Voraussetzungen
Herrschaft unter staatsfernen Bedingungen
Das Russische Kaiserreich war ein Vielvölker-Imperium, dem ein moderner Kopf auf einem vormodernen Körper saß. Seit Peter I. (1689–1725) bemühten sich verschiedene Herrscher, vor allem Katharina II. (1762–1796) und dann Alexander II. (1855–1881), aus Russland einen modernen europäischen Staat zu machen, der erfolgreich den Status einer Großmacht beanspruchen konnte. Moderner wurde Russland in diesen zweihundert Jahren schon, aber sicher nicht modern – vor allem nicht seine überwiegend ländliche Bevölkerung. Und selbst wenn man den Blick auf das urbane Russland richtet und von erbeuteten europäischen Territorien und ihren Städten, wie zum Beispiel Warschau, einmal absieht, dann blieb St. Petersburg im Grunde bis zuletzt die einzige europäische Stadt – selbst Moskau behielt bis ins 20. Jahrhundert viel von seinem »altrussischen« Charme.9
Im Zentrum des Reiches residierte der Zar mit einer Bürokratie, die mit gewissen Abstrichen als modern bezeichnet werden kann, und beanspruchte, das Reich auf der Grundlage von Gesetzen zu regieren. Mit der Schaffung eines unabhängigen Justizwesens war überdies im Jahre 1864 im Ansatz eine Art Gewaltenteilung geschaffen worden. Sie wurde dann freilich schon bald nach ihrer Einführung aufgeweicht und 1881 halboffiziell suspendiert, weil die Regierung in der Praxis mit ihren eigenen Neuerungen nicht zurechtkam.10 Überhaupt erwies sich vieles, was auf dem Papier stand, im Herrschaftsalltag schon auf der zweiten Ebene der kaiserlichen Verwaltung in den Gouvernements als nicht praktikabel. Ob die Gouverneure als Exponenten einer rational-bürokratischen Herrschaft effektiv auftreten konnten, hing im Wesentlichen von den persönlichen Eigenschaften der Amtsinhaber ab. Meistens aber ließen schon die Umstände vor Ort ein solches Modell nicht zu. So waren die Gouverneure in der Regel keine modernen Verwalter, sondern tendenziell hilflose Statthalter der Zarenmacht, die mit beschränkten und unzureichenden Mitteln zu große Ansprüche verwirklichen sollten. Der Beamtenstab war für die Größe der Herrschaftseinheiten sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht reichlich bescheiden und auch die Polizeikräfte verloren sich in der Weite des Landes wie Erbsen auf einem Fußballfeld. Der übertragene absolute Herrschaftsanspruch konnte im Alltag vor Ort nur mithilfe einer Vielzahl von Kompromissen und Arrangements mit dem eigenen Apparat, aber auch mit lokalen Honoratioren realisiert werden.11
Letztlich lebte die Autorität der kaiserlichen Verwaltung vor allem vom Glanz der Monarchie, die in vielfacher Weise lokal repräsentiert wurde. Verzierte Steingebäude, goldbetresste Uniformen, Orden oder Amtsketten und andere ikonografische Elemente bildeten einen Popanz, der wirkte, solange der Glaube an den »guten Zaren« nicht erschüttert war.12 In gewisser Weise war diese Repräsentation hohl, weil der Verwaltung in vielerlei Hinsicht die Möglichkeiten fehlten, positiv gestalterisch zu regieren. So blieben Verbesserungen der Lebensbedingungen und Wohlfahrtsmaßnahmen vor allem den Selbstverwaltungen (zemstvo) oder adliger Großzügigkeit überlassen.13 Die Beamten des Zaren dagegen traten weniger durch konkrete Taten hervor als vielmehr dadurch, dass sie ökonomische und gesellschaftliche Aktivitäten nicht behinderten. Dies mag nach heutigem Verständnis negativ klingen, war angesichts der Verhältnisse aber mehr oder weniger normal. Man muss bedenken, dass die meisten zarischen Untertanen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keine andere Form der Regierung kannten und in der Regel nichts anderes als das Gewohnte von ihr erwarteten.
Repression war beileibe nicht die einzige Tätigkeit der zarischen Verwaltung, bildete aber einen großen Teil davon. Diese wiederum bezog sich vor allem auf die Sicherheit des Staates und erst in zweiter Linie auf die der Untertanen. In der Praxis sah es oft so aus, dass die zarische Ordnungsgewalt sehr eifrig jede Form tatsächlicher oder vermeintlicher staatsfeindlicher Aktivitäten bekämpfte, zur Sicherheit der Untertanen aber nicht viel beizutragen hatte. In den Dörfern zeigte sich oft jahrelang kein Polizist. Die ländlichen Polizeikräfte im gesamten europäischen Teil des Imperiums zählten bis zur Jahrhundertwende gerade einmal ein paar tausend Mann.14 Auch nachfolgende Aufstockungen änderten daran kaum etwas: Im Alltag war es nicht der Staat und nicht seine Polizei, die in den Dörfern für Ordnung sorgte, sondern die Bauerngemeinden selbst. Die Priester spielten dabei eine gewisse Rolle, vor allem aber die Dorfältesten, die mit Amtsketten geschmückt den Staat vor Ort repräsentierten. Da die Amtsinhaber für Verfehlungen im Amt haftbar gemacht werden konnten, gewährleistete dies bis zu einem gewissen Grad den staatlichen Einfluss in den Dörfern, aber nicht mehr. Auch mit Amtskette blieben die Bauern allem voran Mitglieder ihrer Dorfgemeinschaft.15
Letztendlich beanspruchte der Staat ein Gewaltmonopol, das er allenfalls im urbanen Raum, auf dem Land dagegen so gut wie gar nicht einlösen konnte. Diebe und Räuber wurden in der Regel von den Bauern selbst verfolgt, denn die zuständigen Polizisten waren in aller Regel viel zu weit entfernt, um in solchen Fällen wirksam eingreifen zu können. Abgesehen davon hatten die Bauern auch wenig Interesse, die Polizei in ihre Dörfer zu holen, denn die Uniform der Staatsdiener symbolisierte für sie in erster Linie Ärger und Probleme. Für gewöhnlich nämlich kamen die Vertreter des Staates nur in die Dörfer, um die Interessen von Gutsbesitzern zur Geltung zu bringen, die mit den Bauern in Konflikt geraten waren. Meistens hatten dabei die Gutsbesitzer das offizielle Recht auf ihrer Seite, während die Bauern auf ihr Gewohnheitsrecht pochten.16 Insofern war es nur konsequent, dass der Staat in erster Linie als Gegner des Dorfes wahrgenommen wurde, der nur kam, um ungerechte Ansprüche durchzusetzen, zu bestrafen, und keine erkennbare Gegenleistung erbrachte. Man ging ihm aus dem Weg, wenn man konnte. Dass es auch eine andere Seite gab und Bauern sich schon in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts in vielen Fällen nicht mehr nur auf das eigene Dorf beschränkten, sondern modernisierende Elemente in ihre Lebenswelt integrierten, stellt dazu keinen Widerspruch dar. So wissen wir, dass viele Bauern den medizinischen Bemühungen der Zemstvo-Ärzte keineswegs ablehnend gegenüberstanden.17 Wir wissen auch, dass Bauern im späten Zarenreich in wachsendem Maße die kaiserlichen Gerichte in Anspruch nahmen.18 Schließlich wurde auch gezeigt, dass Bauerngemeinden als politische Akteure gegenüber dem Staat auftraten, vor allem um ihre Interessen im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau zu vertreten.19 All das muss aber nicht bedeuten, dass moderne oder gar zivilgesellschaftliche Elemente zum Kern der bäuerlichen Gesellschaft vorgedrungen, geschweige denn diesen ausgemacht hätten; insbesondere auch nicht, dass die genannten Fortschritte – wenn man sie denn so sehen möchte – irreversibel gewesen wären. Die Radikalität und Vollständigkeit, mit der die Jahre des Weltkriegs, der Revolution und des Bürgerkriegs diese Entwicklungen tilgten, spricht eher dafür, wie oberflächlich die Adaption moderner Institutionen auf dem Lande gewesen war.
Gewalt als Teil der bäuerlichen Kultur
Vieles spricht dafür, dass die Bauern den Staat und seine Ordnung auch im späten Zarenreich als etwas Fremdes angesehen hatten, auf jeden Fall nicht als etwas Eigenes. Man kann institutionelle Strukturen nutzen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren, und es ist unverkennbar, dass Bauern verschiedene Möglichkeiten nutzten, um mit der Staatsgewalt zu kommunizieren, ihre Interessen zu vertreten und ihr Recht zu suchen. Dass diese Kontakte die bäuerliche Lebenswelt veränderten, dürfte außer Frage stehen und es ist sicher richtig, dass die Dorfgemeinschaft im Hintergrund nicht einfach blieb, was sie immer schon war, sondern vielmehr in verschiedenen Kontexten immer wieder neu »erfunden« wurde.20 All das ändert aber nichts daran, dass der Staat den Bauern nicht nur physisch, sondern auch mental bis zum Ende des Zarenreichs »fern«blieb.21
Was Staatsferne als Teil der Mentalität bedeutet, wird am ehesten klar, wenn man sich vor Augen führt, dass in den modernen Gesellschaften Mittel- und Westeuropas der Staat und seine Sanktionsgewalt schon im 19. Jahrhundert als Element des Alltags in den Handlungs- und Folgenhorizont der Menschen wie selbstverständlich eingelassen war. Die staatliche Ordnung, ihre Gesetze oder zumindest ein Gespür für Verbotenes waren gewissermaßen Teil des Bewusstseins geworden.22 Die Staatsgewalt selbst wiederum war so effektiv, dass sie im positiven wie im negativen Sinne Erwartungssicherheit und damit Vertrauen herzustellen vermochte. Das Gewaltmonopol des Staates realisierte sich hier weit mehr im...