Erster Teil: Kurzkommentar zur „Einleitung“ und den Kapiteln I–V.
Einleitung
Am Anfang steht eine „natürliche Vorstellung“ (57,2). Sie ist nicht deswegen „natürlich“, weil sie aus einer unverbildeten Spontaneität käme. Vielmehr ist sie durchaus eine Bildungsüberzeugung, und zwar eine solche, die unbefragt hingenommen wird und insofern als „natürlich“ gilt. Sie besteht in der Auffassung, daß es naiv wäre, sich im Erkennen sogleich dem Gegenstand selbst zuzuwenden, bevor man sich über die Leistungsfähigkeit des Erkenntnisvermögens klar geworden ist. Doch damit wird eine Trennbarkeit von Erkenntnis und Gegenstand unterstellt, die besonders dann zu Widersprüchen führen muß, wenn „die Sache selbst“ (57,3), um die es geht, oder das, „was in Wahrheit ist“ (57,4) und „was An-sich ist“ (57,17), keinen partikulären Gegenstand oder Gegenstandsbereich ausmacht, sondern von vornherein im Sinne des Ganzen schlechthin, des „Absoluten“ (57,6) konzipiert ist.10 In bezug auf diesen schlechthin umfassenden Gegenstand läßt sich kein Außerhalb denken, von dem her das Erkenntnisbemühen seinen Ausgang nehmen könnte, und so muß in diesem Zusammenhang allen kritischen Überlegungen das Wissen um die prinzipielle Einbezogenheit in den Gegenstand und um seine immer schon vorhandene Offenbarkeit vorangehen.11 Wird jedoch das Erkennen etwa als ein formierendes Gestalten aufgefaßt, dann müßte die kritische Reflexion die so hinzugebrachte Form schließlich wieder vom Gegenstand abziehen, um ihn letztlich selbst vor sich zu haben, und man stünde am Ende dort, wo man am Anfang war. Nicht anders wäre es, wollte man das Erkenntnisvermögen als ein „passives Medium“ (57,26) denken, das den Strahl der Wahrheit bricht. Doch diese Raffinesse der Habhaftwerdung ginge ebenfalls ins Leere, denn das Absolute würde, „wenn es nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten“ (58,10ff).12 Wenn der beschriebene kritische Standpunkt aus einem Mißtrauen dem Erkenntnisvermögen gegenüber erwächst, so wäre nach dem bisher Gesagten eher ein „Mißtrauen in dies Mißtrauen“ (58,26f) angebracht. Der Hauptfehler ist die zum Gebot erhobene strikte Trennung zwischen den Erkenntnismitteln und der zu erkennenden Sache, „vorzüglich aber dies, daß das Absolute auf einer Seite stehe und das Erkennen auf der andern Seite“ (58, 34ff), ein nur vermeintlich kritisches Verfahren, „wodurch das, was sich Furcht vor dem Irrtume nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt“ (58,40ff).
Warum soll man sich mit Auffassungen wie der hier kritisierten überhaupt abgeben? Warum sie nicht einfach als „leere Erscheinung des Wissens“ (59,39f) verwerfen und an ihre Stelle die Wahrheit setzen? Doch die wahre Theorie ist neben einer beliebigen falschen zunächst auch nur eine „Erscheinung“. Daß sie mehr ist, muß sich erst erweisen. Würde man auf den Erweis verzichten, bliebe ihre Wahrheit eine reine Versicherung mit dem gleichen Recht, das jede andere Theorie auch hätte. Von daher ist eine kritische „Darstellung des erscheinenden Wissens“ (60,25f) unumgänglich, wobei auch die unwahren Theorie-Erscheinungen, in die das sich entwickelnde Wissen wohl nicht zufällig gerät, als Stufen und Ausformungen des Bewußtseins gewürdigt werden dürfen und müssen. Diese Darstellung kann freilich noch nicht identisch sein mit einer Systematik, die sich schon ganz auf dem Boden des wahren Wissens bewegt, sondern muß als „Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden, oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch die Natur ihr vorgesteckter Stationen, durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist“ (60,31ff).13
Das (jeweilige) „natürliche Bewußtsein“ (60,38) ist ein Wissen nur dem „Begriff“ (60,38) nach, also nur dem Anspruch oder Vorgriff nach. D.h., es ist noch nicht ausgeführt und in der Realität bewahrheitet. In seinem (jeweiligen) Selbstverständnis faßt es sich aber durchaus als real bewährt auf und muß deshalb im Prozeß seiner „Realisierung“ (61,2) die eigene Falsifikation und somit den „Verlust seiner selbst“ (61,2) erleiden. Dieser Selbstverlust ist mehr als nur der Zweifel an der ein oder anderen partikulären Gewißheit. Vielmehr gerät die durch den umfassenden Gegenstand bestimmte Gesamtorientierung ins Wanken. Das Bewußtsein muß den „Weg der Verzweiflung“ (61,5), der Skepsis, ohne Rückhalt gehen. Gefordert ist der „sich vollbringende Skeptizismus“ (61,13f). Er ist mit einer kritischen Attitüde allein nicht abgetan, etwa mit dem „Vorsatze“ (61,17), sich von jeder fremden Autorität zu lösen und nur das eigene Urteil gelten zu lassen. Mit solcher Art von Emanzipation würde nur die subjektive Unfehlbarkeit etabliert und dem im Grunde fruchtbaren Zweifel ein besonders hartnäckiger Feind entgegengestellt. Erst der „sich auf den ganzen Umfang des erscheinenden Bewußtseins richtende Skeptizismus“ (61,36f) und seine „Verzweiflung“ (61,39) können die „Geschichte der Bildung des Bewußtseins“ (61,23f) ans Ziel bringen.
Für das Bewußtsein, das zur Höhe seiner Wahrheit kommen will, ist es unmöglich, auf untergeordneten Stufen stehenzubleiben. Diese alle müssen überschritten werden, und d.h: ihre Gesamtheit muß zugänglich werden. „Die Vollständigkeit der Formen des nicht realen Bewußtseins wird sich durch die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges selbst ergeben“ (62,5ff). Freilich sind die verlassenen Stufen dabei nicht einfach verschwunden. Sie bestimmen vielmehr die höheren und sind in ihnen verwandelt gegenwärtig. Ihre stets radikale Kritik führt keineswegs in die konturlose Auflösung, sondern ist als „bestimmte Negation“ (62,27) auch positive Anknüpfung, d.h. als eine Negation, in der das Verlassen der jeweils letzten Stufe eine durch diese bedingte Perspektive vorzeichnet und so eine neue Gestalt des Bewußtseins begründet.
„Das Ziel aber ist dem Wissen ebenso notwendig, als die Reihe des Fortganges, gesteckt; es ist da, wo es nicht mehr über sich hinaus zu gehen nötig hat, wo es sich selbst findet und der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriffe entspricht“ (62,31ff), der Wissensanspruch also eingelöst ist. Fortgang und Ziel sind dem Bewußtsein innerlich: „Das Bewußtsein aber ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das Hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst“ (63,1ff). Zwar hat das Bewußtsein „Angst“ (63,8), ja sogar Todesangst, sich aus der Beschränkung zu lösen, die ihm bisher Sicherheit und Orientierung gewährte. Denn es steht mit seinem totalen Gegenstand immer auch selbst als Ganzes auf dem Spiel. Aber das Aufbrechen der Beschränkung kommt aus der eigenen Mitte, aus der eigenen Dynamik und prinzipiellen Offenheit. „Das Bewußtsein leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst“ (63,6ff). Quelle der Angst ist also das eigene Innere, die eigene Weite und Tiefe. Dabei sind die Auswirkungen vielfältig. So kann die Angst sich in der „Trägheit“ (63,11) zeigen, im Widerwillen, die Beschränkung zu verlassen, aber auch in einer unverbindlichen Toleranz, die „alles in seiner Art gut zu finden versichert“ (63,14f), und schließlich ist auch eine Kritik, die jeden Wahrheitsanspruch als haltlos erweisen will, ein „Eifer für die Wahrheit selbst“ (63,19f), der im Grunde „Furcht der Wahrheit“ (63,17f) ist.
Nach der Herausstellung dieser „Notwendigkeit des Fortgangs“ (63,31) ist noch auf die „Methode der Ausführung“ (63,32) einzugehen. Denn die Wissenschaft hat eine Prüfung des Bewußtseins vorzunehmen. Wo aber ist der Maßstab dieser Prüfung? Um ihn zu finden, muß das Wissen nach seinen Bestandteilen analysiert werden. „Dieses unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht“ (64,11f). Dieses etwas ist das „an sich Sein“ (64,16f) oder die „Wahrheit“ (64,19). Ihr räumt das Wissen sowohl Selbständigkeit ihm selbst gegenüber ein als auch die Funktion, „Maßstab“ für es zu sein. Dieser Maßstab geht somit aus dem Bewußtseinsverhältnis selbst hervor und wird von der wissenschaftlichen Metareflexion lediglich herausgehoben. „Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst sein“ (64,37ff). Weder der Maßstab noch die Prüfung an ihm ist also eine „Zutat von uns“ (65,27), den philosophischen Beobachtern. Jene „Vergleichung“ stellt das Bewußtsein selbst an. Eine Konsequenz dieser Binnenperspektive ist allerdings, daß der Maßstab keine fixe Größe ist, die nur von einem Dritten festzustellen wäre, sondern jeweils neu im Bewußtsein hervorgeht. Denn „in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm in der Tat auch der Gegenstand...