Lebensziele oder „Viele Wege führen nach Rom“
Kaum sind wir geboren, beginnen wir, mit unserer Umwelt zu kommunizieren. So ist das Schreien eines neugeborenen Kindes zwar zunächst nur ein reflektorisches Verhalten, also eine Antwort auf einen Mangelzustand (zum Beispiel Hunger), aber bereits in den ersten Tagen lernt ein Kind, dieses Schreien bewusst als Instrument zur Beseitigung des jeweiligen Mangelzustands einzusetzen. Das sogenannte instrumentelle Schreien kann als eine der frühesten Formen kommunikativen Verhaltens betrachtet werden. Diesem Schreien wohnt eine Botschaft inne: Das Kind teilt etwas mit, das in der Regel von der Mutter genauso gut verstanden wird, als hätte es Worte gebraucht. Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass kommunikatives Verhalten oft, wenn nicht gar grundsätzlich, dazu dient, bestimmte Ziele zu erreichen. Im Kleinkindalter sind menschliche Ziele üblicherweise leicht zu erkennen, sie dienen der Befriedigung elementarer Bedürfnisse. So werden Hunger und Durst gestillt, Wärme und körperliche Geborgenheit erlangt. Mit dem Älterwerden mehren sich allerdings unsere Wünsche und Bedürfnisse. Es bilden sich viele Teil-, Unter- und Hauptziele heraus, die wir im Laufe unseres Lebens zu erreichen versuchen. Kommunikation ist eines der wichtigsten Mittel, Ziele zu fördern und zu verwirklichen – und Gefühle spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle.
Aber sprechen wir zu Beginn dieses Buches zunächst allgemein über unsere Lebensziele. Denn wenn Sie keine Ziele mehr hätten oder bereits alle Ziele in Ihrem Leben erreicht wären (was bestimmt nicht der Fall ist), so würden Sie mit Sicherheit dieses Buch nicht lesen – und ich hätte es wahrscheinlich nicht geschrieben. Stattdessen würden Sie vielleicht einen spannenden Thriller oder einen interessanten Reisebericht in Händen halten. Aber auch dann würden Sie natürlich Ziele verfolgen: zum Beispiel sich zu erfreuen oder eine Mußestunde einzulegen.
Welches sind aber nun die Lebensziele, auf die es ankommt? Auf den ersten Blick scheinen diese bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich auszufallen:
Mein Lebensziel besteht darin, viel Geld zu verdienen und reich zu werden.
Ich will ein berühmter Künstler/Wissenschaftler/Sportler werden.
Ich möchte irgendwann Kinder und eine Familie haben.
Ich möchte die Welt sehen und viel reisen.
Ich will einen interessanten Beruf haben und darin erfolgreich sein.
Ich möchte meine Abschlussprüfung gut bestehen.
Ich möchte dieses Tennismatch unbedingt gewinnen.
Ich will heute Abend ins Kino gehen.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Da ich mich selbst – wie ich hoffe – einigermaßen kenne, nachdem ich im Laufe meiner Ausbildung zum Psychotherapeuten viele Stunden mit Selbsterfahrung verbracht habe, wäre es nicht schwer, die Liste durch eigene Ziele anzureichern. Zum Beispiel hatte ich zu Beginn und während des Schreibens dieses Buches das Ziel, einen hilfreichen und interessanten Ratgeber zu verfassen. Wie kann ich aber mit Ihnen – ohne Sie zu kennen – über Ihre Lebensziele sprechen?
Die Antwort lautet: Weil es einige wenige Hauptlebensziele gibt, die von den meisten Menschen – manchmal mehr und manchmal weniger bewusst – geteilt werden. Die unterschiedlichen Ziele, wie ich sie beispielhaft soeben skizziert habe, sind in der Regel nur Teilziele bei der Verfolgung übergeordneter Ziele. Zum Beispiel ist der Wunsch, die Abschlussprüfung zu bestehen, ein Teilziel des übergeordneten Ziels, einen interessanten Beruf auszuüben. Wenn Sie einem Ziel auf den Grund gehen und wissen wollen, welches Ziel ihm übergeordnet ist, dann stellen Sie am besten folgende Frage: „Wozu dient dieses Ziel?“
Wozu wollen Sie viel Geld verdienen und reich werden?
Wozu wollen Sie ein berühmter Sportler werden?
Wenn ich beispielsweise meinen Klienten diese Frage stelle, so erhalte ich typischerweise sehr oft keine Antwort oder es dauert einige Zeit, bis mein Gegenüber eine vage Vermutung äußert. Das liegt meist daran, dass sehr viele von uns selten an ihre übergeordneten Ziele denken. Als ich mir beim Schreiben dieser Zeilen selbst die Frage stellte: „Wozu schreibst du eigentlich dieses Buch, nachdem du doch die berühmten drei Dinge im Leben eines Mannes bereits übererfüllt hast – schon mehr als ein Buch geschrieben, mehr als ein Kind gezeugt und mehr als einen Baum gepflanzt“, hat es auch bei mir – ich gestehe es – zunächst eine Weile gedauert, bis ich eine Antwort fand. Ich überlasse sie der Fantasie meiner Leser.
Dass die Beantwortung einer solchen Frage oft nicht ganz einfach ist, führt dazu, dass wir ein übergeordnetes Ziel nicht oder nur sehr spät erreichen. Wir verlieren es aus den Augen oder vergessen es schlicht, während wir mit all unserer Kraft und all unseren Gedanken beschäftigt sind, ein Ziel zu verfolgen, das in Wirklichkeit eigentlich nur ein Durchgangsziel ist.
All unsere Teil-, Durchgangs-, Unter- und Überziele laufen also auf einige wenige Hauptziele hinaus. Ziele sind demnach hierarchisch angeordnet, wie es die folgende Abbildung schematisch und vereinfacht zeigt:
Die Lebenszielpyramide verdeutlicht die Hierarchie menschlicher Lebensziele. Teilziele führen zu neuen übergeordneten Teilzielen, diese wiederum zu weiteren Teilzielen bis hin zu den Hauptzielen an der Spitze der Pyramide.
So könnte etwa ein Teilziel auf der untersten Ebene sein: „Ich möchte berühmt werden.“ Ein übergeordnetes Ziel wäre dann: „Ich möchte viel Geld verdienen“ („… weil ich glaube, dass ich als berühmte Persönlichkeit viel Geld verdienen würde“). Dieses Ziel wiederum könnte im Dienste eines weiteren Teilziels stehen: „Ich möchte von den Mitmenschen bewundert und geliebt werden“ („… weil ich glaube, dass ich als reiche und berühmte Persönlichkeit von den Menschen geliebt werde“).
An der Spitze einer solchen Lebenszielpyramide (die in Wirklichkeit natürlich viel differenzierter ist und noch mehr Teil- und Unterziele umfasst) befindet sich dann das jeweilige Hauptlebensziel, das ich im Folgenden noch erläutern werde. Der Abbildung ist allerdings auch zu entnehmen, dass immer mehrere Wege – also Teilziele – möglich sind, um ein Hauptziel zu erreichen. Manche Teilziele kann man deshalb auch vernachlässigen, ohne dass man das eigentliche Hauptziel aufgeben muss.
Die Hauptlebensziele der Menschen
Wie aber sehen nun die Hauptziele aus? Ein ganz wichtiges Ziel haben Sie vielleicht schon vermutet:
Ein relativ glückliches Leben führen.
Auch hierbei wird offensichtlich, dass nicht nur viele Wege nach Rom führen, wie das Sprichwort sagt, sondern dass es auch viele Wege beziehungsweise viele Durchgangsziele zum Hauptlebensziel Glück gibt. Vielleicht wundern Sie sich darüber, dass ich nicht „glückliches Leben“ schreibe, sondern das Wort „relativ“ voranstelle. Der etwas eingeschränkte Wunsch nach relativem Glück zeugt nicht etwa von falscher Bescheidenheit, sondern entspricht der Vernunft. Absolutes Glück ist in einer unvollkommenen, sich ständig verändernden Welt kaum möglich. Was aber nicht möglich ist, erklären wir besser auch nicht zum absoluten Wunschziel.
Welche Hauptlebensziele gibt es daneben noch? Der bekannte amerikanische Psychotherapeut Albert Ellis – zu seiner Person siehe auch Seite 74 – hat die grundlegenden menschlichen Ziele zusammengefasst:
Grundlegende menschliche Lebensziele – nach Albert Ellis
1. Ein langes Leben in Gesundheit
Alle Menschen wollen so lange wie möglich leben. Und sie wollen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie als sterbliche Wesen ihre Existenz aufgeben müssen, gesund leben. Ihr Ziel ist es deshalb, lebenserhaltend und gesundheitsbewusst zu leben.
2. Ein zufriedenes und relativ glückliches Leben führen
Menschen wollen ihr Wohlbefinden erhalten – das heißt hedonistisch1 leben.
3. a) Sozialen Kontakt zu anderen Menschen pflegen
Die Menschen scheinen ihr Ziel, relativ glücklich und zufrieden zu leben, am ehesten durch ein erfolgreiches Zusammenleben mit anderen Menschen verwirklichen zu können. Sie wünschen sich deshalb, in einem sozialen Umfeld zu leben und mit anderen zu kommunizieren!
3. b) In einer Partnerschaft leben
Neben dem Leben in einer sozialen Gruppe sehen die meisten Menschen eine bedeutsame Beziehung zu einem anderen Menschen (Zweierbeziehung) als besonders Glück verheißend an.
3. c) Sich in Arbeit und Freizeit verwirklichen...