Gerechtigkeit und Gesundheitswesen im Kontext einer allgemeinen Theorie der Sozialpolitik
Frank Schulz-Nieswandt
1 Einleitung
Ich skizziere im vorliegenden Beitrag mein Verständnis von Sozialpolitik und werde auf dieser Grundlage darzustellen versuchen, welcher Zusammenhang zwischen Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und der architektonischen Logik des Gesundheitswesens bestehen mag (Schulz-Nieswandt 2006 a; ausführlicher ders. 2006). Es geht bei tieferer, auf die Semiotik zurück reichender kulturgrammatischer Betrachtung (Schulz-Nieswandt 2010 a), die Gesellschaft wie einen Text erschließt, um die anthropologisch inspirierte Frage, welches Menschenbild die Logik gesundheitsbezogener und sozialer Dienste und sozialer Arbeit steuert. Es soll skizziert werden, wie auf dieser Grundlage die Folgefrage beantwortet werden kann, wie soziale Dienste im Sinne professioneller Handlungsskripte entsprechend modern gestaltet werden müssen. Über die explizierende Darlegung des oftmals nur impliziten Menschenbildes werden die Wertgrundlagen der Handlungslogik sozialer Dienste transparenter (Schulz-Nieswandt 2009c; 2009 a).
2 Personales Sein im Lichte philosophischer, zum Teil theologischer Anthropologie
2.1 Endlichkeit des Seins: Lebensaufgabe eines zum Scheitern fähigen Menschen
Das multidisziplinäre Konzept der Person hat im Lichte philosophischer Anthropologie eine anspruchsvolle Vorstellung von Individualität und Individuation (Prozess der Personwerdung) zur Grundlage (Schulz-Nieswandt 2010; 2010 a). Rechtswissenschaftlich, hier rechtstheoretisch gesehen, sind Personen mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten ausgestattet. Das schließt die Interpretation der sozialen Grundrechte ein, wonach der Mensch in seiner sozialen Existenz teilhabetheoretisch konzipiert werden muss: Der Mensch ist Teilhaber an den ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Ressourcen unserer Gesellschaft. Der wissenschaftlich begründende Zugang zu dieser Sichtweise ist entwicklungspsychologischer Art: Eine Person muss (als Chance gesehen) erfolgreich (gelingend) durch ihren Lebenslauf gehen (Schulz-Nieswandt 2007 b; 2008; 2008 a). Dieser ist letztendlich nichts anderes als die Abfolge von Entwicklungsaufgaben der menschlichen Person. Die menschliche Person muss die Herausforderungen, die der Lebenslauf stellt, bewältigen können. Das ganze Dasein ist, wie Heidegger sagt, ein Sein zum Tode. Auf diese Weise final betrachtet, definiert sich der Mensch – ex ante gesehen – im Lichte des Prinzips der Generativität. Die Menschen werden geboren und die daraus resultierende Existenz ist endlich. Die Existenz setzt somit die Gabe des Geschenktseins voraus. Die, anthropologisch gesehen, grundlegende, existentielle Herausforderung besteht nun darin, diese Endlichkeit zu durchlaufen und zwar sinn- und aufgabenorientiert, um vielleicht am Ende rückblickend zu sagen: Das war ein gelungenes Leben. Nicht fehlerfrei wird dieser Durchlauf sein – dafür ist die menschliche Kreatur nicht gebaut und entworfen. Sie ist geprägt von vielerlei Unvollkommenheiten. Und diese Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit wird uns im Laufe des Beitrags noch gerechtigkeitstheoretisch und mit Blick auf eine Bestimmung von Solidarität, die personale Wohltätigkeit im sozialen Modus des kooperativen Handelns bedeuten kann, beschäftigen. Dennoch, also trotz ihrer Unvollkommenheit, sollte die menschliche Person sagen können wollen, dass sie erfolgreich, produktiv, gelingend gelebt hat und gealtert ist. Das sind zeitgeschichtlich, somit diskursiv jeweils schwierige Begriffe. Trotzdem: Dies ist der anthropologische Entwurf. Das bedeutet, wie gesagt, dass der Mensch durch Personwerdung seinen Lebenslauf gelingend zu durchwandern versucht.
Diese Personwerdung funktioniert nicht ohne Ressourcen (Schulz-Nieswandt 2007 a; Driller et al. 2009 mit Blick auf assistierende Technologien für Menschen mit Behinderungen). Die sich durch das Geworfensein des Menschen stellenden Herausforderungen und die gesetzten Aufgaben, also die ganze Sorgestruktur des menschlichen Daseins, müssen personal, d.h. immer auch sozial, bewältigt werden. Es stellt sich die Frage nach der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit solcher Ressourcen. An diesem Punkt meiner Überlegungen wird deutlich, wie und wieso die oben nur sehr knapp und oberflächlich skizzierten Gedanken zu einer philosophischen Anthropologie des Menschen als Person, die seine Seinsverfasstheit deutlich macht (Schulz-Nieswandt 2009), sozialpolitikwissenschaftlich, also hinsichtlich einer Theorie praktischer Sozialpolitik, und somit auch der sozialgrammatische Blick auf eine skripttheoretische Klärung (Bachmann-Medick 2006) der Rolle sozialer Dienstleistungen, hoch relevant sind.
2.2 Die Lebenslaufbewältigung als Frage und die praktische Sozialpolitik als Antwort: Existenz als eine Ressourcenfrage
Die konkreten Menschen durchwandern, da der Lebenslauf in – von Statuspassagen abgegrenzten und oftmals geradezu identitätsstiftenden – Altersklassen aufgeteilt wird, verschiedene Lebensphasen, die sich als jeweils durch spezifische Lebenslagen geprägt charakterisieren lassen (Schulz-Nieswandt 2006). Lebenslagen sind definiert als Konfigurationen und Bündel von verschiedenen Ressourcen. Sie lassen sich dergestalt mehrdimensional und sozialräumlich konzeptionell fassen. Menschen sind in der Folge dieses konzeptionellen Zugangs sozialpolitisch zu betrachten mit Blick auf ihre Lebenslage, d. h. hinsichtlich ihrer ökonomischen Ressourcen, wie Einkommen und Vermögen, und ihrer sozialen Ressourcen, z. B. ihren Netzwerken hinsichtlich Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Belastbarkeit, Zumutbarkeit und Bereitschaft zur Unterstützung (Schulz-Nieswandt & Köstler 2009; Schulz-Nieswandt et al. 2009; Driller et al. 2008). Ferner haben Menschen (bei Bourdieu: kapitaltheoretisch definierte) Kompetenzen bzw. personale Ressourcen verschiedenster Art, wie kulturelle, berufsbezogene (Humankapital), psychische etc. Das Thema der Resilienz in der Kinder- bzw. Kindheitsforschung ebenso wie in der Alter(n)sforschung knüpft hier an. Die Frage, über welche, wie viele und wie gebündelte Ressourcen Personen verfügen, prägt die Lebenslagen und somit letztendlich subjektiv die Lebensqualität und Lebenszufriedenheit. Objektiver Befund und subjektive Einschätzungen müssen dabei nicht immer in Übereinstimmung stehen. Die Lebenslage ist immer personaler Natur. Im Grunde meint Lebenslage die Interaktion zwischen Person einerseits und den (leiblich spürbaren) Anforderungen der sozialen Mitwelt und der technisch-dinglichen Umwelt andererseits. Das ist die Sichtweise des Transaktionalismus in der entwicklungskontextualistischen Psychologie. Menschen verfügen differenziell über diese Ressourcenkonfigurationen, um die jeweils anstehenden Entwicklungsaufgaben ihrer Lebensphase im Lebenslauf erfolgreich zu bewältigen und somit gelingend zu altern. An dieser existenziellen Aufgabe können Menschen scheitern, wenn die Ressourcen und die Aufgaben auseinanderfallen. Unverschuldetheit, Mitverschuldung und Selbstverschuldung gehen dabei komplizierte, auch moralisch kompliziert zu bewertende Mischungen ein. Es ist eine primäre gewährleistungsstaatstheoretische und auch freigemeinwirtschaftstheoretische Aufgabe der praktischen Sozialpolitik, im Sinne der Bereitstellung von Ressourcen dergestalt zu intervenieren, dass Menschen diesen auf ein personales und somit ontisches Gelingen hin definierten Lebenslauf gestalterisch schaffen können. Diese Gestaltbarkeit selbst spüren bzw. erfahren zu können, ist im Sinne von Integritäts- und Kontroll-Kompetenzerlebnissen psychodynamisch (auch salutogenetisch) von außerordentlich großer Bedeutung. Diese Sicht ist nicht gesundheitswissenschaftlich zu verkürzen; es ist eine fundamentalontologische, nicht zwingend zu theologisierende Bedeutsamkeit, die hier anthropologisch gewendet wird. Damit sind wir natürlich auch sehr nahe an der Frage angelangt, welche Bedeutung soziale Dienste und die soziale Arbeit insgesamt in diesem ganzen komplexen Zusammenhang haben. Unsere philosophisch-anthropologischen und entwicklungspsychologischen Deduktionen führen zu der Prämisse, dass soziale Dienste als Teil einer instrumentell wie trägerschaftlich vielgestaltigen praktischen Sozialpolitik im Sinne einer freiheitsliebenden Sozialpolitik (in der Kölner Theorietradition von G. Weisser stehend) eine Voraussetzung dafür sind, dass Menschen überhaupt in die Lage gesetzt werden, ihrem Lebenslauf und ihren Entwicklungsaufgaben als menschliche Person in mit Chancenwahrscheinlichkeit geprägter gelingender Weise nachzukommen.
2.3 Der »methodologische Personalismus« der Ellipse von Eigensinn und Gemeinsinn: eine Frage der Balance der psychischen Entwicklung, soziologisch zugleich die Basis gelingenden Zusammenlebens
Was ist die Person? Ich definiere die Person hier als einen Entwurf eines schwierigen Balanceaktes zwischen der psycho- und soziogrammatischen Perspektivität der Selbstsorge, der Mitsorge und der Fremdsorge: Die Ich-Perspektive, die Du-Perspektive, die Wir-Perspektive müssen eine gestalthafte, kohärente Beziehung zueinander eingehen. Das ist entwicklungspsychologisch nichts anderes als das, was ich oben bereits knapp entfaltet habe: Eine im Lebenslauf erfolgreiche Person wächst zwischen Eigensinn und Gemeinsinn heran zu einer reifen Daseinsform. Dabei gilt: Die kulturelle Praxis, »Ich« zu sagen, ist keine soziale Erosion kohärenten Zusammenlebens und kein »autistisches« oder unproduktiv-narzisstisches Verhalten, sondern eine unabdingbare ontogenetische und evolutionäre Voraussetzung, sich, selbstpsychologisch und...