1. Hoffnung und Zweifel
Thema: Stell dir vor!
Datum: 10.2.
From: hanneb@t-online.de
To: sonjan@aol.com
Liebe Sonja,
wahrscheinlich hast du dich gewundert, weshalb ich letzte Woche auf deiner Abschiedsparty so neben der Spur war. Genau genommen laufe ich seit Tagen vollkommen orientierungslos durch die Gegend und frage mich unablässig, ob meine Ahnung stimmt oder nicht. Seit heute Morgen habe ich Gewissheit: Ich bin schwanger.
Nie werde ich vergessen, wie ich auf das Testfeld starrte, das sich langsam verfärbte: blau, blau, blau! Kein Zweifel möglich. Oh Baby!
Ich nehme an, du kannst dir vorstellen, in welches Chaos mich diese Neuigkeit gestürzt hat. Soll ich? Soll ich nicht? Die Gedanken wirbeln nur so durcheinander, nichts passt zusammen. Ich – eine Mutter? Bloß nicht! Ich – eine Mutter? Ja, Jaaaaah!
Bitte antworte mir ganz schnell und sag mir, was ich tun soll,
deine Hanne
Ungeplant heißt nicht immer unerwünscht
Laut einer Studie der pro familia ist mehr als die Hälfte aller Schwangerschaften in der Bundesrepublik ungeplant. Das wirft ein Licht auf die Ambivalenz des Kinderwunsches. Obwohl es heutzutage möglich ist, eine Empfängnis fast hundertprozentig zu verhindern, gibt es offenbar Beziehungen und Situationen, in denen Frauen und Männer eine klare Entscheidung nicht treffen wollen oder können.
Ungeplant heißt also nicht automatisch unerwünscht. Experten schätzen, dass letztlich etwa zwei Drittel aller Kinder erwünscht und ein Drittel unerwünscht ist. Die Forschung hat es in dieser Frage allerdings nicht leicht. Denn wer gibt schon zu, dass er sein Kind nicht gewollt hat? Hinzu kommt: Die Einstellungen der Eltern ändern sich häufig im Verlauf der Schwangerschaft und während des Zusammenlebens mit dem Kind. Aus einer ursprünglichen Ablehnung kann langsam eine bejahende Haltung werden. Umgekehrt kann eine anfänglich hohe Motivation in Ablehnung umschlagen.
Welche Folgen haben die Gefühle der Eltern für die Entwicklung eines Kindes? Fest steht, dass bewusste Unerwünschtheit ebenso wie unbewusste Ablehnung häufig schwer wiegende körperliche und seelische Folgen haben. Nach Ansicht namhafter Psychoanalytiker und Psychotherapeuten spricht sogar vieles dafür, dass die Benachteiligung der Ungeliebten bereits vor der Geburt beginnt: Schon das Ungeborene spürt, ob es willkommen ist oder nicht.
Buchtipp: Häsing, Helga/Janus, Ludwig (Hg.): Ungewollte Kinder, 2001 (s. Anhang)
Thema: RE: Stell dir vor!
Datum: 10.2.
From: sonjan@aol.com
To: hanneb@t-online.de
Liebe Hanne,
ich fall in Ohnmacht! Ein Baby! Ich hatte mir in der Tat schon Sorgen gemacht. Dachte, das Fest hätte dir nicht gefallen, oder du wärest aus irgendeinem Grunde sauer. Aber jetzt erst mal herzlichen Glückwunsch! Auch wenn du selbst dich noch nicht so ganz freuen kannst: Ich freue mich für dich. Ich freue mich sogar ganz schrecklich!
Du wirst sehen: Ein ganz neues, wunderbares, aufregendes Leben erwartet dich. Klar, Kinder machen Mühe. Du wirst unzählige schlaflose Nächte verbringen, jahrelang nur noch klebrige Türklinken anfassen, permanent Rotznasen abputzen, Tausende von Fischstäbchen braten und, was vielleicht das Schlimmste ist, noch mal – dem Turbo-Abitur sei Dank! – zwölf Jahre zur Schule gehen. Aber was zählt das gegen die Freude? Kinder machen unwiderstehliche Komplimente, riechen gut und legen einem hinreißende kleine Liebesbriefe aufs Bett.
Darf ich es Frank schon erzählen? Der findet das bestimmt auch ganz toll.
Alles Liebe,
deine Sonja
Thema: Chaos im Kopf
Datum: 11.2.
From: hanneb@t-online.de
To: sonjan@aol.com
Liebe Sonja,
es wäre mir lieber, wenn die Sache erst mal unter uns bleibt. Zumindest so lange, bis ich weiß, was ich will.
Es ist nämlich so, dass ich völlig hin- und hergerissen bin zwischen Baby-Lust und Baby-Panik. Einerseits kann ich es kaum erwarten, mein Kind im Arm zu halten und meine Nase in seine kleine Halsgrube zu stecken. Schon jetzt ist mir das Wesen, das in meinem Bauch wächst, näher als jeder andere Mensch.
Andererseits mache ich mir schwere Vorwürfe: Wie konnte ich so leichtsinnig sein? Denn die Schwangerschaft ist ja kein Unfall, sondern dadurch entstanden, dass ich in letzter Zeit immer öfter die Augen zugemacht habe, wenn mein Verhütungscomputer rotes Licht gab. Nach dem Motto: Wird schon nichts passieren.
Und das ausgerechnet jetzt, wo die Leute aufs Geld sehen wie noch nie und ein kleiner Buchladen wie meiner kaum eine Chance hat, sich gegen die Konkurrenz der großen Ketten und Internet-Läden zu behaupten. Wenn ich dann noch dauernd höre, dass unsere Generation beizeiten anfangen muss, fürs Alter vorzusorgen, wird mir ganz anders. Wie soll ich das hinkriegen, wo ich doch jetzt schon jedes Monatsende knapp bin? Und wie soll ich da noch für ein Kind sorgen, geschweige denn in zwanzig Jahren Studiengebühren für seine Ausbildung hinblättern?
Und dann Heiko als Kindsvater – unvorstellbar! Unsere Beziehung ist ja ganz nett, aber nichts wirklich Ernstes. Er jedenfalls hat immer ganz klar gesagt, dass er sich nicht als Familienvater sieht. Er verhandelt übrigens gerade mit einer Filmproduktions-Firma in Berlin – kann sein, dass er in zwei Monaten gar nicht mehr in Frankfurt lebt. Nun ja, selbst schuld, wenn ich demnächst ein Hartz-IV-Fall bin.
Blöd, dass du ausgerechnet jetzt nach Seattle gezogen bist. Ich hoffe, es gefällt dir gut und Frank ist mit seinem neuen Job zufrieden.
Ich vermisse dich und unsere Gespräche,
deine Hanne
Thema: RE: Chaos im Kopf
Datum: 12.2.
From: sonjan@aol.com
To: hanneb@t-online.de
Liebe Hanne,
dass ein Kind in die Lebensplanung passt, kommt meiner Erfahrung nach selten vor. Irgendwie ist der Zeitpunkt immer falsch. Jeder normale Mensch hat mindestens zehn gute Gründe parat, sich keinen Nachwuchs zuzulegen. Also wird das Kinderkriegen immer weiter nach hinten verschoben. Und wenn es endlich so weit ist, heißt es: Achtung, fertig, kinderlos!
Was soll der Blödsinn? Ich will deine Sorgen bestimmt nicht klein reden, aber du solltest auch bedenken: Unsere Großmütter haben ihre Kinder in viel schwereren Zeiten gekriegt. Und doch habe ich noch nie gehört, dass eine gesagt hätte: Ich wäre lieber kinderlos geblieben. Klar liest man jeden Tag: Steuern rauf, Renten runter. Ich bin zwar nicht mehr in Deutschland, aber die Panik schwappt sogar nach Amerika zu mir herüber, zumal Frank mir jeden Tag einen Stapel deutscher Zeitungen aus dem Büro mitbringt. „Den Deutschen fehlt der Wunsch zum Kind“, lese ich jeden Tag und – gerade gestern in der „Süddeutschen“: „German Angst macht unfruchtbar.“ Wobei sich der Autor zum Glück nicht daran beteiligt, das letzte zeugungswillige Paar mit liebevoll geschilderten Bedrohungsszenarien zu verprellen, im Gegenteil: „Alles, was Spaß macht, kostet nun einmal Geld“, schreibt er und: „Leute, rechnet nicht, macht einfach. Rechnen macht arm. Machen macht glücklich.“
Genauso ist es, meine Liebe! Kinder sind unsere Zukunft. Kinder zeigen einem, was wirklich wichtig ist. Kinder bedeuten einfach: mehr Leben!
Im Übrigen lassen sich Bedingungen umgestalten. Wenn man will, kann man sie passend machen. Du schaffst das schon, da bin ich mir sicher. Zur Not auch ohne Heiko. Du hast bislang doch immer alles hinge-kriegt.
Deine Sonja (die immer zu dir steht!)
Thema: German Angst
Datum: 13.2.
From: hanneb@t-online.de
To: sonjan@aol.com
Liebe Sonja,
du hast ja so Recht – einerseits: Vielleicht ist dieses Kind genau die Herausforderung, die ich brauche, ein Anstoß, meine irgendwie immer noch studentische Existenz hinter mir zu lassen, Verantwortung zu übernehmen und meinem Leben eine Richtung zu geben. Wie sagt man so schön: Man wächst mit seinen Aufgaben. Hoffentlich ist das bei mir auch so.
Andererseits habe ich das Gefühl, dass man als Eltern verdammt allein gelassen wird. Klar kriegt man vorab jede Menge Applaus – zumal jetzt, wo Zeugungspatrio-tismus gefragt ist: Neue Kinder braucht das Land!
Auf der anderen Seite muss man die Folgen der Kinderaufzucht doch ganz allein tragen. Ein Beispiel: Die neue Regierung schafft die Eigenheimzulage ab: Wer hat denn bislang davon profitiert? Zu zwei Dritteln waren das Familien – weil...