinem Vater einen Gottesdienst besucht und eine Kerze angezündet. Ich habe gewonnen, 6:1, 6:4. Richtig locker. Danach habe ich, das ist kein Witz, vor jeder Partie gegen Martin in dieser Kirche eine Kerze angezündet.
Diese Angewohnheit liegt auf der Verrücktheits-Hitliste dieser Rivalität auf Platz drei. Rang zwei belegt Martins Mutter bei der Stadtmeisterschaft 1994. Sie hat jedes einzelne meiner Spiele in den Runden davor vom Zaun aus beobachtet und mich nach jedem Aufschlag darauf hingewiesen, dass meine Bewegung doch sehr nach Fußfehler aussehe. Auf Platz eins liegen die 100 gebräuchlichsten Beleidigungen der deutschen Sprache, die wir in beinahe jedem Match aufeinander anwandten in einer Lautstärke, dass es jeder hören konnte – bisweilen auch während eines Doppels gegen zwei Fremde.
Ja, Martin und ich sind tatsächlich gemeinsam zum Doppel angetreten und haben uns dabei ein Mal derart heftig gestritten, dass uns die Gegner beruhigen mussten. Wer jemals Tennis gespielt und so was nicht erlebt hat, der werfe den ersten Schläger.
Solche Rivalitäten gibt es zwar auch in anderen Sportarten auch, doch nirgends sind sie für Zuschauer und Sportler so intensiv wie beim Tennis. Beim Fußball verlieben sich Fans in einen Verein, wie sie sich nicht mal in Menschen verlieben, doch Akteure kommen und gehen und manchmal wechseln sie sogar zum feindlichen Verein – eine Team-Rivalität kann deshalb niemals an persönliche Duelle zwischen zwei Personen heranreichen.
Boxen kommt dem Tennis sehr nahe, ein einzelner Kampf ist aufgrund der Möglichkeit des Niederschlags womöglich gar intensiver als eine Partie mit der Filzkugel. Muhammad Ali und Joe Frazier haben sich 1975 in Manila gegenseitig zu einer Nahtoderfahrung geboxt. Mike Tyson hat Evander Holyfield ins Ohr gebissen. Arturo Gatti und Micky Ward haben sich drei Mal geprügelt, als wären sie vor einer schäbigen Bar in New York. Sugar Ray Leonard gegen Thomas »Hit Man« Hearns. Tony Zale gegen Rocky Graziano. Boxer begegnen sich allerdings zu selten im Ring, um die langfristige Intensität einer Tennis-Rivalität zu erreichen. Das Endspiel der Australian Open 2017 war das zwölfte Finale bei einem Grand-Slam-Turnier zwischen Roger Federer und Rafael Nadal in 13 Jahren. Serena Williams und Maria Scharapowa haben mehr als 20 Mal gegeneinander gespielt.
Es ist bei einer Rivalität völlig egal, ob 20.000 Menschen im Stadion von Wimbledon sitzen und noch ein paar Millionen vor den Fernsehern weltweit – oder ob nur zwei Leute zusehen wie beim letzten legendären Duell zwischen Martin und mir. Wenn sich zwei Rivalen auf Augenhöhe begegnen, dann endet der Horizont in den Augen des anderen. Es ging bei unserem letzten Spiel gegeneinander um einen Platz in der Trainingsgruppe der Männermannschaft, den wir beide bereits sicher hatten. Wir wollten gewinnen, auch wenn es um rein gar nichts ging.
Ich habe mich vor ein paar Jahren mit Boris Becker über diese Rivalitäten unterhalten, schließlich hatte er sich während seiner aktiven Karriere einige legendäre Duelle geliefert. Mit Stefan Edberg in Wimbledon. Mit John McEnroe im Davis Cup. Mit Michael Stich. »Ich habe sie natürlich alle respektiert – doch gemocht habe ich sie nicht. Sie wollten etwas, das ich auch haben wollte«, sagte Becker, der zu diesem Zeitpunkt der Trainer von Novak Djokovic war. Der sollte am nächsten Tag im Finale der US Open gegen Roger Federer spielen: »Es ist für die Zuschauer zwar möglich, beide Spieler zu mögen – wenn sie jedoch gegeneinander antreten, dann müssen sie sich entscheiden. Es ist unmöglich, so eine Partie zu gucken und zu sagen: Möge der Bessere gewinnen.«
Alles, was Becker da sagte, galt auch für Martin und mich. Wir waren beide 17 Jahre alt bei unserem letzten Duell. Es ging, wie schon gesagt, um rein gar nichts, und es sahen nur Martins Mutter und ein anderer Spieler zu. Wir haben uns über den Platz gejagt, wir haben uns...