Um ein Material erfolgreich zu bearbeiten, muss man etwas darüber wissen, beim Gerben sowohl über das Material als auch über die Bearbeitung. Folgende Frage ist deshalb zentral:
Was ist Gerben?
In der Urzeit der Menschen, als das Gerben noch unbekannt war, stellte sich diese Frage anders herum: Der Urmensch dürfte sich gefragt haben: Was kann getan werden, dass die Häute der erlegten Tiere zum Schutz gegen Wetter und Verletzung dienen?
Ließ er die Felle nur herumliegen, sind sie im günstigen Falle hart wie ein Brett aufgetrocknet, in allen anderen Fällen haben sie im Lauf der Zeit unter Gestank zunächst die Haare verloren, sind dann verfault und von allerlei Ungeziefer zerfressen worden.
Also versuchte er wahrscheinlich, durch Kneten die Haut zunächst weich zu halten – und hatte unter Umständen Erfolg. Unter den Umständen nämlich, dass er das tiereigene Hautfett, das sich kompakt in der untersten Hautschicht befindet, in die oberen Schichten einmassierte. Die nunmehr weich bleibenden Häute konnten dann als Kleidung getragen oder als Decken in die Höhleneingänge gehängt werden, und in beiden Fällen ließ der Zufall den Rauch des Feuers das „Leder“ unerkannt weiterverarbeiten – es wurde wasserfest.
Was hier ein Zufallsprodukt entstehen ließ, ist die primitivste Art zu gerben.
Viele Jahrtausende sind seit diesen ersten Versuchen mit Tierfellen vergangen, und der Mensch hat über die Haut, ihren Aufbau, und warum was zu tun ist, um sie zu gerben, einiges gelernt.
Der Aufbau der Haut
Zunächst besteht die Haut eines jeden Tieres aus drei Schichten, der Ober-, der Leder- und der Unterhaut.
Während zu den wichtigsten Aufgaben der Oberhaut die Produktion von Haaren, Schweiß, Talg und Hornschuppen gehört, ist die Unterhaut das Bindeglied zwischen den anderen Hautschichten und dem eigentlichen Tierkörper. Sie kann Haut und Körper verschiebbar aneinander binden, zum Beispiel an den Arm- und Beingelenken, oder beide fest miteinander verbinden, wie an den Füßen, und sie kann Fettpolster anlegen.
Oberhaut und Unterhaut zusammen machen nur etwa 15 % der Rohhaut aus, der Rest ist die Lederhaut, die mittlere Hautschicht.
Als Rohhaut wird die Haut in der Fachsprache solange bezeichnet, bis mit den Vorbereitungen zum Gerben begonnen wird. In der Sprache der Indianerkundigen des 19. Jahrhunderts aber war eine Rohhaut eine schon behandelte (zum Beispiel entfleischte), aber noch ungegerbte Haut, die auch ohne Gerbung Verwendung fand, etwa für Riemen, Trommelfelle, Taschen und ähnliches.
Die Lederhaut, die mittlere Schicht, ist der eigentliche Grundstoff zur Ledergewinnung, an sie muss man sich heranarbeiten; Oberhaut und Unterhaut lassen sich nicht gerben. Um zu klären, was Gerben ist, muss genauer auf den Aufbau der Lederhaut eingegangen werden.
Die Lederhaut selbst besteht nochmals aus zwei Schichten; beide sind ein Geflecht feiner Fasern, wobei in der oberen Schicht Talg- und Schweißdrüsen, die Haarwurzeln und die Blutgefäße eingelagert sind.
Diese Drüsen und Haarwurzeln gehören histologisch zur Oberhaut und sind aus ihr in die obere Schicht der Lederhaut eingewachsen. Wenn nun aus der tierischen Haut nicht behaarter Pelz, sondern Leder hergestellt werden soll, muss dazu die Oberhaut samt ihren Haaren und Haarwurzeln entfernt werden.
Es bleibt von jeder mit der Oberhaut entfernten Haarwurzel ein Loch in der oberen Schicht der Lederhaut zurück. Man kann von einer Narbe sprechen, die aus der verletzenden Haarwurzelentfernung hervorging. In der Sprache der Gerberei ist diese obere Schicht der Lederhaut daher die Narbenschicht oder kurz „der Narben“.
Unter dem Narben liegt die zweite Schicht der Lederhaut. Sie enthält keine platzraubenden Drüsen und Haarwurzeln mehr und ist daher ein noch dichteres Fasergeflecht als die obere Schicht. Sie ist gleichsam ein in alle Richtungen verwobenes Netz aus Lederfasern, weswegen sie Retikularschicht (aus lat. rete = Netz, retikular = netzförmig) genannt wird.
Der Aufbau der Haut. © Siegfried Lokau, Wattenscheid
Die in alle Richtungen verflochtenen Fasern geben der Haut ihren Halt und ihre Widerstandskraft gegen Zerreißen, und sie puffern Druck und Stöße ab; gleich, in welche Richtung eine Kraft gegen die Haut wirkt, es finden sich immer Fasern, die dagegen halten.
Textil- und Hautbelastbarkeit: Eine Faser kann nur in den Richtungen, in die sie gewachsen / gewebt ist, Zug oder Druck standhalten. Deshalb ist das komplexe Geflecht der tierischen Haut dem einfacheren Aufbau eines Textilgewebes überlegen. © Siegfried Lokau, Wattenscheid
Allerdings würde dieses starke Fasergeflecht die Haut zu einer starren Hülle werden lassen, die jede Körperbewegung einschränkt, wenn nicht jede einzelne Faser gegen die anderen verschiebbar in ein Bindegewebe eingelagert wäre, sodass die Gesamtheit der Fasern ihre Schutzfunktion behält und trotzdem anschmiegsam und innerhalb eines gewissen Rahmens dehnbar bleibt.
Diese Fasern der Lederhaut in ihrem Bindegewebe vor Fäulnis zu schützen und sie, je weicher das Leder werden soll, desto beweglicher gegeneinander und dennoch haltbar zu machen, ist die Aufgabe des Gerbens.
„Echte“ und „unechte“ Gerbung
Das Material, aus dem die einzelnen Fasern bestehen, heißt Kollagen (aus griech. kolla = Leim, kollagen = leimbildend).
Kollagen wird unter Hitzeeinwirkung zu Gelatine. Daher ist eine gebrühte Haut zum Gerben wertlos. In kaltem Wasser quillt Kollagen auf; ein langes Bad schwemmt es aus. Trocknet die Haut, also das Bindegewebe mit den kollagenen Faserbündeln zusammen, so passiert, was mit Leim passiert, wenn er trocknet: alles wird hart.
Reißfest
Die Reißfestigkeit der Retikularschicht und damit später des Leders kann kein Textilgewebe aufbringen, da letzteres nur aus Längs- und Querfäden besteht.
Das wollte schon der anfangs erwähnte Urmensch verhindern, und es gelang ihm, wenn er das Fett aus der Unterhaut in die Lederhaut rieb. Je gründlicher das ausgeführt wurde, desto intensiver wurden die einzelnen Hautfasern vom Fett geschmiert und konnten so nicht mit dem Bindegewebe hart verkleben; desto weicher wurde also das Fell.
Fett konserviert die Haut auch gegen Fäulnis, und wenn noch dazu der Rauch des Feuers die Haut wasserfest gemacht hatte, wobei vermutlich der Teer des Rauchs die Fasern imprägnierte, war die nunmehr weiche Haut lange andauernd gegerbt. Diese primitivste Methode des Gerbens ist eine Art der Fettgerbung. Neben der Fettgerbung gibt es noch mehr Möglichkeiten, aus einer Haut Leder oder Pelz zu machen.
Alle heute bekannten Gerbarten gehören in eine von fünf Sparten des Gerbens.
Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie am Ende nichts anderes sollen, als die Kollagenmoleküle der Haut beweglich zu vernetzen und zu konservieren.
Die Wissenschaft beschreibt diesen Vorgang, indem sie ihn auseinandernimmt: Die mit bloßem Auge noch wahrnehmbaren Fasern erkennt sie als Faserbündel, die aus einigen hundert Elementarfasern bestehen, die wiederum aus einigen hundert Kleinstfasern aufgebaut sind, den Fibrillen (lat. fiber = Faser, fibrille = Kleinstfaser), in denen schließlich einige hundert Kollagenmoleküle stecken. In der Gerbereichemie wurde bewiesen, dass der Reaktionsort des Gerbens diese Kollagenmoleküle sind.
Die 5 Sparten des Gerbens
Fettgerbung
Pflanzliche (vegetabile) Gerbung
Mineralische Gerbung
Synthetische Gerbung
Kombinationsgerbung, eine beliebige Kombination aus den vier anderen Methoden
Damit tat sich der Unterschied zwischen der sogenannten „echten“ und der „unechten“ Gerbung auf: Weil das alleinige Einfetten der Fasern zunächst keine Reaktion an den Kollagenmolekülen bewirkt, ist nach wissenschaftlicher Unterscheidung die urmenschliche Fellbearbeitungsmethode keine (oder eine „unechte“) Gerbung, während bei jeder „echten“ Gerbung eine gerbende Substanz die Lederfasern chemisch verändert.
Was somit als „unechte Gerbung“ bezeichnet wird (unwissenschaftlich ausgedrückt könnte man auch den Begriff der weichen Konservierung gebrauchen), ist für den Praktiker im Gebrauch mitunter nicht schlechter als „echt“ gegerbtes Leder. Hier ist eher die Wortwahl zur Unterscheidung verschiedener Methoden unglücklich getroffen:
Von einer Gerbung, die sich über Jahrtausende bewährt hat, als „unecht“ zu sprechen, muss nicht nur ungerechtfertigt sein, es beschränkt den Begriff „Gerben“ auch auf eine chemische Reaktion. Das ursprüngliche Zubereiten, altdeutsch „gar machen“ (garewen), später Gerben in seiner viel allgemeineren Bedeutung, steht damit unnennbar im Raum. Aus diesem Grunde werden hier die Attribute „echt“ und „unecht“, die zwei verschiedene Verfahren unterscheiden, in Anführungszeichen gesetzt, die Begriffe werden um des allgemeinen Verständnisses willen aber weiterverwendet.