DIE PSYCHE IM STRESS
Kennen Sie irgendjemanden, der nicht an seiner Psyche leidet oder litt? Einen, der stets gut gelaunt und optimistisch durchs Leben spaziert und dem es gelingt, alles, was ihm passiert, positiv zu finden? Ich schon. Er heißt Hans im Glück und stammt aus Grimms Märchen. Man könnte sich von dem jungen Kerl eine Scheibe abschneiden, das würde nicht schaden. Aber die Realität ist anders. Mit positivem Denken ist es nicht getan. So naiv können wir uns gar nicht stellen, um zu verleugnen, dass es sehr ungünstige Erfahrungen gibt, die uns prägen, und immer wieder schwere und herausfordernde Ereignisse, die unseren Seelenfrieden bis zum Äußersten strapazieren.
Wir alle kennen Leid, Schmerz und Kummer. Diese Gefühle gehören zum Leben. Niemand wird verschont. Das darf auch so sein. Es ist so normal wie die Tatsache, dass morgens die Sonne aufgeht und abends wieder verschwindet. Wir sind deshalb aber noch lange nicht alle psychisch krank, weil wir Dinge erleben, die schwierig sind, die uns vielleicht sogar traumatisieren. Doch viele von uns fühlen sich heute hilflos und ohnmächtig, mit den Wechselfällen des Lebens umzugehen. Ich habe das bei Tausenden Patienten erlebt. Sie haben das Handwerkszeug verloren oder nie besessen, sich selbst zu beruhigen und zu trösten, sich die richtige Hilfe an die Seite zu nehmen, Geduld und Nachsicht zu üben und die Gesetze des Lebens anzuerkennen. Sie müssen jedoch begreifen, dass sie gerade aus den besonders herausfordernden Situationen lernen können.
Die Entwicklung ist alarmierend. Acht Millionen Menschen in Deutschland gelten als behandlungsbedürftig psychisch krank, 1,2 Millionen sind Jahr für Jahr in Behandlung. Jeder Dritte leidet einmal in seinem Leben an einer Depression. Allein im Jahr 2014 entstanden 8,3 Milliarden Euro an »Produktionsausfallkosten«, weil Arbeitnehmer wegen »psychischer und Verhaltensstörungen« krankgeschrieben waren. 2004 lagen diese Kosten noch bei 4,2 Milliarden Euro. Das ist ein enormer Anstieg um fast hundert Prozent in den letzten Jahren. Psychische Krankheiten sind eine moderne Epidemie.
Es geht früh los mit den Problemen. Ein Drittel der Schüler in Deutschland hat mit Stress-Symptomen zu kämpfen, offenbart das »Kinderbarometer«, eine Umfrage bei Neun- bis Vierzehnjährigen. Die Kinder gaben an, sie seien gereizt, niedergeschlagen, nervös, der Kopf tue weh, der Rücken, der Bauch. Die Hälfte der Schüler mit solchen Beschwerden verzweifle in der Schule, schreiben die Wissenschaftler. Weiter geht es an den Universitäten: Prüfungsdruck, Zukunftsangst, Perfektionswahn – der Uni-Stress nimmt zu, viele Studenten fühlen sich überfordert. Jeder Zweite fühlt sich unter Dauerdruck, zeigt ein Report der AOK von 2016, für den mehr als 18 000 Studenten befragt wurden.1 Eine große Zahl nimmt Aufputschmittel. Und in der Berufswelt sieht es nicht viel besser aus: Millionen halten sich mit Medikamenten über Wasser, die Angst lösen, die die Stimmung aufhellen oder die aufgescheuchte Seele beruhigen sollen. Und sie trinken zu viel Alkohol. Manager konsumieren Kokain, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern – nein, das ist kein Klischee, sondern das ist wahr. An allen Ecken lassen sich Therapeuten nieder, die sofort und durchgehend eine volle Praxis haben, völlig unabhängig von ihrer Reputation und ihrem Können.
Es ist richtig, sich Hilfe zu suchen. Ich habe großen Respekt vor allen Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie aus dem Sumpf herauskommen sollen, in dem sie bis zum Hals stecken. Vielen von denen, die sich beinahe schon aufgegeben haben, ist es durch – manchmal nur kleine, aber maßgebliche – Anstöße möglich, ihr Lebensgefühl deutlich zu verbessern. Bei etlichen geht es darum, sich selbst kennenzulernen und zu erkunden, was eigentlich im Jetzt und Hier los ist, um so wieder ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben zu bekommen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, wie unser Gehirn funktioniert. Es ist so wesentlich dafür verantwortlich, wie wir uns fühlen.
Ich halte es für eine tröstliche Nachricht, dass da vieles festgelegt ist – und es dennoch einen schönen Spielraum gibt, um dem Leben in scheinbar aussichtslosen Situationen eine Wendung zum Positiven zu geben.
Was in unserem Gehirn stattfindet, wenn wir fühlen
Aus der Gehirnforschung wissen wir heute sehr viel darüber, warum der Mensch so ist, wie er ist, und so fühlt, wie er fühlt. Bis zu unserem zwölften Lebensjahr wird unser Gehirn programmiert wie ein Computer, und zwar sehr individuell. Temperament und Persönlichkeit sind dann fertig ausgebildet und durch Therapien kaum mehr zu beeinflussen. Natürlich ähneln Menschen einander in ihren Auffassungen, je nachdem, wo sie aufgewachsen sind und welchen Einflüssen sie ausgesetzt waren. Aber kein einziges Gehirn entspricht im Detail dem anderen. Schon deshalb sollte man gar nicht erst damit anfangen, sich mit anderen zu vergleichen, und auch nicht davon ausgehen, dass der andere, zum Beispiel der Mensch, mit dem man seit Jahren zusammenlebt, auf Anhieb versteht, was man meint.
Aus Milliarden von Hirnzellen, die anfangs kreuz und quer und chaotisch durch Axone, Dendriten, Neuriten und Synapsen miteinander Kontakt haben, entwickelt sich früh ein Netz mit geordneten Bahnen. Die Verbindungen, die viel benutzt werden, festigen sich wie Trampelpfade im Wald. Es bilden sich Rezeptoren, also Empfangsstellen für Hormone, je nachdem, welche Hormone in den prägenden Zeitfenstern abgerufen werden.
Das beginnt, wie man heute weiß, bereits im Mutterleib. Wer hier viel Stress ausgesetzt ist, der bildet mehr Rezeptoren für Cortisol oder Adrenalin und wird stressempfindlicher. Wer dagegen Geborgenheit und Ruhe erlebt und vielleicht sogar noch in angenehmer Lautstärke mit Sonaten von Mozart oder mit Meeresrauschen beschallt wird, bei dem entwickeln sich besonders sensible Antennen für Oxytocin und Serotonin, das heißt, bei dem werden diese Gute-Stimmung-Hormone später auch dann noch produziert, wenn es um ihn herum chaotisch und unwirtlich zugeht. Wer reichlich Rezeptoren dafür ausgebildet hat, weil er einfühlsam und zärtlich behandelt wurde und in früher Zeit keine schweren Schocks und Ohnmachtsgefühle erleben musste, geht mit der Sicherheit durch die Welt, in Ordnung zu sein, mit der Fähigkeit, sich Unterstützung bei anderen Menschen zu suchen, wenn er sie braucht – und nicht zwangsläufig mit der Naivität eines Hans im Glück, aber doch mit einer Art Gottvertrauen, dass das Leben in Ordnung ist, so wie es ist.
Alles, was unsere Gefühle betrifft, hat neurowissenschaftlich mit dem limbischen System im Gehirn zu tun. Dieses System, umgangssprachlich »emotionales Gehirn« genannt, besteht aus vier Ebenen und ist für die Verarbeitung von Gefühlen und für die Steuerung unserer Triebe zuständig. Das meiste ist spätestens unwiederbringlich angelegt, wenn wir die Pubertät hinter uns haben. Das ist interessant und durchaus auch desillusionierend.
Die untere limbische Ebene formt sich in der Embryonalzeit – besonders stark durch genetische Faktoren und zusätzlich durch Einflüsse in der Schwangerschaft. Hier entsteht das Temperament, das Menschen ihr Leben lang beibehalten. Die vorgeburtliche Phase hat erheblichen Einfluss auf die spätere Entwicklung der Persönlichkeit, wissen wir heute aus der Forschung. Noch vor wenigen Jahrzehnten hielt man das für Quatsch. Weil Kinder inzwischen also nachweislich nicht erst zu fühlen beginnen, wenn sie das Licht der Welt erblickt haben, ist es so wünschenswert, dass Frauen eine ungestörte stressfreie Schwangerschaft erleben. Anspannung und Ärger in dieser Zeit sind schlecht für das Kind. Bitte, das sollen auch die Partner, die Kollegen, die Vorgesetzten der Frauen berücksichtigen. Und ganz besonders die Frauen selbst, die oft von sich verlangen, auch noch im neunten Monat alles zu stemmen wie immer. Das muss nicht sein. Wenn werdende Mütter auf die eigenen Grenzen achten, profitiert der heranwachsende Erdenbürger davon ein Leben lang. Diese erste, die untere limbische Ebene hat vor allem mit unseren unbewussten Reaktionen zu tun. Sie hat einen starken Einfluss auf unser Verhalten, wenn es um elementare Dinge wie Essen und Schlafen geht. Durch Erziehung und Erfahrungen lässt sie sich kaum beeinflussen.
In den ersten Kindheitsjahren entwickelt sich die zweite, die mittlere limbische Ebene. Sie wird durch Erfahrungen beeinflusst, die wir mit unseren Eltern und anderen Bezugspersonen machen. Vor allem in dieser Zeit entstehen die individuellen Verschaltungen, die einflussreichsten emotionalen Prägungen des Gehirns. Unser Selbstbild reift. Wir entwickeln Mitgefühl. Diese und die erste Ebene bilden den Kern unseres Wesens.
Die dritte, die obere limbische Ebene speichert bewusste Antriebe und Erfahrungen. Hier entwickeln sich Impulshemmer. Wir lernen, Risiken zu erkennen und zu bewerten. Moral sowie Belohnungs- und Bestrafungssysteme sind an dieser Stelle beheimatet. Diese Ebene wird etwa ab dem 14. Lebensjahr gebildet. Es handelt sich, vereinfacht gesagt, um die sozial kommunikative Ebene. In dieser Zeit kristallisieren sich die sozialen und ethischen Normen heraus. Der Jugendliche macht sich auf den Weg, unabhängig von den Werten und Überzeugungen der Eltern seine eigenen Normen zu finden. Sozialisation nennt sich das. Gleichzeitig spielt natürlich auch das bisher Prägende eine Rolle: Welche Grundstruktur bringt der Jugendliche mit? Ist er ein Rebell? Ein Optimist? Ein Ängstlicher? Eine Kämpfernatur? Entsprechend wird...