2 Wie definiert man eine Geheimgesellschaft?
Bei der Frage nach der Definition einer Geheimgesellschaft scheiden sich normalerweise die Geister. Diejenigen, die daran interessiert sind, möglichst viele Geheimbünde in der Verantwortung historischer Entwicklungsprozesse zu sehen, tendieren dazu, den Definitionsrahmen sehr weit zu wählen, um möglichst viele Formen geheimer Organisationen zu subsumieren (s.o.). Grundsätzlich muss allerdings von vornherein ein gewisser Ausschluss erfolgen. Zum einen sind Geheimdienste zwangsläufig geheim, zum anderen können kriminelle Gruppierungen, die wir der organisierten Kriminalität zuschreiben, nur geheim agieren, da ihre Aktivitäten im Widerstreit mit dem bestehenden Recht stehen. Deshalb ist es angebracht, Geheimdienste und Verbrecherorganisationen von der Definition der Geheimgesellschaft auszuschließen, da es sich hier um Sonderformen handelt, die sich gezwungenermaßen der Geheimhaltung bedienen müssen, um überhaupt agieren zu können.
Im Fall der Etablierung von Geheimgesellschaften sehen wir im Gegenzug dazu eine Adaption der Geheimhaltung, die einem gewissen Zweck folgt. Ein Club oder Verein kann prinzipiell genauso organisiert sein wie ein Geheimbund, er ist es eben nur nicht im Geheimen, sondern im öffentlichen Raum. Das Geheimnis, dessen Rolle oben ja bereits ausführlich geschildert wurde, bildet also den Initialrahmen der Geheimgesellschaft, allerdings ist dieses alleine nicht ausreichend für eine umfassende Einordnung. Zunächst einmal muss erneut darauf hingewiesen werden, dass wir zur Erstellung einer mehrere Rubriken umfassenden Definition dessen, was eine Geheimgesellschaft ist, nur auf die relativen Formen dieser Organisationsart, also die bereits bekannten Gesellschaften, zurückgreifen können. Nur nach dem Bekanntwerden ihrer Existenz, kann eine Geheimgesellschaft eingehender untersucht werden. Das Modell basiert folglich auf den Fallbeispielen, die uns aus der historischen Überlieferung bekannt sind und nicht auf den Geheimgesellschaften, die möglicherweise aktuell existieren. Ungeachtet dessen wird diese Theoretisierung helfen, zukünftigen Verschwörungstheoretikern und ihren Konstrukten von geheimen Weltherrschern und einflussreichen Logen entgegenzuwirken.
Die Kategorien, die helfen sollen, die Definition einer Geheimgesellschaft zu entwickeln, sind dabei: die Ursache der Geheimhaltung, die Zielsetzung der Organisation, die Mitgliederstruktur, die Agitation sowie der personale und institutionelle Einfluss der jeweiligen Geheimgesellschaft.
2.1 Die Ursache
Warum sind Geheimgesellschaften geheim? Diese Frage steht am Anfang der Definition. Im Falle der Geheimbünde ist die Antwort keine universale, da es unterschiedliche Ursachen für die Geheimhaltung im jeweiligen Fallbeispiel geben kann. Während sich manche Zusammenschlüsse aufgrund religiöser Verfolgung in die Geheimnissphäre begaben, wurden andere Gesellschaften, wie beispielsweise die United Irishmen1, aufgrund ihrer politischen Agitation von den englischen Machthabern verfolgt, so dass den Mitgliedern keine andere Wahl blieb, als sich in die Geheimhaltung zu flüchten. Wieder andere Gesellschaften sahen den Erfolg ihrer Agenda gefährdet, wenn derselben zu viel öffentliches Interesse gewidmet würde und begaben sich, wie etwa der Germanenorden, bewusst in die Sphäre des Geheimnisses, um im Untergrund ihre Ziele zu verfolgen, die offen nicht erreichbar schienen. Bei der Ursache können wir also von einer passiven oder aktiven Geheimnisadaption sprechen, die je nach Fallbeispiel variieren kann. Gerade bei sogenannten Splittergesellschaften, kann die passive Erfahrung der Vorgängergesellschaft bereits zur aktiven Entscheidung für die Geheimhaltung führen.2 Unabhängig davon, welche Genese im speziellen Fall vorliegt, muss es an einem gewissen Punkt zur Adaption des Geheimnisses, also zur Verlagerung der Aktivitäten vom öffentlichen in den abgeschirmten Raum erfolgen. Das kann bereits bei der Gründung der Fall sein, ist aber nicht zwingend Voraussetzung für den Entstehungsprozess des Geheimnisses, welches auch schrittweise adaptiert werden kann.
2.2 Das Ziel
Das Ziel von Geheimgesellschaften ist in der Regel, also sofern wir noch nichts von der Existenz der Organisation wissen, ebenfalls geheim. Die Bandbreite ist allerdings weit. Von einer schrittweisen Veränderung der Gesellschaft zum Besseren durch eine Ausbildung der eigenen Mitglieder, wie im Falle der Illuminaten oder zum gezielten Antagonismus gegen die bestehende staatliche Ordnung durch die Mitglieder des Germanenordens3 und der Thule-Gesellschaft finden sich ganz unterschiedliche Zielsetzungen, die stets geheim gehalten werden müssen. Andernfalls würde das Erreichen des Zieles durch eine mögliche Intervention der politischen Gegner, der Staatsgewalt oder anderer antagonistischer Faktoren gefährdet. Folglich muss auch das Ziel der Organisation dem Geheimnis unterliegen. Es wird lediglich in den Reihen der Mitglieder – nicht zwingend aller, sondern teilweise nur ausgewählter – kommuniziert und besprochen oder sogar diskutiert. Die inneren Hierarchien in manchen Organisationen sorgen nämlich dafür, dass die wenigsten Mitglieder um den eigentlichen Zweck der Existenz der Geheimgesellschaft wissen. Eine Einweihung erfolgt erst nach der Zulassung zu internen Kreisen. Für den Forscher noch schwieriger wird neben der Ergründung dieser ersten beiden Definitionsrubriken die Zuordnung von Mitgliedern zu den entsprechenden Gesellschaften, denn deren Identitäten unterliegen meist ebenfalls einer strikten Geheimhaltung.
2.3 Die Mitglieder
Oft kann nicht genau gesagt werden, wer eigentlich ein Mitglied einer Geheimgesellschaft gewesen ist, ein Tatbestand, der der Spekulation »Tür und Tor öffnet«. Denn genau dadurch wird es gerade Verschwörungstheoretikern ermöglicht, wilde Theorien über den personellen Einfluss geheimer Organisationen auf die historischen Geschehnisse zu bescheinigen. Anhand des Beispiels der Münchner Thule-Gesellschaftsoll dieser Zusammenhang hier kurz exemplarisch erläutert werden. Zum einen wurden deren Mitglieder als »größtenteils abenteuerliche Gestalten«4 bezeichnet, andererseits wurde der Gesellschaft, deren Mitgliederliste zumindest nicht völlig unbekannt gewesen ist5, nachgesagt, es handle sich um »die mächtigste Geheimorganisation in Deutschland. Denn viele Mitglieder verfügen über Geld, glänzende Beziehungen und zählen zu den Spitzen der Gesellschaft.«6
Entgegen der tatsächlichen Angaben des Vorsitzenden der Thule-Gesellschaft, Rudolf von Sebottendorf (1875–1945), sowie der nachweislichen Mitglieder, wurde viel darüber spekuliert, wer in den Räumen der Organisation im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten verkehrte und auf wen die Gesellschaftsgrößen einen direkten Einfluss ausüben konnten. Insgesamt wurden von verschiedenen Autoren Max Amann (1891–1957), Anton Drexler (1884–1942), Dietrich Eckart (1868–1923)7, Hermann Esser (1900–1981), Gottfried Feder (1883–1941), Hermann Göring (1892–1946), Karl Haushofer (1869–1946), Rudolf Heß (1894–1987), Heinrich Himmler (1900–1945), Adolf Hitler (1889–1945), Julius F. Lehmann (1864–1935)8, Ernst Röhm (1887–1934) und Alfred Rosenberg (1893–1946) als Mitglieder genannt9, um den Einfluss der Thule-Gesellschaft auf den Nationalsozialismus zu belegen. Tatsächlich können nur in einem Fall (Heß) eine Mitgliedschaft und nur in drei Fällen (Eckart, Feder, Rosenberg) geringe Kontakte zur Thule-Gesellschaft nachgewiesen werden10, allerdings störte das die besagten Autoren nicht, da sie durch die Konstruktion bzw. Behauptung einer bestehenden Mitgliedschaft ihre eigenen Thesen zum bestehenden personalen Einfluss der Thule-Gesellschaft auf die Genese des Nationalsozialismus stützen konnten.
In Wahrheit handelte es sich bei der Thule-Gesellschaft um eine Tarnung für eine Münchner Loge des Germanenordens, mit deren Führung Sebottendorf im Dezember 1917 betraut worden war, um die scheinbar inaktive bayerische Ordensprovinz für die Führung des Germanenordens zu reaktivieren. Zuvor war die Loge in Bayern, die von Julius Rüttinger geführt wurde, mit ihren wenigen Mitgliedern – in den Akten wird bei einem Treffen von neun Ordensbrüdern gesprochen – nicht schlagkräftig genug, um die »von der Grossloge vorgeschlagenen« Pläne, antisemitische Flugblätter an Synagogen zu verteilen,...