Auftakt
Ein gefährliches Wort: Natur
Als die Welt noch groß war, weit und unerforscht, wurde ihr Gewicht in Erfahrungen gewogen. Alles Neue war von Bedeutung, vom kleinsten Insekt im tropischen Regenwald über die in keiner Karte zuvor verzeichneten Inseln bis zu ganzen Kontinenten mit fremden Pflanzen und Tieren und noch fremderen Menschen. Es gab nichts, das nicht gewichtig genug war, in den Reiseberichten Erwähnung zu finden. Noch war die Erdkugel nicht oft umrundet worden, die Landkarten wiesen weiße Flecken auf oder verloren sich im Ungefähren. Den europäischen Entdeckern kam das erhabene Privileg zu, Buchten, Küsten, Inseln, Flora und Fauna, die bis dahin kein Europäer zu Gesicht bekommen hatte, mit Namen zu versehen. Die in die Jahre gekommene Welt schien verjüngt. Fremde Düfte belebten die Luft: Muskat war so wertvoll wie Gold, und auf entfernten Inseln am anderen Ende der Welt, im heutigen Indonesien, fanden sich die begehrten Gewürznelken. So vieles war unbekannt, nie gesehen, nicht erahnt worden. Von all dem Neuen berichten konnte nur, wer es mit eigenen Augen gesehen hatte – oder gut im Erfinden war. Tradiertes Wissen galt wenig. Aufbewahrt in verstaubten Folianten, unterlag es der Inflation und war mit jeder neuen Entdeckung weniger wert. Eigene Anschauungen waren das Maß der Dinge. Wie ein Siegelring sein Relief im heißen Wachs hinterlässt, prägten sich die Eindrücke der noch zu entdeckenden Welt den Betrachtern ein. Georg Forster war ein nahezu ungetrübtes Medium für solche Anschauungen. Er war aufmerksam gegenüber kleinsten Details, hatte das Ganze im Blick und zögerte nicht, die Empfindungen auszudrücken, welche die Natur in ihm auslöste. Er war unverstellt und offen gegenüber allem Fremden, und das Erlebte brachte er sprachmächtig wie kaum ein anderer zum Ausdruck – Georg Christoph Lichtenberg hat ihn einen »Hexenmeister in der Prosa«1 genannt. Forster lebte auf, solange er von Eindrücken überschwemmt wurde. Er war müde, leer, verstimmt, sobald es nichts zu sehen gab. Von ihm handelt dieses Buch.
Und es handelt von einem Zusammenhang, dessen Möglichkeit so sehr verblasst ist, dass man zu bestreiten geneigt sein wird, er habe jemals bestanden. Heute reimt sich ›Natur‹ nicht mehr auf ›Politik‹. Aber eben darum ging es Forster: um die Wirklichkeit einer ›natürlichen Politik‹ und mit ihr um das Wesen ›natürlicher Revolutionen‹ als Durchbruch freiheitlicher Selbstbestimmung, auf dass der »Teufel der feudalischen Knechtschaft«2 besiegt werde. In einem Atemzug sprach Forster von »Wahrheit, Freiheit, Natur und Menschenrecht«.3 Er beschrieb Revolutionen in der Natur, etwa Vulkanausbrüche oder Überschwemmungen, und er redete von Revolutionen als notwendigen Umwälzungen der gesellschaftlichen Zustände. Beides stand für ihn nicht unverbunden nebeneinander. Wie die natürlichen Umwälzungen nicht der Regel entbehren, mögen die »politischen Erscheinungen eines Augenblicks und eines Winkels der Erde … vielleicht auch ihren Cyklus haben«.4 Forster hat nach dem Gesetz gesucht, welches das Natürliche mit der politischen Freiheit verbinden soll.
Als Naturforscher und Schwärmer verfügte Forster über einen ganz und gar anschauungsgesättigten Naturbegriff: Er hat die Natur gesehen, geschmeckt, gerochen, ertastet, gehört, und er hat sie gezeichnet, bevor er über sie nachgedacht hat. Stets hat er empfindsam auf sie reagiert. Die Natur war für ihn weder ein Ideal noch etwas Profanes, sondern eine unmittelbar erfahrbare, überwältigende Kraft. Forster besaß einen Naturbegriff, der sich im wörtlichen Sinne der Anschauung der Welt verdankte und den er erst nachträglich reflektiert und in die geistigen Koordinaten seiner Epoche eingeordnet hat.
Die Ausgangsbedingung für eine sich der unmittelbaren Erfahrung verpflichtende Naturerfassung war gut: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahm James Cook drei Weltumsegelungen,5 Georg Forster war – zusammen mit seinem Vater Johann Reinhold – an der zweiten beteiligt. 3 Jahre und 18 Tage waren sie unterwegs. Die zurückgelegte Strecke machte mehr als dreimal den Umkreis der Erdkugel aus. Sie drangen als Erste mit dem Schiff in den antarktischen Polarkreis ein und stießen weiter südlich vor, als es je einem Europäer vor ihnen gelungen war. Sie bereisten die Südsee, sahen Neuseeland, Tahiti, die Osterinseln und Feuerland, entdeckten Neukaledonien und Südgeorgien, sie kamen in Kontakt mit den Einheimischen der Südsee, von denen noch nicht ganz sicher war, ob sie edle Wilde oder Menschenfresser waren, sie beobachteten exotische Tiere und brachten unbekannte Pflanzen zurück nach England. Die entdeckte Natur war von berauschender Schönheit.
Zugleich bahnte sich gegen Ende dieses Jahrhunderts ein politischer Umsturz an, der die Ordnung Europas auf Dauer verändern sollte: Die Große Revolution von 1789 proklamierte die Freiheit und Gleichheit aller Menschen und brach mit dem Despotismus der überkommenen Herrschaftssysteme. Die Zeit schien reif für Veränderungen. Die alten Reiche waren morsch. Die Französische Revolution glich einem Erdbeben, das die Fundamente der Herrschaft erschütterte und den Thron der Tyrannei in sich zusammenstürzen ließ.
Es gibt kaum einen, der an beidem so beteiligt war wie Georg Forster. In ihm treffen sich die beiden bedeutsamsten Koordinaten seiner Zeit. Im Denken und Handeln dieses glänzenden Schriftstellers, Naturforschers, Entdeckers, Übersetzers, Zeichners und entschiedenen Revolutionärs berühren sich die beiden Schlüsselbegriffe jener Zeit auf spektakuläre Weise: ›Natur‹ und ›Revolution‹. Forster hat auf seiner Weltumsegelung mit James Cook eine unfassbar reiche Anschauung der Natur gewonnen. Und er stand im Zentrum des politischen Geschehens, als er – inspiriert von der Französischen Revolution – 1793 die ›Mainzer Republik‹ ausrief, die erste Republik auf deutschem Boden. Niemand ist auf vergleichbare Weise das erfahrungsgetriebene Experiment eingegangen, die Natur mit dem Politischen im Zeitalter der Aufklärung kurzzuschließen. Die Funken, die Forster aus seinen Leitvorstellungen von ›Freiheit‹ und ›Naturgewalt‹ schlug, erhellten für einen Weltaugenblick die Aussicht, es könne so etwas wie natürliche Revolutionen geben.
Georg Forster hat seinen Anteil an der Begründung einer politischen Moderne, auch wenn seine Visionen an den Realitäten zerschellten. Das Leben dieses Schwärmers und Euphorikers, dieses Verzagenden und an sich selbst Verzweifelnden, die Biographie dieses Sprachkünstlers und zur Tat Entschlossenen, des hochtalentierten Taugenichts, der die Welt kannte und in ihr nicht recht Fuß zu fassen vermochte, dieses Leben fällt scheinbar auseinander in lose Scherben: hier der Naturforscher, der mit James Cook die Enden der Welt erkundete, dort der Revolutionär mit republikanischer Gesinnung. Oft wird nur der eine oder der andere Aspekt seines Lebens in den Blick genommen. Meist überwiegt die Faszination, die die anschaulichen Beschreibungen seiner Reiseerlebnisse ausüben. Lediglich die Biographen nehmen sich beider Lebensschwerpunkte an, in chronologischer Reihenfolge, ohne aber das eine mit dem anderen recht in Verbindung zu setzen. Dabei gehört bei Forster beides untrennbar zusammen: die Naturwahrnehmung und die Politik, die Anschauung der Welt und die Revolution der Freiheit. Das will ich in diesem Buch zeigen: Georg Forster war Naturforscher und Revolutionär in einem, eingebunden in das deutsche Geistesleben seiner Zeit.6 Inspiriert durch seinen Blick auf die erfahrbare Natur während seiner Reise um die Welt, hat der Heimgekehrte eine neue Ordnung des Politischen verwirklichen wollen – eine Ordnung, die ihm natürlich schien. Mit dem Begriffspaar Freiheit und Naturgewalt hält man den Ariadnefaden in den Händen, der durch das Labyrinth von Forsters unstetem Leben führt: von den frühen Naturwahrnehmungen zur politischen Revolution. Forsters Lebensleistung besteht nicht nur in der Umrundung der Erde an Bord eines umgebauten Kohlefrachters, sondern auch darin, die alte Welt hinter sich gelassen zu haben und in die politische Moderne aufgebrochen zu sein.
Ein erster Seitenblick mag dem von Forster unterstellten Zusammenhang von Natur und politischer Freiheit seine ideengeschichtliche Exotik nehmen. Johann Gottfried Herder hat in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit die Naturgeschichte in den Rang einer Vorgeschichte der menschlichen Kultur zu heben versucht. Nachdem er die Erde und ihre Stellung im Weltganzen erläutert und die Tier- und Pflanzenwelt beschrieben hat, wendet er sich in seinem Geschichtspanorama dem Einfluss der klimatischen Bedingungen auf die menschlichen Gesellschaften zu und illustriert Unterschiede durch einen vergleichenden Blick auf arktische, afrikanische und amerikanische Völker. Schon hier erfährt der Zusammenhang von Natur und Kultur eine Betonung: »In der physischen Natur zählen wir nie auf Wunder: wir bemerken Gesetze, die wir allenthalben gleich wirksam,...