NACH MOSKAU!
Seltsamerweise kann ich mich nicht mehr an das genaue Datum unserer Ausreise aus Deutschland erinnern. Es muss aber einer der letzten Augusttage 1933 gewesen sein, an dem mein zwei Jahre älterer Bruder Walter und ich, gerade sechzehnjährig, auf der Hintertreppe unseres Tempelhofer Mietshauses per Selbstauslöser ein Abschiedsfoto machten. Zwar lachen wir dort, doch war uns eigentlich nicht ganz geheuer zumute. Immerhin verriet unser Gepäck, dass wir nicht nur eine Wochenendreise nach Kopenhagen vorhatten. Was würde geschehen, wenn man Verdacht schöpfte, uns einer gründlichen Untersuchung an der Grenze unterzog und unsere Sowjetvisa entdeckte?
Um unliebsamen Überraschungen vorzubeugen, hatten Walter und ich – beide blond und blauäugig – so etwas wie Nazibonzen-Zivil angelegt: Schaftstiefel und Breeches, wie sie SS-Männer trugen, dazu sportliche Sakkos. Trotzdem gingen uns auf der Fahrt von Berlin nach Warnemünde fast die Nerven durch. Die Anspannung schlug in Albernheit um. Unser Gekicher hätte jedem aufmerksamen Beobachter verraten, dass mit uns etwas nicht in Ordnung war. An der Grenze lief jedoch alles komplikationslos ab. Die noch aus der «Regimezeit» stammenden Zöllner drückten routinemäßig ihre Stempel in unsere Pässe, und zwei zunächst argwöhnisch dreinschauende SS-Leute, an denen die Ausreisenden vorbeimussten, nickten uns sogar freundlich zu. Unvergesslich der Augenblick, als ich, nun alle Gefahren hinter mir wissend, auf das Oberdeck des Fährschiffes Warnemünde – Gedser in die dunkle, warme Augustnacht hinaustrat.
Im unwirklichen Licht des allzu frühen Morgens erreichten wir Kopenhagen. Walter kannte eine dänische Familie, deren Sohn er auf einer Schulreise nach Kopenhagen kennengelernt hatte. Als wir dort gegen acht Uhr klingelten, ließ man uns jedoch nicht einmal über die Schwelle. Wahrscheinlich befürchteten die Leute, dass wir uns, aus Deutschland vertrieben, bei ihnen einnisten wollten.
Sechs oder acht Stunden lungerten wir in Kopenhagen einfach herum. Ich rauchte meine letzte deutsche Zigarette (Muratti For ever) und überlegte, ob ich den Nichtraucher Walter, der die Kasse verwaltete, um ein paar Kronen für etwas Rauchzeug bitten sollte. Zu meinem Erstaunen bewilligte er mir sogar eine Schachtel mittlerer Preisklasse.
Die Abfahrtszeit rückte heran. Ein kleiner Dampfer schaukelte uns über den Sund, vorbei an der berühmten Kopenhagener Meerjungfrau, die allerdings, viel kleiner als erwartet, in der beginnenden Dämmerung höchst unscheinbar aussah. Von Malmö sahen wir nur die Lichter. Beeindruckend war dagegen der elektrisch (!) betriebene Nachtexpress Malmö – Stockholm, in dem wir fast geräuschlos durch die nicht endenden Wälder rasten. Noch immer misstrauisch, antworteten wir nur einsilbig, als ein Herr mit uns ins Gespräch zu kommen versuchte. Die Atmosphäre lockerte sich erst, als er mir eine Zigarette jener Sorte anbot, die angeblich nur für den König von Schweden hergestellt wurde. Er sei nämlich, sagte er, Zigarettenfabrikant und habe die Ehre, die Lieblingsmarke Seiner Majestät zu produzieren.
Mit dem Geschmack des königlichen Tabaks auf der Zunge und dem erhebenden Gedanken im Kopf, dass ich jetzt auf derselben Route wie Lenin im Revolutionsjahr 1917 nach Russland einreiste, schlief ich ein.
An der Bahnsteigsperre in Stockholm tauchte völlig unerwartet Hans Baumgarten auf, der Lebensgefährte unserer Mutter. Hans war, wie wir wussten, Kurier der OMS1*, der Geheimabteilung der Komintern*, bei dem auch unsere Mutter seit einiger Zeit arbeitete. Er hatte gerade eine Kurierreise hinter sich gebracht und war auf dem Weg nach Moskau. So verbrachten wir den Tag zu dritt in Stockholm, sehr angenehm auch deshalb, weil Hans uns ein opulentes Essen bezahlte. Er kannte sich etwas in der Metropole aus und zeigte uns einige historische Gebäude, schöne Brücken und Uferpromenaden in der von Wasser durchspülten Stadt.
Ziemlich pflastermüde kamen wir gegen Abend zum Schiff, das uns ins finnische Turku bringen sollte. Unübertroffen schön war die Ausfahrt aus Stockholm durch Schären und Dutzende kleiner und kleinster Felsinseln. Als es vollends dunkel wurde, gingen wir unter Deck. Hans hatte natürlich eine Kabine, für Walter und mich gab es dagegen nur einen Hängemattenplatz im allerdings fast leeren Gemeinschaftsschlafraum. So gut wie dort habe ich selten geschlafen.
Von Turku ging es per Bahn zunächst nach Helsinki und von dort aus zur finnischen Grenzstation. Nun war die sowjetische Grenze nicht mehr weit. Die kleine Lokomotive pfiff und krächzte und blieb lange an kleinen Stationen mit unaussprechlichen Namen stehen.
In Wyborg stiegen die meisten Passagiere aus. Mein Herz schlug höher, als wir uns im fast leeren Waggon dem sowjetischen Grenzort Beloostrov näherten. Dann quietschten die Bremsen, und der Zug hielt. Wir schauten hinaus, doch auf dem verlassenen Bahnsteig tat sich nichts. Unser einziger Mitreisender, offenbar ein Russe, stieg rasch aus und verschwand. Dass er sich auskannte, begriffen wir erst, als uns ein finnischer Eisenbahner fragte, worauf wir noch warteten. Hier sei Endstation, über die eigentliche Grenze müssten wir zu Fuß gehen.
Am Erfrischungsstand im finnischen Wartesaal kaufte Hans ein Dutzend Bananen und trank im Stehen einen Kaffee. Er schlug vor, sich noch einmal hinzusetzen, doch Walter und ich drängten, weil wir so schnell wie möglich über den Schlagbaum nach «drüben» gelangen wollten.
Dann die entscheidenden 20 oder 30 Schritte. Fasziniert starrte ich auf den großen Holzbogen, der den nicht befahrenen Schienenstrang aus der alten in die neue Welt überspannte. Zwar konnte ich die fremdländischen Buchstaben nicht lesen und die Worte nicht verstehen, doch wusste ich, was dort stand: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Mich übermannte ein unbeschreibliches Gefühl – wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag. So betrat ich meine neue Welt.
Die ersten Eindrücke vom roten Russland hat mein Gedächtnis nur verschwommen bewahrt. Offenbar wurde die Wirklichkeit von der inneren Verpflichtung, begeistert zu sein, verschleiert. Hans, Walter und ich betraten ein verwahrlostes Bahnhofsgebäude: überall Dreck, die Regale des kleinen Verkaufsstandes waren leer, von Spinnweben durchzogen.
Erst nachdem die Abfahrtszeit des Zuges, der uns nach Leningrad bringen sollte, verstrichen war, erschienen die ersten Sowjetbürger: zwei Grenzer und ein Zollbeamter mit betont abweisenden Mienen. Dennoch betrachtete ich die leibhaftigen Repräsentanten des Sowjetstaates mit ungeheurem Respekt, oblag es ihnen doch, die hier in den Wäldern versteckte Grenze zu sichern, vielleicht sogar Provokateure dingfest zu machen. Da konnten sie nicht jeden Ankommenden umarmen. Tatsächlich nahmen sie ihre Pflichten sehr ernst. Der Zöllner öffnete jeden Koffer, nahm Wäschestücke heraus. Verblüffenderweise blieb Hansens schwarzer Diplomatenkoffer ungeöffnet – der Grenzposten schob ihn mit dem Fuß lässig vom Stapel des unkontrollierten zum bereits inspizierten Gepäck. Ich erinnere mich, dass ich begeistert war: Donnerwetter, dachte ich, wie perfekt im Arbeiter- und Bauernstaat alles organisiert ist. Die Grenzer erkannten die kommunistische Kurierpost an geheimen Zeichen.
Als sich der Zug – mit fast zweistündiger Verspätung – in Bewegung setzte, war unser Waggon leer: bis zur ersten Station, die, wie ich später erfuhr, außerhalb der Sperrzone lag. Dort jedoch war der Bahnsteig schwarz vor Menschen. In unser Abteil drängten zwei mit Kiepen bepackte Frauen und ein kahlgeschorener, dürftig gekleideter Mann mit zwei Kindern. Er lächelte uns an, wir lächelten zurück, doch die Sprachbarriere verhinderte jede weitere Verständigung. Ich glaubte, dass er uns so freundlich begegnete, weil er in uns seine Kampfgenossen gegen den Weltimperialismus erblickte. Heute denke ich, dass er vor allem über unsere Kleidung und unsere Koffer staunte, ganz zu schweigen von den Bananen, die wir ihm und den Kindern anboten. Wir mussten ihnen zeigen, wie sie abzuschälen waren.
Je näher wir Leningrad kamen, desto voller wurde der Zug. Von den hereindrängenden Menschen sahen wir nicht viel, weil es inzwischen Nacht geworden war und keine Lampe in unserem Abteil funktionierte. Schrille, unverständliche Laute kamen aus der Dunkelheit. Es roch fremdartig.
Da wir mit großer Verspätung in Leningrad ankamen, machte Hans sich Sorgen, dass er den Verbindungsmann, der ihn in Leningrad abholen sollte, verfehlen könnte. Doch der Genosse war zur Stelle. Der Mann brachte uns in das leicht heruntergekommene (heute wieder tadellos renovierte) Hotel Astoria, das einst das erste Haus am Platze gewesen war. Da Fragen über Begleitpersonen der Kominternkuriere nicht gestellt werden durften, wies man uns dreien ohne weiteres ein Zimmer zu.
Zum Abendbrot, das ziemlich frugal ausfiel (allerdings, wie ich bald feststellen musste, für sowjetische Verhältnisse üppig war), stiegen wir in einen kantinenähnlichen Keller hinab. Mich wunderte, dass Hans die äußerst bescheidene Zeche mit Deutscher Mark bezahlte; erst in der Folgezeit erfuhr ich, dass man in sogenannten Intouristhotels mit ausländischer Währung bezahlen musste. Dabei bewunderte ich, wie gewandt sich Hans auf Russisch mit dem Ober verständigte. Gleichermaßen beeindruckt von seinen Sprachkenntnissen waren wir, als am nächsten Morgen das Telefon in unserem Zimmer klingelte und Hans in den Hörer rief: Ja nitschewo ne ponimaju, towarischtsch! – «Ich verstehe nichts, Genosse!»
Unser Zug nach Moskau ging erst am Abend des...