1. Kriegserfahrungen
Frontgeneration
Im Heft 10 der »Tat. Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit« erschien im Januar 1930 eine »Absage an den Jahrgang 1902«, verfaßt von einem gewissen Hans Thomas, ein Pseudonym für den »Tat«-Chefredakteur Hans Zehrer:
»Wir kämpften bisher zusammen. Wir sprachen beide von Jugend, vom Kampf gegen die Alten, vom Ringen der jungen Generation. Wir meinten den Kampf. Ihr wart die Jugend. […] Kampf gegen die Alten; darüber waren wir uns einig. Zuerst wenigstens, als wir sahen, daß wir systematisch ausgeschaltet wurden, und daß vor uns und über uns in neuer Gestalt derselbe Unsinn fortgesetzt wurde, dessenthalben wir die Narben am Körper und im Herzen tragen, und dessenthalben Hunderttausende unserer Altersgenossen draußen verfaulten. Das durfte sich nicht wiederholen, das mußte vermieden werden. Kampf gegen die Alten! Dieser Kampf setzt immer eine Jugend voraus. Und als diese fühlten wir uns. Das war unser Irrtum! […]
Wir haben sie gewarnt vor der älteren Generation. Wir haben ihnen auseinandergesetzt, daß man niemals paktieren, niemals Kompromisse machen darf, um nicht sofort den Grundstein zu einer neuen Katastrophe zu legen. […]
Dies alles ist sicherlich eine Generationsfrage, aber sie liegt nicht so einfach, wie wir uns das vorstellten. Wir glaubten nämlich: Wir, die wir die Jahre von 1914 bis 1923 aktiv, bewußt und innerlich und äußerlich auf Gedeih und Verderb beteiligt erlebt haben, wären ein neuer Anfang, der Beginn einer neuen Zeit. Das war richtig! Wir glaubten aber weiter: wir würden Zulauf bekommen von denen, die direkt hinter uns aufwuchsen. Das war falsch! Diese Generation, die wir brauchen, ist noch nicht da: sie existiert vielleicht schon, aber sie ist sicher noch zu jung.«1
Zehrer, Jahrgang 1899, hatte sich 1917 als Achtzehnjähriger freiwillig für den Krieg gemeldet und war an der Westfront verwundet worden – ein Frontsoldat, der den Krieg als den großen Zertrümmerer aller Illusionen erlebt hat, als schreckliche Katharsis, nach der nichts wieder werden durfte wie zuvor. Niemals paktieren mit den »Alten«, die den alten Unsinn in neuer Gestalt fortsetzen wollten – keine Kompromisse! Zehrers Kritik galt jenen, die – nur wenige Jahre jünger – nicht mehr als Soldaten am Krieg teilgenommen hatten, den Krieg buchstäblich nicht am eigenen Leib, sondern in der Heimat erlebt hatten. Heinrich Himmler, Jahrgang 1900, drängte zum Militär, noch bevor er das Abitur absolvierte hatte. Erfolglos bewarb er sich mehrere Male als Offiziersanwärter, bis er Anfang 1918 eine Ausbildung als Fahnenjunker beginnen konnte. Bis zum Ende des Krieges blieb er in verschiedenen Ausbildungslagern in Bayern, ohne je an die Front zu kommen, und kehrte kurz vor Weihnachten 1918 nach Hause zurück, um die Schule zu beenden. Bruno Streckenbach, Jahrgang 1902, wurde mit 16 Jahren im Sommer 1918 für ein halbes Jahr noch zu einem Jungsturm-Kommando einberufen, das in der sicheren Etappe Arbeitsdienst leisten mußte. Reinhard Heydrich, Jahrgang 1904, war 1914 in das Reformgymnasium in seiner Heimatstadt Halle eingetreten und blieb während des Krieges Schüler.2
Das Erlebnis von »Stahlgewittern« fehlte diesen jungen Männern, die Erfahrung der mörderischen Gleichheit auf dem Schlachtfeld, des maschinellen millionenfachen Todes, der den Heroismus der »Studenten von Langemarck« mit Schrapnells und Maschinengewehren zerfetzt hatte.3 John Keegan hat die Schlacht an der Somme geschildert, wo die englische Artillerie über sieben Tage lang den deutschen Frontabschnitt mit rund 1,5 Millionen Granaten beschossen hatte, etwa eine Tonne Granaten pro Quadratmeter, und die englischen Angreifer dennoch in ein mörderisches Maschinengewehrfeuer liefen, das auf britischer Seite am ersten Tag der Offensive 60 000 Tote und Vermißte kostete, von denen etwa 21 000 in der ersten Stunde, womöglich in den ersten Minuten des Angriffs, starben.4 Doch anders als in den Bildern von Ernst Jünger, der den industriellen Charakter des Krieges hervorhob, vom »Walzwerk des Krieges« schrieb, von Schlachten, bei denen »das Geschehen mit der Präzision von Maschinen ineinandergreift«, und vom Kampf, der eine »eisige, unpersönliche Welle der Vernichtung über das Schlachtfeld« breite,5 war der Stellungskrieg eine individuelle Erfahrung von Gewalt, eine physische Erfahrung von Schmerz, Verstümmelung, Angst und Tod:
»Wenn man von Ferne das Pfeifen hörte, so zog sich der ganze Körper zusammen, um der maßlosen Gewalt der Explosionswellen standzuhalten, und jede Wiederholung war ein neuer Angriff, eine neue Erschöpfung, ein neues Leiden. Dieser Belastung können auch die stärksten Nerven nicht lange widerstehen. […] Durch die Kugel sterben, scheint nicht schwer; dabei bleiben die Teile unseres Wesens unversehrt; aber zerrissen, in Stücke gehackt, zu Brei zerstampft zu werden, ist eine Angst, die das Fleisch nicht ertragen kann.«6
Die Erfahrung des Todes, des Ausgeliefertseins im Massensterben, des Zerberstens all jener fröhlichen Bilder aus dem Sommer 1914, als Millionen in den Krieg gezogen waren, voller Zuversicht, nach kurzem Waffengang siegreich nach Hause zurückzukehren und in männlichen Zweikämpfen Ruhm und Ehre erworben zu haben – all diese Desillusionierungen führten zum scharfen Bruch mit den bisherigen Gewißheiten. Der Weltkrieg war eine Scheidelinie, hinter die es kein Zurück gab. Die alte Welt war buchstäblich zerbombt und zerschossen worden. Der Bruch mit der Vergangenheit, die Diskontinuität der Geschichte wurde zum entscheidenden Erfahrungswert für alle, die diesen Krieg miterlebt hatten.7
Das gemeinsame existentielle Erleben von Sterben und Überleben auf dem Schlachtfeld stiftete aber auch den Mythos der Frontsoldatengeneration. Wie selbstverständlich spricht Zehrer in der Wir-Form; die eigenen Erfahrungen werden zum exklusiven Weltbild einer ganzen Generation erhöht, aus der all diejenigen, die nicht Frontsoldaten gewesen waren, unabänderlich ausgeschlossen waren.8
Es gab auch selbstkritische Töne in Zehrers Artikel, das Eingeständnis der eigenen Versäumnisse:
»Wir haben dieser Jugend keinen Boden geben können, auf den sie hätten treten können und auf dem wir sie hätten sammeln können.«
Der Grund lag in der eigenen Ziellosigkeit:
»Wir konnten nicht auf jenen Boden treten, den wir vorfanden. Und einen eigenen Boden haben wir bisher noch nicht schaffen können. Wir tragen nur jene Gefühlsgewißheit in uns und eine starke, ausgeprägte Menschlichkeit. Beides zwingt uns zum Kampf gegen das, was geschieht: und zum Kampf gegen die, die es geschehen lassen. Daß wir aber noch nicht wissen, wie unser Boden, unsere Wirklichkeit, unser Ziel aussieht, nimmt unserem Kampf die Stoßkraft. Wir trommeln und trommeln und blasen unaufhörlich zum Angriff. Seit elf Jahren. Aber der Angriff erfolgt nicht, weil wir noch nicht wissen: wohin!«
Die nachfolgenden Jahrgänge, die nicht »die Narben am Körper und im Herzen« trugen, waren zweifellos von einem ganz anderen Erfahrungsraum geprägt als die Frontsoldaten – aber sie mußten deshalb nicht angepaßt, opportunistisch und allein auf den eigenen Vorteil bedacht sein. Den Bruch mit der alten Welt hatten sie zwar nicht auf dem Schlachtfeld vollzogen, aber auch für sie gab es kein Zurück mehr in die heile Welt des Kaiserreichs.9
Die rigorose Absage Zehrers an den Jahrgang 1902 wirft ein scharfes Licht auf die unaufhebbare Erfahrungsdifferenz zwischen den Frontsoldaten und der nachfolgenden Generation, die später das Reichssicherheitshauptamt leiten würde. Obwohl oder womöglich gerade weil diese junge Elite das Schlachtfeld nicht aus eigener Erfahrung kannte, konnte sie den Krieg als heroisches Erlebnis stilisieren und das Soldatische, das Kämpferische, das Harte und Erbarmungslose zu ihren Tugenden erheben. Uttmann von Elterlein, geboren 1902, antwortete ein halbes Jahr später in der »Tat« auf Zehrers Artikel. Statt zweier Generationen sah er vielmehr die Menschen des ausgehenden 19. und die des beginnenden 20. Jahrhunderts sich gegenüberstehen.
»Der Ziele gibt es heute schon genug. Wir, der Jahrgang 1902, bitten […] nur mit dem Blasen zum Angriff ein wenig auszusetzen. Wir brauchen die geduldige Ruhe, die in den Dienstzimmern eines Generalstabes bei der Ausarbeitung der Mobilmachung waltet. Wenn alles fertig ist, wird geblasen, marschiert und geschlagen.«10
Über drei Viertel (77 Prozent) der späteren Führungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes gehörten dem Jahrgang 1900 und jünger an. Dem Alter Hitlers, 1889 geboren, entsprachen nur etwa vier Prozent der RSHA-Führung. Auch Hermann Göring, 1893 geboren, hätte im RSHA höchstens in dem Chef des Amtes V (Reichskriminalpolizeiamt), Arthur Nebe, einen...