2.1 Was ist ein Gedicht? Vorurteile und Besonderheiten
Die Frage, was genau ein Gedicht ist, erscheint nur auf den ersten Blick einfach. Tatsächlich ist sie so schwer zu beantworten, dass auch die Wissenschaft an dieser Stelle noch lebhaft diskutiert. Nun kann einem die Definition eines Gedichts in einer Klausur zunächst relativ gleichgültig sein. Typischerweise heißt es in der Aufgabenstellung ja nicht »Entscheiden Sie, welcher der drei Texte ein Gedicht ist, und begründen Sie Ihre Entscheidung«, sondern einfach: »Interpretieren Sie das Gedicht«. Wichtig ist die begriffliche Bestimmung aber insofern, als über Gedichte viele Vorurteile im Umlauf sind, die eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Text behindern. Das betrifft zunächst Vorbehalte gegenüber der Lyrik überhaupt: so zum Beispiel die Idee, dass Gedichte sich grundsätzlich durch krause oder unklare Gedanken und eine künstlich verdunkelte Sprache auszeichnen und darum prinzipiell unverständlich seien. Nichts für klare Denker also. So als ginge es in der Lyrik eher um ein wichtigtuerisches Geraune, das man nicht verstehen, sondern allenfalls bewundern und anbeten könne. In seiner Wirkung ist dieses Vorurteil verwandt mit dem, dass es in Gedichten immer um Gefühle gehe, über die man als rational orientierter Mensch eigentlich nicht sinnvoll sprechen könne. Diese beiden Vorurteile sind deshalb so problematisch, weil sie nahelegen, dass man als vernünftiger Schüler eine Gedichtinterpretation am besten gar nicht beginnen sollte. Oder, wenn man in einer Klausur dazu gezwungen wird, keine ordentlichen Ergebnisse produzieren könne. Daneben gibt es auch Vorstellungen, die die Durchführung einer Gedichtinterpretation zwar nicht grundsätzlich, jedoch im Einzelnen behindern: so zum Beispiel die Idee, dass Gedichte unmittelbarer Ausdruck des seelischen Innenlebens des Autors seien. Was insofern eine wenig hilfreiche Unterstellung ist, als so der Eindruck entsteht, dass es bei der Gedichtinterpretation gar nicht so sehr auf das Gedicht als Text ankomme, sondern auf die zu ergründende Psyche des Dichters. Als ob Dichter nicht vor allem darum interessant wären, weil sie interessante Gedichte geschrieben haben. Die hier genannten Vorstellungen von Gedichten sind zwar nicht vollkommen falsch, sie erweisen sich aber als wenig hilfreich für die Interpretation.
Ja, Gedichte sind oft etwas schwerer zu verstehen als andere Textformen. Das liegt aber in aller Regel nicht daran, dass hier unnötig verworren oder »dunkel« gesprochen wird, sondern dass hier jedes sprachliche Detail bedeutsam ist, dass der Sinn hier besonders konzentriert und auch in diesem Sinne »verdichtet« erscheint. Gedichte illustrieren sehr anschaulich eine Eigenschaft, die der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885–1972) ganz allgemein zum Merkmal der »großen Literatur« erklärte, nämlich: dass sie »in größtmöglichem Maße mit Sinn aufgeladen sei« (»charged with meaning to the utmost possible degree«). Wenn Gedichte schwer verständlich erscheinen, dann nicht, weil sie besonders chaotisch sind, sondern weil sie eine besonders komplizierte Ordnung aufweisen. So schwierig sie im Einzelnen auch sein mögen: Gedichte sind immer sprachliche Aussagen, die darauf abzielen, von einem Leser oder Zuhörer verstanden zu werden. Im Grenzfall sind sie vielleicht auch zu verstehen als provozierend schwer verständliche Aussage, durch die die unkomplizierte Alltagskommunikation in Frage gestellt wird, vielleicht auch als Appell ans Gefühl, mit dem signalisiert wird, dass es neben vernünftigen Dialogen auch andere Dimensionen des Miteinanders gibt. Aber auch Appelle an Gefühle und provozierend rätselhafte Gesten müssen ja als solche verstanden werden, um angemessen beantwortet zu werden. Das gilt für schwer zu verstehende Gedichte ganz ähnlich wie für schwer zu deutende kommunikative Gesten im Alltag, für plötzliche Tränenausbrüche oder das rätselhafte Türknallen, nachdem jemand wortlos den Raum verließ: man versteht den Sinn oft nicht sofort, aber Gesten sind immer Gesten, die danach verlangen, gedeutet und beantwortet zu werden. Sprachliche Äußerungen – und somit auch schwer verständliche Gedichte – enthalten grundsätzlich immer die metasprachliche Anweisung: »Versteh mich!« Und noch deutlicher signalisiert die Veröffentlichung von Gedichten, dass diese für eine verstehende Leserschaft entworfen wurden. Auch ein schwer verständliches Gedicht ist also kein Stein am Kiesstrand, der ohne Sinn einfach nur daliegt, sondern immer auch eine Aufforderung an den Leser, sich deutend mit ihm zu beschäftigen, seinen Sinn zu erfassen.
Ja, und offensichtlich handeln Gedichte tatsächlich oft von Gefühlen. Besonders seit der Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert setzt sich der Eindruck durch, dass es der lyrischen Dichtung wesentlich sei, Gefühle zum Thema zu machen. In Abgrenzung zur rhetorischen Lyrik des Barock und der rational orientierten Dichtungstheorie der Aufklärung entwickelte sich erst eine empfindsame Lyrik und dann die Dichtung des Sturm und Drang, in denen intensives Fühlen nicht nur zum Thema wurde, sondern die leidenschaftliche Ergriffenheit des Sprechens auch durch die sprachlichen Mittel (Ausrufezeichen, Ellipsen, kurze Verse) variantenreich betont wurde. Gleichwohl sind Gedichte aber nie unmittelbar der Spiegel von Gefühlen, sondern immer gestaltete sprachliche Aussagen, die den Eindruck des Emotionalen erzeugen sollen. Wenn Gedichte von Gefühlen handeln, dann in einer sprachlichen Form, die zeigen soll, dass der Sprecher von bestimmten Gefühlen bewegt wird. Da wir es auch in einer sehr emotionalen Sprechweise immer noch mit einer Art des gedanklich vermittelten Sprechens zu tun haben, kann und muss diese Rede aber durchaus auch mit intellektuellen Mitteln, mit dem Verstand, gedeutet und verstanden werden. Beim Gedicht geschieht dies in der Regel auf zwei Ebenen: Zum einen wird man das sprachliche Handeln als solches betrachten und beispielsweise eine traurig vorgetragene Klage als Klage verstehen. Schon hier handelt es sich nicht unmittelbar um ein Gefühl, sondern um eine kommunikative Artikulation desselben. Es ist ein Unterschied, ob man bloß traurig ist oder ob man dies auch kommunikativ mitteilt. Und dann geht es ja in Gedichten nie unmittelbar darum, dass jemand traurig (oder besonders glücklich) ist, sondern im Gedicht sind Gefühle immer modellhaft dargestellt. Wenn ein Dichter eine Klage als Gedicht gestaltet, klagt er ja nicht einfach, sondern er stilisiert das Klagen symbolisch verallgemeinert zum Kunstwerk. Die Aussage lautet nicht einfach: »Mir geht es schlecht!«, sondern eher: »So fühlt es sich (im Allgemeinen) an, wenn man über etwas sehr unglücklich ist!« Entsprechend provoziert ein Gedicht als angemessene Reaktion in der Regel auch kein Mitleid (»Der arme Goethe!«), sondern allenfalls Rührung (»Das hat er aber gut zum Ausdruck gebracht!«). Der Dichter erwartet als Antwort auf ein trauriges Gedicht keinen Trost, sondern Lob. Spätestens hier wird aber auch deutlich, dass die lyrische Artikulation von Gefühlen ein erhebliches Maß an Gestaltung und kompositorischer Rationalität erfordert. Wo im Leben wortlose Tränen ein deutliches Zeichen sind, muss der Dichter seine emotionale Haltung in einer bestimmten Situation mit Worten veranschaulichen. Was für den Leser die Konsequenz hat, dass er als Interpret in besonderer Weise gefordert ist. Er muss aufmerksam jedes Detail unter die Lupe nehmen und erörtern, ob es eher in dieser Weise oder in jener zu verstehen ist. Wer gerne mit viel analytischem Verstand an Dinge herangeht, muss um Lyrik also keinen weiten Bogen machen, er findet hier eher eine spannende Herausforderung. Tatsächlich ist die Interpretation eines Gedichts der textgebundenen Erörterung weitaus näher verwandt, als es auf den ersten Blick scheint.
Ja, und sicher erwecken viele Gedichte zunächst den Eindruck, dass sie von Erfahrungen, Gefühlen und Ideen des Autors handeln. Besonders naheliegend ist dieser Eindruck etwa bei den sogenannten Sesenheimer Gedichten des jungen Johann Wolfgang Goethe (1749–1832). Der in »Willkommen und Abschied« (1775/89) dargestellte Ritt eines jungen Mannes zu seiner Geliebten beispielsweise weist viele Parallelen zu dem auf, was Goethe bei den Besuchen bei der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion erlebte und empfand. Aber: Ginge es tatsächlich »nur« um das privat Erlebte des Dichters, würden sich heute kaum noch Menschen für diese Gedichte interessieren. Es gäbe unter dieser Voraussetzung auch kaum einen vernünftigen Grund, Schülern diese Gedichte zur Lektüre zu empfehlen. Bei allem Respekt vor dem Dichter als Mensch, aber Goethe wird wohlgemerkt als Dichter verehrt. Also nicht so sehr, weil er so ein spannendes oder vorbildliches Leben führte, sondern weil er gute Gedichte schrieb. Diese Gedichte sind nicht darum so gut, weil hier der Autor etwas über sich sagt (»so fühlte sich Goethe, als er verliebt durch die Nacht ritt«), sondern weil er Erfahrungen im Gedicht eine allgemeine Form gibt (»so kann es sich anfühlen, wenn man verliebt durch die Nacht reitet«). Und weil er dem Leser zeigt, wie man über Gefühle, Leidenschaften und insgesamt über sich als Mensch...