Mein schönstes Ferienerlebnis
oder Wenn einer eine Reise tut
Der wahre Reisende hat keinen festgelegten Weg,
noch will er ans Ziel.
Lao-tse
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich mit Freunden zusammenkomme, erzählen wir uns am liebsten Geschichten von gemeinsamen Reisen. Egal, ob wir unter uns sind oder in größerer Runde. Es gibt Erlebnisse, die müssen immer wieder beschworen werden. Etwa jenes, wie wir damals durch Rabat schlenderten, am letzten Tag einer anstrengenden und nicht immer beglückenden Reise, wie wir uns überlegten, ins Kino zu gehen, wie wir an einer Ampel einen sympathisch wirkenden Einheimischen ansprachen, wie dieser uns zuvorkommend zu einem Programmkino führte, das leider keine interessanten Filme zeigte, wie wir an seiner Seite weiterschlenderten und uns immer mehr ins Gespräch vertieften, bis der Mann uns zu einer Bäckerei mitnahm, wo er nach dem Rechten schauen musste, denn an diesem Abend heiratete seine Schwester, und ein kritischer Bruderblick auf die bestellten Köstlichkeiten war nötig. Wie er uns kleine Leckereien kredenzte, wie wir weiter gemeinsam durch die Stadt streiften und er uns spontan zur Hochzeit einlud, und wie beglückt wir waren, nach einem Monat in Marokko zum ersten Mal privat eingeladen zu werden. Wie wir ihn sogleich fragten, was wir als Geschenk mitbringen sollten, wie er dieses Ansinnen von sich wies, wir aber darauf beharrten, bis er nachgab, scheinbar unwillig, und vorschlug, wir könnten eine der Champagnerflaschen übernehmen, die er noch besorgen müsse, und wir erfreut einwilligten, aber nur, wenn jeder von uns eine Flasche mitbringen dürfe, und wie er uns von den Schwierigkeiten berichtete, Alkohol zu kaufen, weswegen er geradezu konspirativ einen Franzosen in der Nähe aufsuchen müsse, und wenn wir wollten, könne einer von uns ja mitkommen, worauf die zwei Freunde mir ihr ganzes Geld übergaben und ich diesem sympathischen Mann folgte, bis wir einige Minuten später einen Hofeingang erreichten und er mich bat, draußen auf ihn zu warten. Ich drückte ihm unser Geld in die Hand, er ging hinein. An dieser Stelle legen wir beim Erzählen eine Kunstpause ein, nehmen einen Schluck oder grinsen uns an, bevor ich weitererzähle, wie ich vor dem Eingang wartete, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, bis meine Sorgen überhandnahmen, wie ich hineinging und mich erkundigte, doch keiner der Anwohner wusste etwas von einem Franzosen, und wie mir, als ich in meiner wachsenden Verzweiflung nach einem Champagnerverkäufer fragte, misstrauische und teilweise aggressive Reaktionen entgegenschlugen. Wie ich mich aufmachte, die Freunde zu suchen (ich hatte beim Hinweg nicht auf den Weg geachtet und nun Schwierigkeiten, den Platz zu finden, wo sie auf mich warteten), und wie ich schließlich verwirrt und eher zufällig meine Freunde fand und ihnen mitteilen musste, dass wir einem Meister unter Trickbetrügern aufgesessen waren.
Erfahrungen auf Reisen sind nicht immer angenehm. Im Gegenteil: Beim Reisen ist das Hässliche, das Unangenehme, das Scheitern zugleich das Faszinierende, das Bewegende, das Unvergessliche. Die Erlebnisse auf Reisen werden zu intensiven Erinnerungen destilliert. Wer also sein Zuhause in der Erwartung eines sicheren und geplanten Ablaufs verlässt, wer genau das erlebt, was er oder sie erwartet hat, der war zwar unterwegs, aber nicht wirklich auf Reisen. Wer sich auch fern der Heimat, rasiert oder unrasiert, ein Schnitzel zum Abendessen wünscht, am liebsten im klimatisierten Reisebus durch die fremde Stadt kutschiert und diesen nur für ausgewählte touristische Highlights verlassen mag, bleibt am besten gleich zu Hause und schaut im Fernsehen »Länder – Menschen – Abenteuer«.
Vielleicht ist das größte Reisehindernis heutzutage unsere Ängstlichkeit. Wir leben in Westeuropa in einer historisch betrachtet selten lang andauernden Phase des Friedens, doch leider scheint dies zu wachsendem Sicherheitswahn und gesteigerter Hysterie zu führen. Nicht verwunderlich, dass Länder mit gutem »Sicherheitsimage« – die Schweiz, Kanada, Australien, Japan und die skandinavischen Staaten – derzeit auf dem Reisemarkt die höchsten Zuwächse erfahren. Viele sind dem Irrtum aufgesessen, das Leben habe ein Geländer, ein Sicherheitsseil und einen dritten Fallschirm. Das tut auch dem Reisen nicht gut.
Wir könnten uns ein Beispiel nehmen an dem Briten James Holman, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Blinder allein eine fünfjährige Weltreise unternahm. Holman empfand das Ungewisse als Lebenselixier. Er hat sich von der Mühsal des Reisens, von langen Phasen des Wartens und häufigen Gefahren kaum beeindrucken lassen. So, als beherzigte er das Diktum der taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller, die etwa hundert Jahre später schrieb: »Sicherheit beruht meist auf Aberglauben. Weder kommt sie in der Natur vor, noch ist sie jedem Menschenkind vergönnt. Die Vermeidung der Gefahr ist letztlich nicht sicherer, als sich ihr ohne Umschweife auszusetzen. Das Leben ist entweder ein waghalsiges Abenteuer oder vollkommen belanglos.«
Wir sind bereit, unsere Bürgerrechte einschränken zu lassen, damit wir vermeintlich vor einer statistisch verschwindend geringen Terrorgefahr geschützt werden. Wir fühlen uns unsicher, obwohl die Kriminalitätsraten beharrlich sinken. Weil wir in zivilisatorischen Blasen leben, schätzen wir Risiko falsch ein und lassen uns leicht einschüchtern. Außer auf vertrautem Terrain, etwa beim Autoverkehr. Da gehen wir erstaunliche Risiken ein. Wie viele Mitmenschen fahren auf der Autobahn lebensgefährlich dicht auf, hätten aber Bedenken, in eine motorisierte indische Rikscha zu steigen. Diese Widersprüche macht sich die Tourismusindustrie zunutze, indem sie uns ein kommodes, transportables Getto garantiert, eine Vollpanzerung gegen die Gefahren der Fremde: das luxuriöse Schiff, das internationalen Standards entsprechende Hotel, den Privatstrand, an dem sich keine aufdringlichen Einheimischen tummeln.
Die Tourismusindustrie muss das Produkt, das sie verkauft, erst erfinden. Das macht sie einerseits kreativ (siehe die Vielzahl an Spezial- und Nischenreisen, die in den letzten Jahrzehnten auf den Markt gekommen sind), andererseits entzaubert sie dadurch das Reisen. Denn das im Katalog ausbuchstabierte Programm ist ein Menü garantierter Leistungen; das Salz der Reisen hingegen ist das Unerwartete, die Überraschung. Für viele Reisende bestehen die Höhepunkte einer Reise im Nachhinein betrachtet aus nebensächlichen Augenblicken, die einen persönlich berührten; nicht aus den abertausend Mal reproduzierten Abziehbildern, sondern aus einem ganz und gar individuellen Erlebnis: In einer winzigen Gasse, in die wir uns verirrten, war ein uriges Café, in dem einige alte Männer Domino spielten, und weil wir stehen blieben, wurden wir hineingewinkt und tranken den besten Thé à la Menthe unseres Lebens, mit gerösteten Pinienkernen natürlich, und wir schauten den Männern beim Spiel zu und unterhielten uns mit Händen und Füßen. Dies ist nur ein beliebiges Beispiel, ein jeder von uns wird es durch etwas Eigenes und Unvergessliches ersetzen können.
In diesem Buch möchte ich versuchen, dem existenziellen Zauber des Reisens nachzuspüren, ohne Schwärmerei oder esoterische Verklärung, sondern eher pragmatisch gesinnt. Mich haben auf der ganzen Welt immer wieder jene spirituellen Traditionen beeindruckt, die aus einer handfesten Praxis herrühren: Gehen, Schweigen, Teilen. Getragen von der Erkenntnis, dass tieferes Empfinden einfache Instrumente der Weltbegegnung voraussetzt.
Bevor wir die Möglichkeiten des Reisens auf zwölf Etappen abschreiten, möchte ich beteuern, dass ich kein antitouristischer Snob bin. Wir sind heute alle Touristen. Und jedem anständigen Touristen missfallen die anderen Touristen. Jeder von uns hat schon mal den Satz von sich gegeben (oder zumindest gehört): Dort ist es mir zu touristisch! Meist begleitet von einem tiefen Seufzer, der impliziert, man selbst habe die Reinheit der unberührten Beschau genossen und gewürdigt, aber inzwischen sei der Ort leider abgegriffen von den vielen gierigen Blicken. Solche Klagen sind alt: Bereits 1817 schrieb der englische Dichter Lord Byron, Rom sei »verseucht von Engländern, eine Menge glotzender Tölpel«. Und sie ergeben nur Sinn, wenn man sich der Illusion hingibt, selbst kein Tourist zu sein. Eine Werbung am Flughafen von Dhaka machte sich vor Jahren diese Paradoxie zunutze, indem sie folgende Einladung aussprach: »Besuchen Sie Bangladesch, bevor die Touristen es entdecken!«
Es kann durchaus beglückend sein, dass ein Ort touristisch erschlossen ist. Denn nur an einem solchen Ort finden wir jene vielfältigen Inszenierungen vor, die wir oft suchen – die romantische Stimmung, zu deren Krönung nur noch eine Kleinigkeit fehlt, ergo ein kühles Glas Wein oder ein kaltes Bier zum Sonnenuntergang, ergo Infrastruktur, Strom, Verkehrsanbindung. Der Sonnenuntergang in der Wildnis hingegen fühlt sich eher bedrohlich an, weil man kurz darauf einer ungewissen Dunkelheit ausgeliefert sein wird und Geräuschen, die das stadtgewohnte Ohr nicht zuzuordnen vermag. Ein vom Tourismus eroberter und ausgestatteter Ort kann die Erfüllung von Wünschen, die Befriedigung von Sehnsüchten bedeuten. Der Strand einige Dutzend Kilometer nördlich der sehr touristischen kenianischen Stadt Malindi ist traumhaft: weißer Sand, hohe Dünen, kein Mensch weit und breit. Pure, wunderschöne Idylle. Man springt ins Wasser, wälzt sich im Sand. Aber nach einer Stunde fällt einem auf, dass es keine Duschen gibt und keinen Schatten, dass nichts zum Trinken oder Essen angeboten wird. Und man sehnt sich nach einem Cappuccino zum Meerblick. Es wäre ehrlicher,...