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E-Book

Kultur

AutorTerry Eagleton
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783843716376
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der »unkultivierten« Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.

Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy. Der international gefeierte Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker hat über 50 Bücher verfasst. Auf Deutsch liegen u.a. vor Der Sinn des Lebens (2008), Das Böse (2011), Warum Marx recht hat (2012) und Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch (2016).

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Leseprobe

2


Postmoderne Vorurteile

Für postmoderne Denker ist die Entwicklung einer Vielzahl von Kulturen Tatsache und Wert zugleich. Danach ist die Existenz verschiedenartiger Lebensweisen – von Schwulenkultur über Karaoke-Kultur, Sikh-Kultur, Burlesque-Kultur bis hin zu Hell’s-Angels-Kultur – an sich ein beglückendes Phänomen. Das ist sicherlich ein Irrglaube. Tatsächlich ist diese Auffassung typisch für die Heuchelei, mit der dieses Thema heute behandelt wird. Einerseits ist Vielfalt durchaus mit Hierarchie zu vereinbaren, andererseits steht keineswegs fest, dass die Hell’s-Angels-Kultur vorbehaltlos zu begrüßen ist. Jedenfalls ist Vielfalt kein Wert an sich. Es versteht sich nicht von selbst, dass 50 Stück von irgendetwas besser sind als eines. Ganz sicher gilt das nicht für neofaschistische Parteien. Niemand braucht 6000 verschiedene Marken Müsli. Es mag unlogisch klingen, dass wir nur ein Kartellamt haben, aber mehr wären verwirrend. 400 verschiedene Pseudonyme zu haben ist vermutlich keine gute Idee. Wir können nicht mehr als eine biologische Mutter und ein Paar Ohren haben. Doch das ist kein Mangel, geschweige denn eine Tragödie. Eine große Vielfalt von Ehepartnern zu haben dürfte gelegentlich das eine oder andere Problem aufwerfen. Auch ist nicht viel Gutes von einer reichen Auswahl an Autokraten zu erwarten. Es gibt Zeiten, da brauchen wir keine Vielfalt, sondern Solidarität. Nicht Vielfalt zwang das Apartheid-System in Südafrika in die Knie, und nicht Pluralität stürzte die neostalinistischen Regime in Osteuropa. Natürlich ist nicht jede Solidarität unterstützenswert. Aber dass sich die Postmoderne so wenig für diese Idee begeistern kann und zudem in unausgegorener Weise annimmt, alle Formen von Einheit seien »essentialistisch«, ist ein deutliches Erkennungszeichen für ihren postrevolutionären Charakter. Ethnisch betrachtet ist Vielfalt ein positiver Wert, aber das sollte uns nicht dazu verführen, ihre Rolle in der konsumistischen Ideologie zu übersehen.

Die postmodernen Pluralitätsapostel wären gut beraten, pluralistisch mit dem Begriff umzugehen. Sie sollten das formalistische Dogma aufgeben, nach dem Pluralität unabhängig von ihrem tatsächlichen Inhalt immer und überall zu preisen sei. Etwas pragmatischer gestimmt, würden sie vielleicht merken, dass Unterschied und Vielfalt manchmal von Vorteil sind und manchmal nicht. Ein amerikanischer Vertreter der Postmoderne schrieb vor einigen Jahren von der Notwendigkeit, soziale Klassen zu diversifizieren, als wäre es ein unbezweifelbarer Gewinn, eine weitere Adelsgruppierung zu haben, die noch ein paar Tausend Hektar mehr an Grund und Boden besäße. Für solche Denker wäre es zweifellos ein großer Fortschritt, wenn sie etwas vielfältiger mit der Vielfalt umgingen und anerkennen würden, dass Differenz von einem Kontext zum anderen differieren kann. Sie könnten auch etwas weniger absolut mit dem Begriff des Andersseins umgehen, den die meisten von ihnen vorbehaltlos bejahen. Einige Formen des Andersseins sind zu begrüßen, andere (beispielsweise eine marodierende Bande von Drogendealern, die in Ihre Sozialbausiedlung eindringt) dagegen nicht. Es ist nicht im mindesten irrational, gelegentlich Furcht vor dem anderen zu haben. Vielleicht muss man erst einmal feststellen, ob seine Absichten freundlich oder feindlich sind. Nur sentimentale Schwärmer meinen, man müsse Fremde immer in die Arme schließen. Einige dieser Fremden kennt man unter der Bezeichnung Kolonialisten.

Die meisten Kulturtheoretiker glauben nicht nur an eine Pluralität der Lebensweisen, sondern auch daran, dass diese sich hybrid mischen müssten. In ethnischen Fragen wäre Hybridität sicherlich von Vorteil, aber das trifft nicht überall zu. Eine politische Organisation aus Jakobinern, Psychopathen, Ufo-Enthusiasten und Siebenten-Tags-Adventisten würde sicherlich keinen Schaden anrichten. Aber sie würde auch nichts ausrichten. Wie Marx darlegt, ist keine Produktionsweise der menschlichen Geschichte so hybrid, vielfältig, inklusiv und heterogen wie der Kapitalismus, der Grenzen ausradiert, Gegensätze aufhebt, feste Kategorien miteinander verschmilzt und eine Vielfalt von Lebensweisen zusammenmischt. Nichts ist von so großzügiger Inklusivität wie die Ware, die in ihrer Geringschätzung für die Unterschiede von Rang, Klasse, Ethnie und Geschlecht sich mit jedem gemein macht, vorausgesetzt, er hat das nötige Kleingeld, um sie zu kaufen. Der Kapitalismus steht der Hierarchie ebenso feindselig gegenüber wie die Kulturwissenschaft. Jeder ist zu inkludieren, ausgenommen jene, deren Politik das Bezugssystem untergraben könnten, in dem diese Inklusion stattfindet. In Großbritannien hat es Versuche gegeben, den National Health Service durch Vermischung des öffentlichen Gesundheitssystems mit privater medizinischer Versorgung zu hybridisieren. Wer in der Hybridität ein Gut an sich sieht, müsste ein solches Vorhaben gutheißen. Die Republikanische Partei in den Vereinigten Staaten ist eine hybride Organisation, die sowohl liberale Republikaner wie Mitglieder der Tea Party in ihren Reihen hat, ein Umstand, der von jemandem, der Differenz und Diversität für unbezweifelbare Güter hält, begrüßt werden müsste. Ohne die Republikaner, die Barack Obama für ein Mitglied der Muslimbruderschaft und Al Qaida für eine Abteilung der CIA halten, würde die Partei ein Bild trostloser Eintönigkeit abgeben.

Nicht alle Gleichförmigkeit ist schädlich. Genauso wenig kann man alle Einheit, jeden Konsens als »essentialistisch« dämonisieren. Im Gegenteil, wir könnten erheblich mehr davon gebrauchen. Natürlich sind die Menschen unterschiedlich, aber es wäre sehr hilfreich, wenn sie trotz ihrer Unterschiede alle für die Abschaffung der Kinderprostitution einträten und die Enthauptung von unschuldigen Zivilisten im Namen Allahs nicht für den sichersten Weg nach Utopia hielten. In solchen Fragen brauchen wir Einstimmigkeit, nicht Vielfalt. Ein englisches Sprichwort, das nicht wahrer ist als viele andere, besagt, dass die Welt komisch wäre, wenn wir alle gleich dächten. Sicherlich wäre die Welt etwas langweiliger, wenn alle gegen die Todesstrafe wären, aber das wäre ein geringer Preis, wenn dafür die Zahl unnötiger Leichen verringert würde. Solidarität bedeutet nicht zwangsläufig die Aufhebung der Unterschiede. Nebenbei bemerkt, einige Unterschiede sollten schon aufgehoben werden – die materielle Ungleichheit zwischen Bettlern und Bankern zum Beispiel.

Die Tatsache, dass Sie finden, man sollte die Flüchtlinge willkommen heißen, während ich glaube, dass man besser daran täte, ihre Boote mit ein paar gut gezielten Geschützsalven zu versenken, ist kein ermutigendes Beispiel für menschliche Vielfalt. Verschiedene Standpunkte sind nicht einfach deshalb zu schätzen, weil sie verschiedene Standpunkte sind. Wenn die Leute, die der Meinung sind, Transvestiten müssten an Krokodile verfüttert werden, sich »missbraucht« fühlen (ein Schlüsselbegriff der Postmoderne), weil man ihnen entschieden widerspricht, dann sei es so. Eine Meinung ist nicht einfach deshalb zu respektieren, weil jemand sie vertritt. Wahrscheinlich wird jeder mehr oder weniger widerwärtige Standpunkt, den man sich ausdenken kann, irgendwo vertreten. Es gibt rechte Afrikaner, die glauben, Nelson Mandela sei ein böser Mensch gewesen.

Von Groucho Marx stammt die berühmte Bemerkung, es würde ihm widerstreben, in einen Club einzutreten, der Leute wie ihn aufnehme, und genauso wenig hätte man wohl Lust, Mitglied in einem Club zu werden, der von Kriegsverbrechern geleitet wird. Im Prinzip ist nicht das Geringste gegen Exklusivität einzuwenden. Frauen das Autofahren zu verbieten ist ein Skandal, Neonazis den Zugang zu Lehrberufen zu verwehren, nicht. Der Diskurs der Kulturwissenschaften selbst ist verblüffend exklusiv: Im Großen und Ganzen behandelt er Sexualität, nicht aber Sozialismus, Transgression, nicht aber Revolution, Differenz, nicht aber Gerechtigkeit, Identität, nicht aber die Kultur der Armut. Politisch korrekte Studenten sind dazu übergegangen, Rassisten und Homophoben auf ihrem Campus das Wort zu verbieten, erweisen sich aber bei Ausbeutern billiger Arbeitskräfte oder bei Politikern, die gerne die Gewerkschaften abschaffen würden, als weniger konsequent. Solche selbsternannten Zensoren singen das Loblied auf die Marginalität, ohne sich klarzumachen, dass einige, die heute marginalisiert sind, es unbedingt auch bleiben sollten. Allen voran Serienkiller und psychopathische Sektenführer. Es gibt Lebensformen, die nicht nur wertlos sind, sondern die auch mit aller Kraft ausgerottet werden sollten: pädophile Ringe zum Beispiel oder Männer, die Frauen in sexuelle Sklaverei verkaufen. Genauso wenig sind alle Minderheiten vorbehaltlos zu akzeptieren. Die herrschende Klasse ist eine solche Minderheit; Gleiches gilt für Menschen, die Fleischstücke aus anderen Menschen herausschneiden, um sie sich zum Abendessen zu kochen. Eine unkritische Bejahung von Randgruppen und Minderheiten geht meist Hand in Hand mit einem Verdacht gegen Konsens und Mehrheiten. Das liegt daran, dass die Postmoderne zu jung ist, um sich an eine Zeit zu erinnern, als politische Massenbewegungen den Staat heftiger erschütterten, als es bislang irgendeiner Randgruppe oder Minderheit auch nur annähernd gelungen ist. Die Postmoderne ist sich nicht recht bewusst, wie weitgehend ihre politischen Auffassungen von ihrer eigenen politischen Geschichte geprägt sind, oder vielmehr dem Mangel an ihr.

Das Interesse für Pluralismus, Differenz, Diversität und Marginalität hat einige wertvolle Erkenntnisse gebracht, hat aber auch dazu geführt, dass die Aufmerksamkeit von verschiedenen eher materiellen Fragen abgelenkt...

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