1.2 Einfach, kompliziert, komplex und chaotisch – Eine Landkarte zur Lage
In unserer Entwicklungsarbeit im Gemeindekolleg sind wir auf eine »Landkarte« gestoßen, die sich als äußerst hilfreich erweist, wenn es darum geht, die Eigenheiten von Problemen und Herausforderungen zu unterscheiden. Sie wurde von Dave Snowden entwickelt, der in Großbritannien im Bereich Wissensmanagement forscht und lehrt. Cynefin ist walisisch und bedeutet Habitat, Terrain oder Lebensraum. In seinem Cynefin-Framework unterscheidet Snowden mit Hilfe von vier Feldern verschiedene Kategorien von Herausforderungen und Problemen. Die Kategorie, zu der ein Problem gehört, beeinflusst die Art und Weise, wie es gelöst werden kann. Uns interessieren dabei besonders die Zugänge und Formen für Problemlösungen in komplexen sozialen Umgebungen, die von Unsicherheiten, Dilemmata und Paradoxien gekennzeichnet sind.3
Im simplen Terrain ist es einfach zu entscheiden, was zu tun ist. Die Lösung lässt sich herleiten aus dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung: Auf A folgt B. Problemlösungen sind hier situationsunabhängig, vorhersagbar, gelten auch im Wiederholungsfalle und sind in der Regel allen einsichtig. Ein altersschwacher Kopierer im Pfarramt geht kaputt. Die beste Lösung ist: Er wird ersetzt und alles Nötige kann wieder kopiert werden. Im simplen Terrain gibt es häufig richtige Antworten und die eine optimale Lösung (best practice). Problemlösungen erfolgen in der Regel in drei Schritten: wahrnehmen – beurteilen – reagieren. Ein Teil der alltäglichen Probleme gehört in diese Kategorie und kann mit bewährten Instrumenten gut bewältigt werden.
Anders ist es im komplizierten Terrain: Was zu tun ist, kann nicht aus einem einfachen Ursache-Wirkungszusammenhang hergeleitet werden, denn hier gibt es oft mehrere verursachende Faktoren mit verschiedenen Folgen. Hier werden eine genaue Analyse, entsprechende Experten, Fachwissen und ausreichende Ressourcen gebraucht, um zu Lösungen zu kommen. Der Dreischritt lautet hier: wahrnehmen – analysieren – reagieren.. Es gibt dabei nicht die optimale Lösung, sondern mehrere gute Lösungen (good practice).
Mit entsprechendem Fachwissen und genügend Ressourcen an Zeit, Geld, Menschen … können Beispiele für gute Lösungen nachgeahmt oder in andere Kontexte übertragen werden, z.B. im Hinblick auf Gottesdienste. Wo es genügend engagierte und fähige Mitarbeiter/-innen in den Bereichen Musik und Verkündigung, ggf. auch in den Bereichen Theater, Kreativität, Technik und Öffentlichkeitsarbeit und die notwendige finanzielle Ausstattung gibt, können bestimmte Gottesdienstmodelle als good-practice-Beispiele entwickelt und in unterschiedlichen Kontexten nachgeahmt werden. Die Analyse der jeweiligen Situation ergibt, welche Modifikation nötig ist, um eine ähnliche Wirkung zu erzielen. Wo allerdings die ausstrahlungskräftige Verkündigerin, die leidenschaftlichen Musiker, die Organisationstalente oder einfach die finanziellen Mittel fehlen, geht das nicht. Schlicht und schmerzhaft heißt das: In Zeiten begrenzter und zurückgehender Ressourcen sind der Verbreitung von good-practice-Ideen enge Grenzen gesetzt.
Noch einmal anders verhält es sich im komplexem Terrain: Hier kann man nicht im Vorhinein wissen, was zu tun ist. Man lernt es erst unterwegs. Die Mitglieder eines Kirchenvorstandes wissen zum Beispiel nicht, wie sich eine Fusion mit der Nachbargemeinde für sie selbst anfühlen würde, welche Reaktionen diese in den Gemeinden hervorrufen könnte etc. Sie wissen nicht, was sich überraschend positiv entwickeln oder was sich unerwartet zäh gestalten wird. Hier zeigt sich besonders deutlich: Soziale Systeme sind keine Maschinen, die zwar kompliziert, letztlich aber doch verstehbar sind (vgl. 1.1), sondern Organismen, deren interne und externe Interaktionen und Wechselwirkungen nicht einfach analysiert und dann planvoll gestaltet werden können.
Auf komplexem Terrain ist die Lösung nicht vorhersagbar, sondern sie entwickelt sich auf dem Weg. Man geht gemeinsam los, lässt die Situation mit ihren Herausforderungen auf sich wirken und probiert mögliche Wege aus, damit umzugehen. Man sammelt Erfahrungen, wertet sie gemeinsam aus und probiert wieder. Die Herangehensweise ist hier: probieren – wahrnehmen – reagieren. Dieser Dreischritt ist aber nicht als strenge Abfolge einmal zu durchlaufender Schritte zu verstehen. Vielmehr werden die Stationen teilweise mehrfach durchschritten und überlagern sich auch. Auf dem gemeinsamen Weg von Versuch und Irrtum und Reflexion und neuem Versuch und Irrtum tauchen Ideen auf, erwachsen Lösungswege und Handlungen. Snowden spricht von der »emergent practice«, was man vielleicht mit dem Prozess erwachsende Lösung übersetzen kann (vgl. dazu 1.5).
Wird man hier gefragt: Wie seid ihr zu dieser Lösung gekommen?, kann man zwar Gründe und Faktoren benennen, die zum Ergebnis geführt haben. Aus der Rückschau lässt sich der Lösungsweg u.U. nachvollziehen. Aber dieses Ergebnis wäre nicht planbar gewesen. Daher ist der Versuch, diesen Lösungsweg in einem anderen Fall nachzuahmen, auch wenig sinnvoll. Denn in jeder anderen komplexen Situation wird sich eine andere Entwicklung hin zu einer anderen Lösung ergeben.4 Komplexe Vorgänge sind keine Erscheinungen des 21. Jahrhunderts. Es gab sie schon immer. Soziale Systeme haben schon immer eher wie Organismen und nicht wie Maschinen funktioniert. Aber unser Blick dafür wurde durch die Entwicklung in den vergangenen beiden Jahrhunderten verstellt: Die wachsende, vieles beherrschende Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik im Zuge der industriellen Revolution und die Ökonomisierung des Lebens haben unser Denken nachhaltig geprägt und den Glauben an die Machbarkeit durch technischen Fortschritt und Finanzkraft genährt. Durch die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wurde er nur vorübergehend erschüttert.
Vor diesem Hintergrund kann man fragen, in welchen Bereichen Komplexität tatsächlich gegenüber früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten gewachsen ist und weiter wächst und in welchen Bereichen Komplexität nicht gewachsen ist, sich aber unsere Wahrnehmungsfähigkeit verändert hat. Dass in den vergangenen beiden Jahrhunderten vieles als machbar und beherrschbar galt, hat die Aufmerksamkeit für komplexe Zusammenhänge eher zurückgehen lassen als gefördert. Gleichzeitig ist die Wahrnehmungsfähigkeit insgesamt differenzierter und feiner geworden. Wenn wir uns nun mit einer verfeinerten Wahrnehmungsfähigkeit dem Komplexen zuwenden, das lange wenig Aufmerksamkeit bekam und für das wir entsprechend wenige Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet haben, verstärkt das natürlich Hilflosigkeit und Ohnmacht. Wie dem auch sei und was auch immer an Ursachen ausgemacht werden kann: Komplexe Vorgänge brauchen neue Aufmerksamkeit.
Schon im komplexen Terrain ist experimentelles Handeln gefragt. Man probiert mögliche Lösungen mit Gestaltungselementen, die man vorfindet. Was aber, wenn nicht einmal diese Gestaltungselemente mehr vorhanden zu sein scheinen, wenn wirklich alles neu (oder zerstört) ist? Dann bricht das Chaos aus! Im Cynefin-Framework ist ein Quadrant dem Terrain des Chaos vorbehalten. Bevor sich etwas neu strukturiert, sind mehr oder weniger chaotische Phasen in der Regel nicht zu vermeiden. In chaotischen Situationen handeln Menschen spontan, zufällig und unberechenbar. Manchmal geht es dabei ums nackte Überleben, wie z.B. in Kriegs- oder Nachkriegssituationen. Ordnende Strukturen sind außer Kraft geraten. Es bleibt keine Zeit zum Probieren. Um noch Schlimmeres abzuwenden, ist unmittelbares Handeln nötig. So formen sich neuartige Lösungen (novel practice) und Strukturen.
Das Cynefin-Framework hilft, die verschiedenen Herausforderungen des eigenen Lebens genauso wie die in der kirchlichen und gemeindlichen Wirklichkeit besser zu verstehen. So können Entscheidungsgremien auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen überlegen, welche Problemlage tatsächlich vorliegt bzw. welcher Kategorie sie angehört und welche Lösungswege ihnr entsprechen. Viele Dinge im Gemeinde- und Kirchenleben sind relativ einfach und können schnell entschieden werden, vielleicht sogar, ohne dass ein Gremium oder gar mehrere dafür Zeit aufwenden müssen. Andere Dinge sind zwar schwierig, können aber mit entsprechender Analyse, Expertise und Ressourcen gut gelöst werden. Und sie sind dann auch gelöst! Wieder andere verweigern sich einer solchen abschließenden Lösung. Sie verschaffen sich immer wieder einen Platz auf der Tagesordnung. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Problem im komplexen Terrain angesiedelt ist. Vielleicht sind manche unter- oder hintergründig mitwirkende Faktoren noch nicht ausreichend im Blick? Lösungen, die in der Vergangenheit hilfreich waren, greifen nicht mehr wirklich etc.
Das Cynefin-Framework erweist sich in unserer Arbeit mit Kirchenvorständen, Pfarrkonferenzen, Synoden und kirchlichen Einrichtungen als äußerst inspirierend, wobei aber zwei Dinge zu beachten sind:
- Wie alle Wahrnehmungsmodelle ist auch das Cynefin-Framework nicht die Wirklichkeit selbst, sondern stellt einen Rahmen zur Verfügung, Wirklichkeit zu verstehen und zu deuten, und konstruiert damit auch Wirklichkeit.
- Manche Probleme sind nicht eindeutig in einem bestimmten Bereich, z.B. im komplizierten oder komplexen Bereich zu verorten, sondern haben Aspekte von beiden...